Frustriert sind viele Katholikinnen und Katholiken in Deutschland schon lange. Weil sich in ihrer Kirche so wenig bewegt. Am vergangenen Freitag aber ist ihr Frust in rekordverdächtige Höhen geschnellt. Denn der Papst hat entschieden, dass der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki nach einer mehrmonatigen Auszeit im Amt bleiben darf – obwohl das Verhältnis zwischen ihm und vielen Gläubigen und Priestern in seinem Erzbistum zerrüttet ist. Sie haben öffentlich gegen ihn protestiert und ihm Rote Karten entgegengehalten. Verändert aber haben sie nichts.
Dass Woelki bleibt, ist das jüngste Indiz dafür, wie fremd sich Deutschland und der Vatikan geworden sind. Das Problem ist: Die Gesellschaft in Deutschland und die Führung der katholischen Kirche im Vatikan verändern sich in einem sehr unterschiedlichen Tempo – nämlich im Sauseschritt und in Zeitlupe. Unser aller Leben hier rast; Corona und Klimakrise, Digitalisierung und Glaubensverdunstung sind nur vier von vielen Begriffen, die das illustrieren. Die Kirchenführer im Vatikan hingegen pochen auf die 2000-jährige Tradition ihrer Institution – und sie empfinden vor dem Hintergrund dieser Tradition schon kleinste Veränderungen als groß. In vielen strittigen Fragen macht der Vatikan nicht mal Trippelschritte. Er sieht dieses Beharren als Identitätsmerkmal. Er will sich nicht dem Zeitgeist unterwerfen.
Welten prallen aufeinander
Viele Menschen in Deutschland aber wollen nicht mehr warten. Sie wollen die Langsamkeit des Vatikans nicht mehr akzeptieren. Vor dem Fall Woelki hat der Papst ja schon die Rücktrittsangebote von zwei weiteren Erzbischöfen abgelehnt: Reinhard Marx aus München und Stefan Heße aus Hamburg. So unterschiedlich die Fälle und die Begründungen des Papstes auch sind – die Botschaft, die ankommt, ist: Es ändert sich nichts.
Alle drei Personalien haben mit der sexuellen Gewalt zu tun, die Kindern in der Kirche angetan worden ist. Und mit der mangelhaften Aufklärung dieser Verbrechen. Aber nicht nur bei diesem Thema lässt sich beobachten, dass in der Kirche zwei Welten aufeinanderprallen: ein gewaltiger Veränderungswille in Deutschland und eine sehr übersichtliche Veränderungsbereitschaft im Vatikan.
Die katholische Kirche widersetzt sich auch im Jahr 2021 der Gleichberechtigung von Frauen – und der von Homosexuellen sowieso. Viele Christinnen und Christen in Deutschland protestieren dagegen. Sie akzeptieren nicht, dass der Vatikan Frauen den Zugang zum Priesteramt verweigert und homosexuelle Paare nicht einmal segnen möchte (anders als etwa Feuerwehrautos, Trecker und Einfamilienhäuser). Aber dass der Papst die Rufe der Reformer erhört, erscheint beinahe ausgeschlossen.
Aus der Zeit gefallen
Im Kern kreist der Konflikt zwischen der Kirche in Deutschland und dem Vatikan um die Frage, wieviel Vielfalt die Weltkirche erträgt. Die konservativen Kräfte argumentieren: Die Kirche muss überall auf der Welt die gleichen Regeln haben, sonst wird sie beliebig und fliegt irgendwann auseinander. Sie ist dann keine Weltkirche mehr; sie verliert, was sie ausmacht: den einen, unverfälscht tradierten katholischen Glauben. In vielen Ländern, sagen die Konservativen, ticken die Katholiken nun mal ganz anders als in Deutschland – und ihnen müssen wir auch gerecht werden. Ihretwegen dürfen wir nicht zu viel verändern.
Die Reformer in Deutschland hingegen argumentieren: Die Haltung der Kirche etwa zu Frauen und Homosexuellen ist so himmelweit entfernt von der Haltung der meisten Menschen in unserer Gesellschaft, dass diese Menschen die Kirche gar nicht mehr ernst nehmen. Sie ist völlig aus der Zeit gefallen – und dringt deshalb mit ihrer Botschaft zu den Menschen nicht mehr durch.
Solange das alles so weitergeht, entfernt sich also die immer wieder neue Lebenswirklichkeit der Menschen in Deutschland zwangsläufig noch weiter von der gleichbleibenden Lehre des Vatikans. Wie lässt sich dieses Problem lösen? Wie lassen sich die Welten einander wieder annähern?
Verschiedenheit bereichert
Wohl nur, indem der Vatikan die Veränderungswünsche der Deutschen und ihre Argumente endlich ernst nimmt – und mehr Verschiedenheit in der Weltkirche zulässt. Er müsste akzeptieren, dass Verschiedenheit die Kirche nicht bedroht, sondern bereichert. Ein Blick in die Geschichte des Christentums zeigt, dass es nie nur die eine Tradition gab, sondern viele. Katholisch bedeutet: allumfassend. Ist nicht schon das ein Hinweis darauf, dass Vielfalt keine Gefahr ist, sondern eine Chance?
Nicht alles muss in jedem Land exakt gleich geregelt sein. Warum sollte es etwa für die Katholiken in Brasilien ein Problem sein, wenn in Deutschland homosexuelle Paare in der Kirche gesegnet werden? Wieso sollte es die Katholiken in Indien stören, wenn in Deutschland auch mal normale Gläubige im Gottesdienst predigen dürfen? Der gemeinsame Kern der christlichen Botschaft wäre dadurch nicht berührt. Alle könnten gemeinsam Weltkirche bleiben und denselben Glauben leben – aber jeder könnte eben auch so leben, wie es seiner Kultur entspricht.
Klar ist: Wenn der Vatikan darauf beharrt, dass alles bleibt, wie es ist – dann bleibt gerade nicht alles, wie es ist. Je heftiger er sich der Veränderung widersetzt, desto schneller kommt sie: Die Katholiken im liberalen Deutschland, die Reformen wollen, treten früher oder später frustriert aus der Kirche aus. Weil die Kirche ihnen immer fremder wird. Und weil sie mehr und mehr das Gefühl haben, dass sie mit ihrem Leben, ihrem Glauben, ihrem Alltag nichts mehr zu tun hat.
Berührende Fragen
Gerade viele hoch engagierte Christinnen und Christen sind mittlerweile zutiefst verzweifelt. Sie kämpfen so sehr für Veränderung, teilweise seit Jahrzehnten – ergebnislos. Auf dem spannenden Portal kirchenkrise.de stellen manche von ihnen der Kirche berührende Fragen.
Wenn diese Menschen aus der Kirche austreten, fehlen nicht nur viele Engagierte, die jahrelang ehrenamtlich Gottesdienste vorbereitet oder im Chor gesungen, Zeltlager organisiert und Kranke besucht haben. Sondern die einst so mächtige Kirche schrumpft auch immer weiter. Und die Botschaft, die sie zu bieten hat, droht vergessen zu werden.
Jesus, der größte Veränderer
So wird die Kirche immer weniger ihrem Auftrag gerecht: die christliche Botschaft zu möglichst vielen Menschen zu bringen. Das ist eine Veränderung, die schmerzt. Denn diese Botschaft würde in unseren schwierigen Zeiten dringend gebraucht. Sie handelt von Gerechtigkeit und Frieden, von radikaler Barmherzigkeit und Liebe. Sie stammt von Jesus, dem wohl größten Veränderer aller Zeiten.
Klingt aussichtslos? Vielleicht kommen Impulse für Veränderung in der Kirche ja doch nicht aus Rom, sondern aus Deutschland. Als Kardinal Marx, einer der mächtigsten Männer der Weltkirche, dem Papst seinen Rücktritt anbot, da wollte er Verantwortung übernehmen für den kirchlichen Missbrauchsskandal. Er sprach diese Katastrophe in einer Klarheit an, die man vorher so noch nie von einem Bischof gehört hatte. Er zeigte eine Haltung, die sich viele Gläubige von Kirchenführern lange gewünscht hatten.
Marx hat damit etwas angestoßen, auch wenn der Papst seinen Rücktritt abgelehnt hat. Er hat gezeigt: Man darf in dieser Kirche ruhig mal etwas wagen. Wer weiß: Vielleicht dient der Kardinal anderen jetzt als Vorbild. Denn was wagen, das kann jeder. Egal wie groß die Beharrungskräfte im Vatikan sind: Die Chance, durch den Glauben etwas zu verändern, die bleibt uns immer. Jeder kann ihn leben, wie er will. Und was bewegen. Vielleicht nicht im Großen, aber doch im Kleinen. Und wenn nicht in der Kirche, dann außerhalb. Das ist doch schon mal was.
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Bis dahin: alles Gute!
Andreas