„Wir können uns mit den Großen messen“
Vincent Kaufmann erzählt, wie er Lohne zur Kulturmetropole entwickeln will
Seit Jahren arbeitet der Theatertechniker Vincent Kaufmann (27) in der großen Kulturwelt: am Konzerthaus Berlin, am Staatstheater Kassel, bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth. In seiner Freizeit baut er mit vielen Mitstreitern in seiner Heimatstadt Lohne eine enorm kreative Kulturszene auf. Im Interview hat er mir erzählt, welche Vision er damit verfolgt.
Du bist in der großen Kulturwelt schon ziemlich rumgekommen. Was hast Du da gelernt?
Ich habe Theatertechnik studiert. Danach habe ich in einem Forschungsprojekt der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft in großen Häusern wie dem Konzerthaus Berlin und dem Staatstheater Kassel erprobt, wie Virtual Reality und Augmented Reality, also VR und AR, im Theater eingesetzt werden können.
Wie kann ich mir das vorstellen?
Mein Steckenpferd war schon damals die virtuelle Bauprobe. Das heißt: Ich habe das Theater digital am Computer im Maßstab 1:1 nachgebaut und das Bühnenbild des anstehenden Stückes darin vorgeplant. So konnten sich das Produktionsteam und die Theaterleute in einem virtuellen Raum über eine VR-Brille treffen und mussten nicht extra zum Theater fahren, um zu prüfen: Passen die Laufwege? Passt die Planung in unser Theater? Das ist ziemlich praktisch – nicht nur in der Corona-Zeit.
Seit dem vergangenen Jahr arbeitest Du auch für die Wagner-Festspiele in Bayreuth.
Ja, dort wurde im Sommer 2023 die erste AR-Operninszenierung weltweit inszeniert, beim Werk „Parsifal“. Die Idee der Festspiele war, dass viele Zuschauer eine AR-Brille aufhaben, durch die zusätzliche digitale Inhalte eingeblendet werden und das Bühnenbild erweitern. Bei „Parsifal“ ist zum Beispiel eine Möwe umhergeflogen, Bäume haben von den Seiten reingeragt und Wolken sind am Himmel gewesen, die in echt auf der Bühne nicht existierten.
Was war Dein Job dabei?
Ich war dafür verantwortlich, die AR-Technik in den normalen Festspielbetrieb zu integrieren und eine neue AR-Abteilung aufzubauen, um sicherzustellen, dass die 330 AR-Brillen perfekt funktionieren. Diese Perfektion war der Anspruch von Katharina Wagner. Und die Herausforderung war: Wir konnten niemanden auf der Welt fragen, wie das geht – denn sowas gab’s in einer solchen Dimension vorher noch nicht.
Warst Du sehr nervös vor der Premiere?
In den Tagen davor war es schlimm. Ich wusste: Nichts ist dramatischer, als wenn diese Brillen nicht funktionieren. Dann steht das am nächsten Tag weltweit in der Presse. Genau das durfte nicht passieren – und es ist auch nicht passiert.
Was haben die Leute nach der Vorstellung gesagt?
Viele Zuschauer waren begeistert, dass gerade so ein traditionsreiches Haus diesen Weg geht. Und sie fanden die Bedienung super einfach und haben sie sofort verstanden. Alle waren erstaunt, was die Technik heutzutage alles kann.
Klingt spannend.
Ja, es war auch wirklich ein technischer Meilenstein. Und gerade die Mischung war charmant: Sie hatten das gewaltige Live-Orchester, auf der Bühne wurde live gesungen und live gespielt. Es blieb also alles bei der Tradition – und die neue Technik kam dazu. Bayreuth war die faszinierendste Erfahrung, die ich bisher gemacht habe. Und in diesem Jahr entwickeln wir die Technik bei den Wagner-Festspielen mit neuen Ideen noch ein bisschen weiter.
Du bringst das Knowhow, das Du beruflich in der großen Kulturwelt sammelst, hier in der kleinen Kulturwelt in Lohne ehrenamtlich ein. Wie hast Du selbst in dieser kleinen Welt angefangen?
Ich hatte das Glück, mich hier am Gymnasium in der Musical-AG ausprobieren zu dürfen. Ich habe angefangen im Orchester, am Klavier. Im Jahr danach bin ich ins Schauspiel gewechselt und durfte in „Mozart“ den kleinen Amadeus spielen. So habe ich meine Leidenschaft für Theater und Musical entdeckt. Ich habe dann aber bald gemerkt: Nur auf der Bühne zu stehen, ist mir zu wenig.
Warum?
Ich habe mich schon immer für Naturwissenschaften interessiert, das habe ich wahrscheinlich von meinem Vater geerbt, der ist Mathe- und Physiklehrer. Also habe ich mich auch noch in die Lichttechnik der Musical-AG eingearbeitet. Die AG hat mich entscheidend geprägt – und mich dazu gebracht, später Theatertechnik zu studieren.
Was genau hat Dich in der Musical-AG fasziniert?
Fasziniert hat mich, wie viel man mit einer Bühne machen kann. Die Bühne ist ja erst mal ein leerer Raum, und man kann da Geschichten erzählen – fröhliche, traurige, dramatische. Man kann da wirklich Welten bauen. Das ist auch der Leitspruch meines heutigen Arbeitgebers, des Verbandes der deutschen Theatertechnik: Wir sind Weltenbauer. Genau das mache auch ich: Ich baue kein Fahrzeug und keine Maschine, sondern ich baue Welten. Das finde ich spannend.
Und was hat Dich später dann dazu bewegt, Dein Wissen aus der großen Welt ehrenamtlich einzubringen, um hier in Lohne die Kulturszene zu stärken?
Ich bin ja schon viel rumgekommen. Da höre ich oft die Frage: Wo kommst Du denn her? Wenn ich sage, aus Lohne, dann denken die Leute: Ja, ja, die machen da so ein bisschen Schultheater. Wenn ich dann aber erzähle, was für aufwendige Produktionen wir hier mit der Musical-AG umsetzen, dann staunen die. Diese Region hat ein unglaubliches kreatives und kulturelles Potenzial. Und dieses Potenzial will ich nutzen und ausbauen.
Warum?
Ich durfte hier meine Leidenschaft entdecken und vieles lernen, was mir heute in meinem Job hilft. Jetzt will ich was zurückgeben. Ich kann beruflich nicht hierhin zurück, denn ich finde hier in der Region leider keinen Job. Das ist schade. Und so geht’s ja auch anderen.
Wen meinst Du?
Zum Beispiel Christian Fröhlich oder Victor Petersen, die früher auch in der Musical-AG waren. Christian ist jetzt festes Mitglied des Musical-Ensembles am Landestheater Linz. Linz ist sowas wie der deutschsprachige Broadway, und Christian ist da ein Star. Victor hat jahrelang eine Hauptrolle am Theater in Paris gespielt und tritt jetzt an der Oper Bonn auf. Es gibt so viele Riesentalente, die hier im Landkreis Vechta ihre Leidenschaft fürs Kreative entdecken – und keine Chance haben, später hier zu bleiben.
Und das willst Du ändern?
Genau, das will ich ändern. Wenn die Kulturbranche hier in der Region diese Leute nicht halten kann, dann gehen sie. Wir haben hier wahnsinnig kreative Köpfe in der Musik, im Schauspiel, in der Regie und in der Technik. Wir haben alles da, um uns mit den Großen messen zu können. Aber wir müssen diesen Talenten aus der Region auch Perspektiven geben. Wir wollen aus Lohne eine Kulturmetropole machen. Wir wollen etwas Neues und Innovatives aufbauen, das die Region spannender und lebenswerter macht. Erste Schritte auf dem Weg dorthin haben wir ja schon gemacht.
Ihr habt in Lohne die Kleinkunstbühne Chameleon erschaffen, in der junge Talente aus der Region und Routiniers von weiter weg auftreten.
Ja. Und dass sie so gut läuft, liegt auch an der großen Kreativbubble, die dabei mitmacht. Man muss ja sagen: Da müssen schon einige Leute einen kleinen Dachschaden haben, um sich sowas ans Bein zu binden. So viel ehrenamtliche Arbeit beim Aufbau der Kleinkunstbühne und jetzt jedes Wochenende – ob in der Licht- und Tontechnik oder im Service. Ich bin sehr dankbar für die Leute, die sich hier engagieren und mit anpacken. Sie brennen dafür. Sie fragen nicht, ob sie Geld dafür kriegen. Sie sagen: Boah, das ist ein tolles Projekt, da will ich dabei sein. Und wir alle wissen: Das ist unser Werk hier. Das ist ein schönes Gefühl.
Zumal sehr viele Vorstellungen ausverkauft sind.
Das stimmt. Wir haben schon ein wirklich großes Publikum. Daran merken wir: Hier steckt echt Potenzial drin. Der Bedarf ist mehr als da. Wir wollen hier richtig was bewirken.
Du engagierst Dich hier in Lohne in vielen Projekten. Fangen wir mit der Musical-AG an.
In der Musical-AG war ich lange Leiter der Lichttechnik. Mittlerweile gestalte ich das Lichtdesign und das Bühnenbild.
Im vergangenen Jahr, als die AG Stephen Kings Stück „Carrie“ aufgeführt hat, waren das Bühnenbild und das Licht spektakulär.
Ja, und das lag auch an dem ganz besonderen Vorhang, den ich mir ausgedacht habe. Es war ein Kettenvorhang aus mehr als 70.000 Schlüsselringen, wir haben ihn selbst zusammengebaut. Wenn man von vorn sehr steil auf den Vorhang geleuchtet hat, war er undurchsichtig. Wenn man nur die Bühne hinter dem Vorhang beleuchtet hat, konnte man durchgucken – und auch die Schauspieler dahinter sehen. So konnte man hinter dem Vorhang die Vergangenheit spielen, die durch den Vorhang in die Gegenwart vor dem Vorhang greift. Der Vorhang war wie eine Wand, die man superschnell wegziehen kann. Das hat sehr geholfen, die verschiedenen Erzählebenen der Geschichte zu veranschaulichen und ihre Dramatik zu unterstreichen.
In diesem Jahr spielt die Musical-AG „Sister Act“. Was hast Du Dir dafür überlegt?
Das verrate ich natürlich noch nicht. Was ich aber sagen kann, ist: Das Bühnenbild wird wieder ein ganz besonderes sein. Ich will, dass die Schülerinnen und Schüler heute es genauso großartig finden wie ich damals. Und dass sie sagen: „Wow, ich stehe hier auf einer wirklich krassen Bühne. Es ist einfach toll, ich bin stolz darauf.“
Eine Bühne bietet Ihr jungen Künstlerinnen und Künstlern auch beim Talent-Event, das Ihr seit 2016 organisiert.
Genau. Werner Fangmann, der sich seit Jahren mit mir im Vorstand des Vereins Bühnentalente engagiert, ist damals auf mich zugekommen. Seine Idee war, all die Talente aus unserer Region an einem Abend auf die Bühne zu bringen. Wir haben hier ja Turner und Tänzer, die bei Deutschen Meisterschaften triumphieren. Wir haben Musikschüler, die bei Jugend musiziert den Bundeswettbewerb gewinnen. Aber hier vor Ort sind sie alle nie aufgetreten. Also haben wir ein Event für sie ins Leben gerufen, bei dem sie zeigen dürfen, was sie können. Es war direkt ein Riesenerfolg. Mittlerweile hat das Talent-Event schon fünfmal stattgefunden. Wir setzen jedes Mal noch einen drauf. Und es wird immer wieder super angenommen.
2021 habt Ihr dann in der Kleinkunstbühne die Premiere Eures virtuellen Musicals gefeiert.
Genau. Damals war ja Corona, wir konnten alle nichts machen und sind in ein Loch gefallen. Also haben wir uns ein Projekt ausgedacht, das pandemiesicher ist. Das läuft so: Man setzt sich eine VR-Brille auf, kommt damit an sechs unterschiedliche Drehorte und hört und sieht, wie dort Musicallieder aufgeführt werden. Es sind Orte, wo man Musicals eher nicht vermuten würde – in einem Restaurant, auf einem Aussichtsturm oder nachts in einem alten, verlassenen Bauernhof. Das Ganze haben wir mit einer 360-Grad-Kamera aufgenommen, die hochauflösend und in 3D filmt.
Was bedeutet das?
Das bedeutet: Wenn ich die VR-Brille auf dem Kopf habe, kann ich nach oben, unten, links, rechts gucken, ich kann mich auch umdrehen, und ich sehe immer alles in 3D. Ich kriege Kopfhörer auf, die auch einen 360-Grad-Ton erzeugen. Wenn eine Sängerin links neben mir steht, kommt der Ton auch von links – und wenn ich mich zu ihr hindrehe, kommt der Ton von vorne. So bekomme ich das Gefühl, ich befinde mich wirklich da vor Ort. Das Schöne in der Pandemie war: Wir konnten das Musical immer und immer wieder aufführen und dabei die Abstandsregeln locker einhalten – weil immer nur 14 Zuschauer gleichzeitig im Raum waren.
Wie haben die Leute reagiert?
Wir haben Zuschauer von 14 bis 80 Jahren, und sie waren von Anfang an alle begeistert. Sie fanden es spannend, wie nah sie sich den Darstellern fühlten – fast wie in einer Privatvorstellung. Es war wie ein Film, nur viel, viel realer. Mittlerweile haben schon 1300 Zuschauer das virtuelle Musical gesehen. Es gibt nur wenige Virtual-Reality-Produktionen in Deutschland, die das geschafft haben. Wir spielen das virtuelle Musical immer noch, und die Nachfrage ist immer noch da. Das Projekt ist ein totaler Erfolg. Und wir waren bundesweit die Ersten, die virtuelles Musiktheater so hochauflösend und technisch perfekt hinbekommen haben. Wir haben da etwas produziert, das es so vorher in Deutschland noch nie gegeben hat.
Die Idee, Lohne zu einer Kulturmetropole zu machen, ist also schon gut vorangekommen.
Genau. Wir stehen längst nicht mehr bei Null. Wir haben in den letzten Jahren schon viel erreicht – und steuern unser Ziel sehr gezielt an. Alle hier in der Kulturszene wollen was bewegen, und alle haben auch einen sehr hohen Qualitätsanspruch an sich selbst.
Woran zeigt sich das?
Wir arbeiten ja gerade am zweiten Teil des virtuellen Musicals. Er hat den Titel „Vision“ und feiert im Herbst Premiere. Und ständig sagt jemand: „Dies muss besser. Das muss besser. Dort können wir noch mehr.“
Was genau macht Ihr im zweiten Teil besser als im ersten?
Unser Regisseur Stefan Middendorf passt die gesamte Inszenierung und Dramaturgie an, er hat viele neue Ideen. Wir wollen Gerüche mit reinbringen. Wenn eine Szene in einem Wald spielt, sollen die Zuschauer einen Kieferngeruch in der Nase haben. Und wenn es in einer Szene auf einer Lichtung windig ist, sollen sie Wind spüren – dafür wollen wir hier in der Kleinkunstbühne extra Windmaschinen aufbauen. Wir überlegen auch, bei Szenen nachts draußen im Wald die Temperatur im Raum kurz und schnell abzusenken, damit die Zuschauer einen Schauer spüren und ihnen wirklich kalt wird. Wir werden neue VR-Brillen nutzen mit noch höherer Auflösung, und der Sound soll noch besser abgemischt werden als beim ersten Mal. So wollen wir das Erlebnis noch realer und noch intensiver machen.
Wann wäre Deine Idee, aus Lohne eine Kulturmetropole zu machen, am Ziel?
Dass die Kleinkunstbühne so schnell so gut läuft, hätte ich mir nicht erträumt. Aber 2030 wollen wir hier was Größeres aufgebaut haben. Wir haben das Potenzial, und dieses Potenzial müssen wir jetzt nutzen. Wenn wir es fünf Jahre brachliegen lassen, ist es weg. Ich würde gern eine große Halle umbauen, in die viel mehr Zuschauer reinpassen als in die Kleinkunstbühne. Ich träume von einem eigenen Theater, von einem Kultur- und Kreativzentrum, in dem Theater, Musicals und Opern gespielt werden, die wir hier im Landkreis Vechta produzieren und die dann auch über die Region hinaus bekannt sind. So wie wir nach Hamburg fahren, um „König der Löwen“ zu sehen, sollten in Zukunft die Hamburger auch zu uns kommen.
Das wäre cool.
Ja, das wäre wirklich cool. Und das würde auch dem Tourismus hier in der Region einen Schub geben. Klar, das geht nicht von heute auf morgen. Aber wir haben die Leute dafür, wir haben das Potenzial. Das zweite virtuelle Musical ist für uns ein Schlüsselprojekt. Es wird vom LEADER-Projekt des Landkreises Vechta mit 200.000 Euro aus EU-Töpfen gefördert – das hat uns viele Möglichkeiten gegeben. Mit diesem Projekt wollen wir Werbung für unsere regionale Kulturszene weit über die Landkreisgrenzen hinaus machen. Das wird richtig gut.
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Andreas