„Wenn du willst, geht alles“
Markus Rehm erzählt, wie er die Veränderung seines Lebens gemeistert hat
Im Juni 2021 hat der Weitspringer Markus Rehm bei der Europameisterschaft in Polen einen neuen Weltrekord aufgestellt: 8,62 Meter. Und das ist nur der jüngste von vielen Erfolgen. Bei den Paralympics 2012, 2016 und 2020 hat Rehm insgesamt vier Goldmedaillen gewonnen: drei im Weitsprung, eine mit der 4x100-Meter-Staffel. Er zeigt mit seiner Karriere, wie ein Mensch Veränderungen als Chance sehen kann – sogar dann, wenn sie erst mal als Katastrophe erscheinen. Im Interview hat der 33 Jahre alte Athlet vom TSV Bayer 04 Leverkusen mir erzählt, wie ihm das gelingt.
Im Alter von 14 Jahren musste Ihnen nach einem Wakeboard-Unfall das rechte Bein amputiert werden. Wie haben Sie das erlebt?
Erst haben die Ärzte noch versucht, das Bein zu retten. Aber nach drei Tagen habe ich eine Blutvergiftung bekommen und die Nieren haben versagt. Dann musste es schnell gehen. Meine Mutter hat’s mir am Krankenbett gesagt. Das war ein Schock – aber irgendwie war’s mir auch klar. Klingt vielleicht komisch, aber ich hatte wohl geahnt, dass das so nicht funktionieren kann. Schlimmer war dann, nach der OP das erste Mal aufzuwachen ohne Unterschenkel.
Mit einem Körper, der für immer verändert ist.
Ich war noch halb sediert von der Narkose und habe so an mir runtergeguckt, den Körper entlang Richtung Bettende. Eigentlich war ich es ja gewohnt, dass die Bettdecke bis zum Bettende ausgefüllt ist mit den Beinen. Jetzt war es anders. Auf der linken Seite konnte ich noch das Bein unter der Bettdecke sehen, aber auf der rechten Seite lag die Bettdecke flach auf der Matratze auf. Da habe ich zum ersten Mal realisiert: Okay, das ist hier gerade wirklich passiert. Da ist nix mehr. Da fehlt was. Das kann ich mir nicht mehr schönreden. Das war schon so ein endgültiger Moment.
Und dann?
Dann musste ich mich an den Anblick gewöhnen. Das erste Mal die Bettdecke wegzunehmen, war hart – auch wenn ich wusste, was sich darunter verbirgt. Oder das erste Mal den Verband abzunehmen: Damit hatte ich echt meine Probleme. Die zusammengenähte, zusammengetackerte Haut – das fand ich brutal. Meistens habe ich mir ein Kissen ins Gesicht gedrückt, weil ich’s nicht sehen wollte.
Was haben Sie damals gefühlt? Trauer? Wut?
Eher Trauer. Ich war nie wirklich wütend in der Zeit nach dem Unfall. Auch nicht auf den Fahrer des Motorbootes, der mich überfahren hat. Wütend wurde ich erst, als ein Schreiben von seinem Rechtsanwalt kam, in dem sinngemäß stand: „Bist ja selber schuld, wenn du so eine Sportart machst.“ Die wollten mir fast einen Suizidversuch in die Schuhe schieben – mir, einem 14-jährigen Jungen, der ein glückliches Leben führt. Das fand ich frech, das fand ich krass.
Und heute? Kommt da mal Wut?
Wenn ich heute mal richtig wütend bin, liegt das daran, dass ich eine Druckstelle habe und die Prothese nicht tragen kann. Mich nervt es nicht, sie tragen zu müssen – sondern, sie manchmal nicht tragen zu können und dann in der Mobilität eingeschränkt zu sein.
Sie klingen, wenn Sie heute über Ihren lebensverändernden Unfall sprechen, sehr reflektiert und abgeklärt. Gab es damals, in den Tagen nach der Operation, auch Momente, in denen Sie verzweifelt waren?
Heute kommen mir die Worte sogar oft mit einem Lächeln übers Gesicht. Der Unfall ist halt ein Teil meiner Geschichte. Und im Nachhinein betrachtet kein schlimmer. Was daraus entstanden ist, ist doch super. Ich bin heute sehr glücklich und zufrieden, wie es ist. Aber klar, damals gab’s schlimme Momente. Ich weiß noch, als ich das erste Mal nachts auf die Toilette musste. Ich wollte aufstehen und loslaufen und bin fast auf die Nase gefallen – weil ich vergessen hatte, ich habe kein Bein mehr. Heute kann ich drüber lachen …
… damals vermutlich weniger.
Genau. Oder der Moment, als meine Eltern mir einen Behindertenausweis beantragt haben. Nein, sogar: einen Schwerbehindertenausweis. Fand ich überhaupt nicht witzig, damals, mit 15, so einen Ausweis zu bekommen, auf dem mein Bild drauf ist und der mir quasi die Identität eines Schwerbehinderten gibt. Oder die Situation, als ich eines Morgens einfach nicht in die Prothese reingekommen bin. Da ist die auch mal durch mein Zimmer geflogen, weil ich so sauer war. Solche Momente gab es viele. Aber nach und nach ist es besser geworden, und ich konnte bald das meiste wieder tun, was ich vorher getan hatte. Das hat’s mir leicht gemacht, dieses so veränderte Leben anzunehmen.
Wer hat Sie dabei unterstützt?
Meine Eltern haben mich unglaublich unterstützt – obwohl sie ja auch nicht wussten, was auf uns zukommt. Wichtig war für mich auch, den ersten Betroffenen zu treffen, der selbst eine Prothese trägt.
Wann war das?
Er kam in mein Zimmer im Krankenhaus; mein damaliger Prothesentechniker hatte ihn gebeten, mal bei mir vorbeizuschauen. Er hat sich vorgestellt: „Hi, ich bin der Ronny.“ Und dann hat er die Hosen runtergelassen und mir gezeigt, wie seine Prothese funktioniert und was man damit alles machen kann. Da habe ich gemerkt: Hey, cool, ich freue mich jetzt richtig auf die Prothese. Ich möchte genauso dynamisch und unbeschwert auf andere wirken wie er. Vorher hatte ich ein sehr negatives Bild vom Prothesetragen – das hat sich in dem Moment verändert.
Heute betreuen Sie bei Ihrer Arbeit im Sanitätshaus selbst Menschen, die eine Amputation hinter sich haben. Was sagen Sie ihnen?
Ich will keinen unter Druck setzen. Ich will keinem vorschreiben, er muss jetzt auch Sport treiben und Medaillen gewinnen. Aber ich will ihnen zeigen: Wenn du willst, geht alles. Es ist Arbeit, aber es ist machbar. Und die Prothese ist keine Ausrede.
Sie haben schon ein Jahr nach Ihrem Unfall wieder mit Wakeboardfahren angefangen. Wie war das für Sie?
Überraschenderweise hat das ganz gut und schnell geklappt. Dann kam zwar das Problem, dass das Bein diese Belastungen gar nicht gewohnt war. Bei den kleinsten Wellen hatte ich Schmerzen in der Prothese. Trotzdem war es ein persönlicher Triumph, an diesem Unfallort wieder vorbeizufahren – stehend und auf zwei Beinen.
Also haben Sie weitergemacht.
Genau, und nach der Saison bin ich besser gefahren als vor dem Unfall. Da habe ich gemerkt: Du kannst nicht nur das Gleiche schaffen, du kannst sogar besser werden als je zuvor. Dieser Gedanke ist bis heute in mir drin.
Sie dann Deutscher Vize-Meister im Wakeboarden geworden – und sind trotzdem zur Leichtathletik gewechselt und haben angefangen, professionell zu trainieren.
Als Hobby war es für mich keine Option. Wenn, dann wollte ich es richtig machen. Ich habe gesehen: Ich scheine dafür Talent zu haben. In Deutschland bin ich schon relativ weit vorne. Und auch international ist was machbar. Ich war angefixt, ich wollte das.
Haben Sie diesen Ehrgeiz immer schon gehabt?
Ja. Aber er ist durch den Unfall größer geworden. Viele wollten mir danach vorschreiben, was geht und was nicht geht. Mir war aber immer klar: Pah, das macht ihr nicht! Vor vielen Jahren dachte keiner, dass irgendwann ein paralympischer Athlet über acht Meter weit springt. Ich war mir aber immer sicher, dass das geht. Und irgendwann habe ich es geschafft. So habe ich mir über die Jahre stetig höhere Ziele gesetzt – und mich immer neu motiviert.
Heute sind Sie mehrfacher Weltmeister, Paralympics-Sieger und Weltrekordhalter. Wie schauen Sie nach all diesen Erfolgen auf den Unfall von damals, die Veränderung Ihres Lebens zurück?
Ich bin mal gefragt worden, ob ich meine Medaillen gegen ein gesundes Bein eintauschen würde. Nee, würde ich nicht. Das klingt vielleicht komisch. Aber wenn ich den Unfall rückgängig machen würde, müsste ich ja auch meine ganzen Erfolge, Erfahrungen und Reisen, die vielen schönen Jahre damit streichen. Das würde ich nicht wollen.
Dafür bräuchten Sie keine Prothese mehr.
Ja, aber eine Prothese ist für mich nichts Negatives mehr. Ich sehe mich durch die Prothese nicht mehr eingeschränkt. Ich sehe sie als Chance. Als Chance, etwas ganz Besonderes aus mir zu machen.
Das ist Ihnen zweifellos gelungen.
Ich habe aus dem Worst Case einen Best Case gemacht. Ich habe mir selbst bewiesen, dass das möglich ist: aus einer beschissenen Situation was so Tolles zu machen, dass ich diese beschissene Situation gar nicht mehr rückgängig machen möchte.
Wie hat Sie diese Leistung verändert?
Sie hat mich entspannter werden lassen. Denn ich weiß jetzt: Egal was kommt, beruflich, privat, ich werde mit der Situation gut umgehen können. Ich habe mittlerweile ein Grundvertrauen, dass alles gut wird. Und das finde ich schön.
Was können andere Menschen von Ihnen lernen, wenn sie versuchen, eine Veränderung als Chance zu sehen, die erst mal als Katastrophe erscheint?
Mir hilft der Perspektivwechsel. Einfach mal von außen auf die Sache gucken. Das klingt so einfach. Aber ich bin überzeugt: Den meisten Situationen kann man irgendwo was abgewinnen. Was mir auch hilft, ist eine gewisse Dankbarkeit für das, was da ist. Der Unfall hat mich definitiv dankbarer gemacht.
Wofür sind Sie vor allem dankbar?
Ach, da ist so vieles! Ich habe eine großartige Familie. Ich habe tolle Freunde, auf die ich mich verlassen kann. Ich habe eine tolle Partnerin. Ich habe einen Sport, den ich liebe. Ich habe einen Job, der mir unglaublich viel Spaß macht und in dem ich Menschen helfen kann. Ich bin wirklich zufrieden und glücklich – auch wenn nicht alles so gut läuft. Und das liegt auch an meiner Gesundheit.
Sie empfinden sich als gesund?
Klar! Es gibt Menschen, die sitzen im Rollstuhl. Ich trage nur eine Prothese. Ich kann aufstehen. Ohne Prothese muss ich auf einem Bein hüpfen – ja, das ist doof. Aber zumindest gibt’s die Prothese. Ich denke, es geht immer ein bisschen schlechter. Aber ich weiß, dass ich mit dieser Haltung oft bei anderen Betroffenen anecke.
Inwiefern?
Eine Frau hat mir mal vorgeworfen, ich würde alles immer so leicht aussehen lassen und sie fände das nicht gut, weil sie sich dadurch unter Druck gesetzt gefühlt. Ich glaube, manche fühlen sich in Opferrolle wohl. Die Prothese kann ja auch eine super Ausrede sein, eingeschränkt und schwächer zu sein. Mir ist das zu einfach. Da bin ich hart.
Mussten Sie sich diese Härte antrainieren?
Ich hatte die schon früh. Vielleicht hat es mir auch geholfen, dass ich bei meinem Unfall in der Pubertät war: Ich wollte damals auf gar keinen Fall der Schwächere sein. Ich wollte genauso leistungsfähig sein wie alle anderen. Das war mein Antrieb. Die Höchststrafe war für mich, in der ersten Zeit nach dem Unfall beim Schulsport am Hallenrand zu sitzen und den anderen zuschauen zu müssen, weil die Prothese noch nicht richtig passte. Und die schlimmste Demütigung war, wenn die anderen gesagt haben: „Ach, der Behinderte, der Arme, kann nicht mitmachen.“ Behinderter – ich hasse dieses Wort.
Wieso hat Sie das so sehr getroffen?
Ich wollte nicht als schwach abgestempelt werden. Das ist bis heute so. Ich tue mich immer noch schwer, irgendwo mit Gehstützen hinzugehen, ohne Prothese. Selbst wenn ich heute mal nicht so in die Prothese passe, versuche ich immer, sie dranzumachen. Nicht, um irgendwas zu verstecken. Ich trage die Prothese gern offen, auch mit kurzer Hose. Sondern einfach, weil mich andere dann bemitleiden. Ich will aber nicht bemitleidet werden. Da reagiere ich allergisch drauf. Und ich fühle mich auch nicht so, als ob man mich bemitleiden muss.
Ist das auch ein Grund dafür, dass Sie seit Jahren für gemeinsame Wettkämpfe von behinderten und nichtbehinderten Athleten kämpfen?
Definitiv. Als Behindertensportler wird man immer noch nicht so richtig respektiert.
Woran merken Sie das?
Ich hab‘ so oft diese Schulterklopfer bekommen: Super, dass du noch Sport machst! Trotz Prothese kannst du weitspringen – sechs Meter, sieben Meter, alles toll. Siebeneinhalb Meter, auch noch Klasse. Aber acht Meter? Moment mal! Das geht doch eigentlich nicht, oder?
Das haben die Leute Ihnen nicht zugetraut?
Genau. Sie haben gedacht: Das kann er doch nicht können – außer er hat durch seine Prothese einen Vorteil. Viele haben noch heute ein extrem großes Egoproblem damit, gegen einen zu verlieren, der vermeintlich schwächer ist. Und genau das möchte ich verändern. Ich will zeigen: Ich bin nicht der Schwächere. Ich bin auf Augenhöhe mit euch. Aber das ist ein harter und langer Weg.
Glauben Sie, dass dieser Weg irgendwann zum Ziel führt und gemeinsame Wettkämpfe von behinderten und nichtbehinderten Athleten Standard werden?
Ja, ich glaube, wenn man penetrant genug ist, klappt das. Ich wünsche mir einfach, dass die nächste Generation das gar nicht mehr infrage stellt. Und dass die Frage nach einer Behinderung dann genauso irrelevant ist wie die Frage, welche Hautfarbe jemand hat oder welche sexuelle Orientierung. In meinem Sport hat sich auch schon viel getan.
Was denn?
Wenn ich heute bei den Deutschen Meisterschaften der olympischen Athleten mitmache, gehen sie viel, viel entspannter mit mir um als beim ersten Mal, vor mittlerweile sieben Jahren. Da haben die mich wissen lassen, dass sie keinen Bock auf mich haben. Heute kommen nur noch von älteren Athleten Sprüche. Die Jüngeren sagen: Der Rehm war doch schon immer dabei. Der springt weit, meistens weiter als wir, und es ist okay. Genau dafür möchte ich sorgen: dass es okay ist. Dass man gegen mich gewinnen, aber auch verlieren kann. Und dass das weder schlecht noch gut ist. Sondern einfach normal.
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Andreas