Vor einiger Zeit habe ich mit einer Gruppe von 15 Leuten einen Fotokurs gemacht. Ein Wochenende lang hat uns die großartige Osnabrücker Fotografin Angela von Brill an der Katholischen Akademie Stapelfeld das kleine 1x1 des kundigen Knipsens beigebracht, geduldig, freundlich, charmant. In Erinnerung geblieben ist mir besonders ein Gedanke: wie sehr es ein Bild verändert, wenn man nah ran geht oder weit weg. In der Theorie ist das ja klar, die Zoom-Funktion im Handy kennt jeder. Aber wenn man es zwei Tage lang intensiv praktisch probiert, versteht man es noch besser.
Keine Sorge, das wird jetzt hier kein halblaienhafter Text über Kameratechnik. Sondern ich möchte dafür werben, den Zoom-Gedanken in den Alltag mitzunehmen und zu nutzen – für die großen und kleinen Themen des Lebens.
Beide Blicke haben ihre Vorteile, der von nah und der von fern. Wer ranzoomt, erkennt Details, die er sonst vielleicht übersehen hätte. Wer weit weggeht, sieht das große Ganze und versteht den Kontext, in dem etwas steht. Das Schöne ist: Wir können unseren Blick aufs Leben permanent verändern – im einen Moment nah ran, im nächsten schon wieder weit weg. Gerade dieses Hin und Her kann helfen, eine oft komplizierte Welt, in der fast alles mit allem zusammenhängt, besser zu verstehen.
Die 5 in Physik
Das Zoomen hilft zum Beispiel bei den Problemen, die in fast jeder Familie mal kommen. Da bringt das Kind, das sonst in der Schule glatt durchkommt, in Physik eine 5 nach Hause. Nah rangezoomt: nicht so schön. Weiter weggezoomt: Der Notenschnitt der Klasse war 3,9. Und: Die eigenen Physikleistungen früher waren zeitweise auch eher so mittel. War da nicht der Lehrer, der mal sagte: „Andreas, so schlecht wie Sie kann man gar nicht sein“?
Genauso gut funktioniert das Zoomen aber auch bei komplizierteren Themen, zum Beispiel bei der Erderhitzung und ihren Folgen. Wer da nur unser Leben in Norddeutschland sieht, der könnte sagen: Ja, stimmt schon, die vergangenen Wochen waren vielleicht etwas trocken, und gestern war es heiß. Aber ist doch Juni, ist doch alles im Rahmen. Wo soll das Drama sein?
Wer jedoch weiter wegzoomt, der sieht: Der Westen Kanadas hatte kürzlich mit den schlimmsten Überschwemmungen seit Jahrzehnten zu kämpfen. Im Nordosten Brasiliens starben fast 100 Menschen bei Erdrutschen und Überflutungen, die durch Starkregen ausgelöst worden waren. In Frankreich und Spanien war es jüngst so heiß wie nie zuvor zu dieser Jahreszeit. Auch Indien und Pakistan litten unter einer historischen Hitzewelle, bis zu 50 Grad waren es dort. Flüsse und Seen trockneten aus, Ernten verdorrten, Vögel fielen dehydriert vom Himmel. An einigen Orten brach die Cholera aus, weil die Menschen kein sauberes Wasser mehr zum Trinken hatten. Die Erderhitzung macht solche extremen Wetterlagen weltweit häufiger und heftiger.
Der Scheinriese Tur Tur
Dann wieder nah ranzuzoomen, könnte zu Fragen führen: Wie könnte ich helfen, das Problem zu lösen? Was wäre ich bereit, in meinem Leben dafür zu verändern?
Der Trick mit dem Rein- und Rauszoomen ließe sich ewig weitertreiben, und das Schöne ist: Er verändert den Blick bei allen Themen, den politischen wie den persönlichen. Und hilft, einzuordnen, welche Probleme groß sind und welche klein, welche Fragen wichtig und welche nebensächlich.
Wie wertvoll das Zoomen sein kann, hat schon der Autor Michael Ende in seinem Kinderbuch „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“ beschrieben. Da gibt es den Scheinriesen Tur Tur, vor dem sich viele wegen seiner scheinbaren Größe fürchten, der aber in Wahrheit friedlich, freundlich und hilfsbereit ist.
Schwärmende Astronauten
Astronauten wie Alexander Gerst wiederum berichten häufig, wieviel es verändert, die Erde nicht aus der Nähe, sondern aus der Ferne zu betrachten. Sie schwärmen davon, wie faszinierend schön sie von dort oben im Weltraum ist – und wie wichtig, dass wir gemeinsam alles tun, sie als unseren Lebensraum zu erhalten. Und sie verstehen, wie absurd es ist, dass viele Menschen dort unten das nicht erkennen.
Klar, das Hin- und Hergezoome kann anstrengend sein, aber es kann auch Spaß machen – und ist vor allem ziemlich nützlich. Weil es hilft, sich nicht unnötig aufzuregen. Wer das Zoomen beherrscht, der kann Veränderungen besser einordnen. Zum Beispiel in jüngster Zeit: Da konnte, wer nur Deutschland sah, auch als Mittelschichtmensch ohne akute Geldsorgen steigende Sprit- und Lebensmittelpreise für ziemlich nervig halten. Zack, schnell gezoomt, den Blick bis in die Ukraine geweitet und den Horror da gesehen – schon erkennt man, dass wir gerade ein vergleichsweise kleines Problem haben.
Das Zoomen braucht Übung, es klappt nicht immer gleich, ich weiß das aus meinem Fotokurs. Dort, in Stapelfeld, hat es mir geholfen, dass die Kurskollegen, die die Bilder bewertet haben, nicht zu streng waren, sondern gnädig. Dass sie bei ihrer Kritik nicht zu nah rangezoomt und jedes kleinste Fehlerchen bekrittelt haben. Sie haben eher das große Ganze gesehen und gesagt: Der Kerl, der macht das halt noch nicht lange. Und er hat sich im Rahmen seiner Möglichkeiten bemüht.
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Andreas