Bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio hat der Kanute Jan Vandrey Gold gewonnen. Im Zweier-Canadier über 1000 Meter, mit Sebastian Brendel. Der Weg zu diesem Triumph war schwer und voller Veränderungen. Im Interview hat er mir erzählt, wie er sie gemeistert hat – und wie ihn das noch heute prägt.
2015 hast Du nicht mehr damit gerechnet, zu den Olympischen Spielen 2016 zu fahren, oder?
Genau. 2015 war ich kurz davor, mit dem Leistungssport aufzuhören. Ich war nicht mehr in der Nationalmannschaft, ich hatte keinen Zweierpartner, meine Leistung war nicht gut. Ich war eigentlich komplett raus: kein Trainingslager, keine Wettkämpfe.
Und dann?
War ich ganz auf mich gestellt. Ich habe allein trainiert und nur das gemacht, was ich brauchte, was mir gutgetan hat, worauf ich Lust hatte. Ich habe kleinere Wettkämpfe mitgemacht, so aus Spaß. Aber aus dem Leistungssport war ich emotional schon ein bisschen raus. Ich habe gesagt: Alles klar, ich mache die Saison noch zu Ende – und konzentriere mich dann auf Familie und Beruf.
Aber dann ist es anders gekommen.
Ja, weil mir das Einzeltraining und die Wettkämpfe so viel Spaß gemacht haben, wurde meine Leistung immer besser. Am Ende des Jahres war ich in Hochform. Da habe ich die erste Chance gesehen, eventuell doch noch bei Olympia dabei sein zu können. Ich wusste, 2016 gäbe es für uns Deutsche vielleicht noch vier Olympia-Plätze zu holen. Und ich habe mir gesagt: Gut, nimmste das Jahr noch mit und guckst, was passiert.
Und? Was ist dann passiert?
Ich habe bei einem Weltcup eine Medaille geholt, im Einer. Darauf wurde Sebastian Brendel, der damals beste Canadier-Fahrer der Welt, auf mich aufmerksam und sagte: „Ey, lass uns doch mal zusammen fahren. Damit wir dabei sind, wenn jemand des Dopings überführt wird und die Deutschen doch noch Olympia-Plätze kriegen sollten.“ Die Chance war verschwindend gering, vielleicht 0,01 Prozent.
Wie hast Du Dich da motiviert?
Die typische Sportlerantwort wäre jetzt: Ich hatte den unbedingten Willen, zu Olympia zu fahren. Aber es war nicht nur das.
Sondern was noch?
Ein Gefühl des Müssens. Olympia war für mich die Chance, das zu rechtfertigen, was ich mir mein Leben lang aufgebaut habe. Ich hatte da ja schon fast 20 Jahre Kanu hinter mir. Das hat mich motiviert zu sagen: Hey, das lohnt sich – auch wenn’s sehr wahrscheinlich ist, dass es nicht funktioniert.
Du wusstest: Bei Olympia dabei zu sein, würde alles verändern.
Stimmt. Und genau deshalb waren die Monate, die ich ins Ungewisse trainiert habe, emotional extrem anstrengend und zermürbend. Mich hat’s innerlich zerrissen, jeden Tag aufzustehen, jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde ins Blaue weiter zu trainieren, eventuell für nichts.
Kannst Du das näher beschreiben?
Ich hatte nur noch dieses eine Ziel im Kopf. Die Möglichkeit zu haben, zu Olympia zu fahren, die hat mich nie losgelassen. Ich hatte schließlich meine ganze Sportlerkarriere darauf hintrainiert. Damals hatte ich ja schon Familie, Frau und Kind. Es gab Momente, wo ich zwar körperlich bei ihnen war, aber im Kopf gar nicht da. Weil ich ständig nur darauf gewartet habe, dass der Anruf kommt, ob ich dabei bin oder nicht. Ich war so fokussiert auf dieses Ziel Olympia, dass es irgendwann zu Hause Schwierigkeiten gab. Meine Frau stand schon mit gepackten Koffern vor mir und sagte: „Entweder reißt Du Dich jetzt zusammen oder ich gehe.“
So schlimm war’s?
Ja, ich war in dieser Zeit wirklich nicht zu ertragen. Ich war reizbar und abwesend. Ich habe mir so einen Stress gemacht, dass ich irgendwann auch körperliche Beschwerden bekommen habe, einen Stressmagen. So, als ob mein Körper sagen will: Ey, reiß Dich mal zusammen! Ich musste Pantoprazol nehmen, damit ich trainieren konnte.
Aber Du hast Deinen Plan durchgezogen.
Ja, ich habe immer weiter trainiert – und gelauert, ob sich noch eine Chance auf Olympia ergibt. Sebastian und ich sind relativ bald einen Weltcup gefahren und direkt Zweiter geworden. Das hat mich noch mehr motiviert.
Wie hast Du dann erfahren, dass Du tatsächlich in Rio dabei bist?
Ich weiß noch genau, ich war damals auf dem Wasser, in einer der tausenden Trainingseinheiten, die ich gemacht habe. Es war eine Woche vor dem Beginn der Olympischen Spiele, ich war gerade fertig mit zehn Kilometern Grundlagenausdauertraining, da rief mein Trainer durchs Megafon über den See: „Ey, Jan, hab gerade einen Anruf gekriegt. Du bist dabei!“ Ich konnte mich erst noch gar nicht richtig freuen. Ich war eher erleichtert, endlich Klarheit zu haben.
Der Internationale Kanuverband hatte zwei weißrussische Athleten wegen positiver Dopingbefunde gesperrt, so bekam der deutsche Verband zwei Startplätze im Canadier.
Viele deutsche Athleten hatten da schon die Hoffnung auf Olympia aufgegeben. Sie haben gesagt: „Naja, die Saison ist vorbei, ich kann jetzt auch in den Urlaub fahren. Macht keinen Sinn mehr. Alles frustrierend, alles doof.“
Du aber bist für Deine Hartnäckigkeit belohnt worden.
Richtig realisiert habe ich das drei Tage später, bei der Olympia-Einkleidung in Duisburg. Als ich dort gesessen und meine Klamotten mit den olympischen Ringen angeguckt habe, habe ich verstanden: Ich habe es geschafft. Da ist mir dann auch eine Träne runtergekullert. Und ich war wahnsinnig stolz.
Mit welchem Ziel bist Du nach Rio geflogen?
Für mich war das Ziel das Finale. Wenn Du unter die ersten Acht kommst, bekommst Du ja eine Prämie. Die wollte ich haben.
Ihr habt dann den Vorlauf gewonnen und Euch direkt fürs Finale qualifiziert.
Da hat sich das Ziel natürlich verändert. Ich habe gedacht: Wenn alles supergut läuft, könnten wir vielleicht an der Bronzemedaille schnuppern. Der Wille war da, definitiv. Und der Druck war da – weil schon ewig kein deutsches Boot in unserer Disziplin ohne Medaille nach Hause gefahren war.
Wie lief das Finale?
Es lief exakt nach Plan. Wir sind verhalten losgefahren. Die Brasilianer waren Favoriten, sie waren schnell anderthalb Bootslängen vor uns. Aber wir sind unser Tempo weitergefahren – und auf den letzten 250 Metern an ihnen vorbeigezogen.
Wie war das, als klar war: Ihr habt gewonnen?
Surreal. Ich bin durchs Ziel gefahren, und das Erste, was ich gedacht habe, war: Kann gar nicht sein. Das Zweite, was ich gedacht habe, war: Verdammt, jetzt muss ich mein Versprechen einlösen!
Welches Versprechen?
Ich hatte meiner Frau versprochen: Wenn ich hier eine Olympiamedaille hole, dann heiraten wir. Hab ich einfach so gesagt. Weil das ja so unrealistisch war.
Und? Wann hast Du Dein Versprechen eingelöst?
Ein bisschen Zeit gelassen habe ich mir noch. 2017 habe ich ihr einen Antrag gemacht, 2018 haben wir geheiratet.
Was hat es für Dich verändert, Olympiasieger zu sein?
Vor allem, dass ich jetzt sagen kann: Es hat sich am Ende alles gelohnt. Der Sport hat mir natürlich auch schon davor ganz viel gegeben, ich habe viel gelernt und schöne Erlebnisse gehabt. Aber ich habe eben auch viel investiert und auf viel verzichtet.
Worauf hast Du vor allem verzichtet?
Ich hab mit acht Jahren angefangen mit Kanusport. Oft konnte ich aufgrund von Trainingslagern nicht mit meiner Familie in den Urlaub fahren. Ich bin sehr früh ins Internat gegangen. Und als ich Vater wurde, habe ich die ersten drei Jahre von meinem Kind nicht viel gehabt, weil ich so oft im Trainingslager war. Aber jetzt, durch den Olympiasieg, wusste ich: Ich habe das größte Ziel erreicht. Ich habe meine Familie stolz gemacht, die so viel Zeit und so viel Geld und vor allem so viele Nerven investiert hat dafür. Ich kann jetzt sagen: Hey, Leute, wir haben alles richtig gemacht zusammen. Es hat funktioniert. Und Ihr könnt genauso davon zehren wie ich. Das hat mir Ruhe und Gelassenheit geschenkt.
Wie hat diese Erfahrung Dich fürs Leben verändert: dass Du Dich durch alle Herausforderungen durchgekämpft hast und letztlich belohnt worden bist?
Das hat mich elementar geprägt. Wäre ich nicht Leistungssportler geworden, dann wäre ich zu hundert Prozent nicht der, der ich heute bin. Dann wäre ich nicht so erfolgsorientiert, nicht so zielstrebig, nicht so leidensfähig. Es läuft ja jetzt, nach dem Leistungssport, bei weitem auch nicht alles so, wie ich mir das vorstelle. Ich muss auch jetzt immer wieder aufstehen und mich neu motivieren.
Was ist es, was jetzt nicht optimal läuft?
2022 habe ich mit dem Leistungssport aufgehört – und jetzt fange ich im Prinzip wieder bei null an. Ich bin jetzt 32 Jahre alt – und Berufsanfänger. Das beschäftigt mich gerade sehr. Ich komme aus einem System, in dem ich alles erreicht habe, in dem ich wer war, in dem meine Stimme was wert war. Wenn ich was gesagt habe, wurde das gehört. Jetzt bin ich erst mal wieder ganz unten. Andere in meinem Alter haben schon zehn Jahre Berufserfahrung, sie haben sich weiterentwickelt und was erreicht, sie haben ein Standing, wo ich sage: Hey, geil, das hätte ich auch gern! Da merke ich: Puh, da habe ich schon ein bisschen was liegenlassen in all der Zeit.
Denkst Du manchmal, der Preis für das Gold war doch zu hoch?
Nein. Das lässt sich nicht aufrechnen. Ich bin Olympiasieger, das ist supergeil. Aber das hier ist halt mein Gefühl dazu. Und ich hatte auch finanzielle Einbußen.
Wie meinst Du das?
Ich war während meiner Karriere fünf Jahre lang in der Sportfördergruppe der Feuerwehr. Viele denken: Geil, Du kannst Sport machen und zu Wettkämpfen durch die Welt reisen und kriegst auch noch Geld vom Staat dafür. Aber wie die meisten Leistungssportler in Deutschland habe ich am Existenzminimum gelebt. Um das klar zu sagen: Ich stehe voll hinter dem, was ich gemacht habe. Und ich bin superdankbar für die Unterstützung durch die Sportfördergruppe, denn ohne sie wäre ich nicht Olympiasieger geworden. Aber ich möchte auch deutlich machen: Leistungssportler in Deutschland kann echt ein Scheißjob sein, wenn Du nicht Fußballer bist. Es ist toll, dass alle immer sagen: Medaillen wollen wir haben! Aber dass wir in den vier Jahren zwischen den Olympischen Spielen mit Toastbrot und Ketchup klarkommen müssen, das sieht niemand.
Bist Du heute hauptberuflich bei der Feuerwehr?
Ja, genau. Während des Leistungssports habe ich da ja nebenberuflich angefangen, jetzt mache ich das in Vollzeit. Langfristig sehe ich mich aber nicht unbedingt nur als Feuerwehrmann. Ich könnte mir vorstellen, die Stunden zu reduzieren – und meine weiteren Standbeine auszubauen.
Welche sind das?
Ich habe mich selbstständig gemacht als Finanzberater für Sportler. Ich will ihnen helfen bei all den Fragen, auf die ihnen sonst niemand Antworten gibt: Wie lege ich Geld klug an, wenn ich mal welches verdient habe? Wie gehe ich mit Steuern um? Was für Rücklagen brauche ich?
Du arbeitest auch als Speaker und erzählst in Vorträgen und Workshops davon, wie Du die Veränderung Deines Lebens gemeistert hast: vom chancenlosen Athleten vor dem Karriereende zum Olympiasieger. Wie reagieren die Leute darauf?
Meistens reagieren sie erstaunt und ergriffen, manchmal fast ehrfürchtig. Die Leute hören ja sonst immer nur die Geschichten aus den großen Sportarten, von Neuer, Schweinsteiger oder Müller. Wenn sie mir zuhören, verstehen sie, dass die Geschichten aus den kleinen Sportarten viel ergreifender sind. Ich habe viele Vertriebler bei meinen Vorträgen. Die mögen meine kernige Sprache und dass ich meine Geschichte frei Schnauze raushaue.
Was sagt ihnen Deine Geschichte?
Bei ihnen in der Firma ist es ja auch oft so: Sie müssen arbeiten, arbeiten, arbeiten – und wissen gar nicht, ob am Ende ein Vertragsabschluss rauskommt. Das ist ja genau das, was ich auch erlebt habe: Ich musste trainieren, trainieren, trainieren – und wusste nicht, ob am Ende ein Erfolg steht.
Was genau können die Leute für den Umgang mit dieser Ungewissheit von Dir lernen?
Ich glaube, es gibt kein Muster, wie man sich da motivieren kann. Ich kann nur erzählen, wie ich es gemacht habe: step by step. Wenn ich merke, die Woche war scheiße, dann besinne ich mich, gehe bewusst einen Schritt zurück und frage mich: Wie lief der Tag? Auch scheiße? Alles klar, dann gehe ich noch einen Schritt weiter zurück: Wie lief der halbe Tag? Auch nicht gut? Dann schaue ich auf eine Trainingseinheit. Und merke: Ah, die war super! Dann überlege ich: Was habe ich da gut gemacht? Wie habe ich das geschafft? Was hat mich motiviert? Diesen Erfolg und diese Energie nehme ich dann mit in die nächste Trainingseinheit und versuche ihn zu wiederholen.
Wie oft warst Du in der Zeit, als unklar war, ob all Deine Bemühungen zum Ziel führen, kurz davor, alles hinzuschmeißen?
Ich habe in meiner Karriere so oft auf den Sack gekriegt, ich habe so oft in der Ecke gesessen und geheult. Weil ich Ziele nicht erreicht habe. Oder weil etwas nicht so geklappt hat, wie ich mir das vorgestellt hatte. Zum Beispiel, wenn ich in einer Trainingseinheit gegen einen Trainingspartner verloren habe – obwohl ich so sehr gewinnen wollte. Dann habe ich gezweifelt: Was soll das hier alles? Wie kriege ich es hin?
Wie bist Du da wieder rausgekommen?
Mit gutem Zuspruch von anderen. Und weil ich mich jedes Mal wieder motiviert habe weiterzumachen. Ganz stumpf: aufzustehen und weiterzumachen. Ich bin nur Olympiasieger geworden, weil ich diese vielen Rückschläge erlebt und trotzdem nicht aufgegeben habe.
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Bis zum nächsten Mal: alles Gute!
Andreas