„Trau Dich und mach Dich auf den Weg!“
Heinrich Dickerhoff erklärt, was Märchen verändern können
Heinrich Dickerhoff ist ein begnadeter Märchenerzähler. Er war sogar mal Präsident der Europäischen Märchengesellschaft. Im Interview hat der 69 Jahre alte Theologe aus Cloppenburg mir erzählt, wieviel Mut Märchen machen können – jedem, der sie hört.
Was können wir aus Märchen über Veränderung lernen?
Das Wort Veränderung kommt in Märchen nicht vor. Es heißt dort: Verwandlung. Und Verwandlung ist eines der wichtigsten Merkmale von Märchen. Sie sagen: Alles kann sich ändern – sogar Du.
Kannst Du an einem Beispiel erklären, wie diese Verwandlung in Märchen funktioniert?
Es gibt ein weniger bekanntes, aber sehr schönes isländisches Märchen, da wird eine Königstochter verwünscht in einen blutigen, rollenden Rindermagen. Sie kann nur erlöst werden, wenn ein Königssohn sie so, wie sie ist, mit ins Brautbett nimmt.
Klingt nach einer ziemlichen Herausforderung.
Absolut, ja. Aber sie nimmt diese Herausforderung an. Sie macht sich auf den Weg und zwingt mit Zauberkraft einen Königssohn dazu, sie mit in sein Brautbett zu nehmen. Sie muss sich anstrengen, aber sie setzt das durch.
So richtig lecker romantisch klingt das nicht: ein blutiger, rollender Rindermagen im Brautbett.
Das ist ja auch keine Liebesgeschichte. Sondern es ist ein Bild, das sagen soll: Wenn Du in einer verwunschenen Gestalt bist, darfst Du nicht im behaglichen Elend, im Selbstmitleid verharren, sondern Du musst dich aufmachen. Du musst rollen. Das sagen die Märchen immer wieder: Geh los! Sie spiegeln damit auf eine einfache Weise Einsichten, die Menschen auch sonst hatten.
Wie meinst Du das?
Im Mittelalter gab’s ja eine Lehre von sieben Todsünden, und manche sagten, die schlimmste Todsünde sei die Acedia, also die Haltung: Man kann nix machen. Märchen wenden sich ganz stark gegen diese Haltung. Wenn sich in Märchen jemand auf den Weg macht, dann verwandelt er manchmal seine Situation, manchmal seine Gestalt – aber immer ändert sich was. Immer lernt oder begreift die Hauptfigur etwas. Sie geht aus der kindlichen Haltung, andere müssten für sie sorgen, in eine erwachsene, selbstverantwortliche Haltung. Und typisch für die Märchen ist das Wunder.
Was ist in einem Märchen ein Wunder?
Es hat nichts zu tun mit Naturgesetzen. Wunder heißt: Es ist verwunderlich, wie sich alles ändern kann. Ein Märchen fängt fast immer mit einer krisenhaften Situation an, dann macht sich jemand auf den Weg, und am Ende wird für die Hauptfigur alles gut. Märchen machen Mut, sie sind zuversichtlich und sagen: Du kannst es schaffen! Sie erzählen von Problemen und ihrer Lösung. Von Erlösung.
Was hat Dich am Märchen vom rollenden Rindermagen besonders fasziniert?
Die Bilder darin sind so bizarr. Dieser blutige Magen rollt los. Und er kämpft in gewisser Weise auch, er setzt seine Macht ein. Er wird nicht einfach so von netten Leuten erlöst. Aber die letzte Befreiung geschieht durch die Mutter des Königssohns. Denn die Märchen wissen: Bei allem Bemühen brauche ich immer auch Unterstützung. Und sie gehen davon aus, dass ich diese Unterstützung auch bekommen kann. Es gibt nicht nur Gefahr, es gibt auch Gefährten. Unerwartete Hilfe.
Das ist wichtig, damit wir Herausforderungen und Veränderungen bewältigen können, oder?
Ja, und das gilt ja auch jenseits von Märchen: Ohne die Hoffnung und ohne das Vertrauen, dass er Unterstützung kriegt, wird sich kaum jemand, ob ein Mensch oder ein Unternehmen, auf Veränderungsprozesse einlassen.
Was sagen die Märchen, wo wir Hilfe und Unterstützung finden?
Das beschreiben sie gar nicht genau. Sie bestärken eher das Grundvertrauen, dass Du sie schon bekommen wirst. Sie geben auch nicht Lösungen vor, wie Du Dich verwandeln musst. Sie sagen nur: Mach Dich auf den Weg! Und was immer Dein Weg ist: Setz Deine Energie ein! Dann wird das schon.
In der echten Welt haben viele Menschen Angst vor Veränderungen in unserer krisenhaften und ungewissen Welt. Was können sie aus Märchen lernen?
Wenn es einem gutgeht und alles stimmt, möchte man keine Veränderung – ist doch klar. Warum auch? Kreativ werden Menschen, wenn sie in einer Krise sind und merken, dass es so nicht weitergehen kann – aus welchen Gründen auch immer. Ich habe den Eindruck, dass bei vielen Menschen heute die Resilienz, die Widerstandskraft, eher abnimmt. Darum sind Märchen eine gute Möglichkeit, Mut zu machen. Denn sie beginnen immer mit einer Krise, und sie sagen: Klar ist es schwierig, aber gucken wir mal, was wir tun können.
Wie bekommen die Figuren in den Märchen Widerstandskraft?
Das ist unterschiedlich. Manche kriegen von Anfang an Unterstützung durch Helfer. Es gibt zum Beispiel ein berühmtes russisches Märchen, da hat ein kleines Mädchen von ihrer verstorbenen Mutter eine Puppe bekommen, die ihr Mut macht und sie unterstützt. Psychologisch ein klares Bild für Urvertrauen, das sie mitbekommen hat. Es gibt auch Figuren wie die männlichen Dummlinge, an denen prallen die Kränkungen der anderen ab. Die ignorieren die einfach.
Verzweifeln manche Märchenfiguren auch mal?
Ja, es gibt Märchenfiguren, die weinen oft und sagen: „Ach, das wird nichts.“ So wie es im echten Leben ja auch Menschen gibt, die zwischendurch den Mut verlieren.
Wie kommen diese Figuren da wieder raus?
In der Regel durch einen Helfer, der sagt: „Komm! Ich geh mit Dir!“ Das ist in Märchen fast immer so: Wenn jemand weint, kommt Hilfe. Falsch wäre allerdings, deshalb zu glauben: Du musst nur genug jammern, dann wird Dir schon geholfen. Denn das klappt ja nicht.
Nee, das klappt nicht. Aber was könnte man dann aus diesem Gedanken fürs Leben mitnehmen?
Naja, zu sagen: Wenn ich eine Phase habe, in der ich den Mut verliere, dann darf das sein. Aber ich darf auch darauf vertrauen, dass die Helfer dann da sind. Vielleicht muss ich sie nicht immer außen suchen. Manchmal sind sie auch in mir selbst – und ich habe sie nur noch nicht entdeckt. Aber so verschieden die Figuren auch sind, ob sie Selbstzweifel haben oder nicht – entscheidend ist immer die Botschaft: Trau Dich und mach Dich auf den Weg!
Das ist die Lösung aller Probleme?
Mehr Lösungen können Märchen nicht geben. Und das Gute an ihnen ist: Sie sind nie moralisierend. Sie versuchen nicht, Menschen zu erziehen. Märchen machen kein schlechtes Gewissen, und sie sind nie missbraucht worden, um Macht über andere auszuüben.
Sondern sie sind einfach nur Geschichten?
Ja. Wobei ich aus meiner beruflichen Erfahrung sagen kann: Ich habe, ohne es zu wollen, viele Menschen durch Märchen zu Veränderungsprozessen ermutigt. Nach Seminaren habe ich relativ oft von Teilnehmenden gehört: Dieses Märchen hat bei mir was ausgelöst.
Kannst Du dafür ein Beispiel nennen?
Das für mich eindrucksvollste Beispiel war eine relativ junge Frau in einer ganz schwierigen Situation. Sie war beruflich, gesundheitlich und privat gefühlt am Ende, und sie hat an einem Seminar bei mir teilgenommen, bei dem ich am Schluss das Märchen „Lumpenkind“ erzählt habe. Kennst Du das?
Ich glaube nicht, nein.
Das ist eine englische Aschenputtel-Variante, ein sehr schönes Märchen. Ich habe es dort also erzählt, und einige Tage später schrieb mir die Frau einen Brief und berichtete, das Märchen hätte ihr klargemacht, dass sie sich ändern muss. Das ist jetzt 15 Jahre her, ich habe immer noch guten Kontakt zu ihr und ich kann sagen: Sie hat sich tatsächlich verändert. Natürlich war das Märchen nicht der Grund dafür, aber es hat den Anstoß gegeben. Es hat etwas in ihr berührt. Märchen geben ja keine Antworten, aber manchmal können sie Kraftreserven erschließen, die in uns sind, aber die wir vergessen haben.
Was war es, was die Frau berührt hat?
Im „Lumpenkind“ gibt’s eine sehr tragische Figur, den Großvater des Mädchens: ein Lord, der dieses Mädchen nicht sehen will, weil bei ihrer Geburt ihre Mutter, seine Lieblingstochter, gestorben ist. Der Lord sitzt immer nur da und weint und will das Mädchen nicht sehen. Die junge Frau in meinem Seminar hatte das Gefühl, sie ist wie dieser alte Mann verbittert und lehnt das Leben ab und will nicht mehr. Und jetzt sagte sie: „Das kann’s nicht sein.“
Und dann?
Sie hat gesagt: Ich will nicht mehr wie der Lord immer nur das Leben beweinen und sagen, alles ist traurig und schlecht. Sondern: Ich will versuchen, einen Weg zu finden – wie das Lumpenkind, das sich mit Hilfe auf den Weg macht und märchentypisch auch sein Ziel findet.
Und seitdem geht es ihr wirklich besser?
Ja! Das ist erstaunlich: Sie hat ihr Leben gut im Griff. Sie ist eine sehr tüchtige und auch durchaus erfolgreiche Frau mit viel Ausstrahlung.
Märchen können so eine Veränderung aber nicht automatisch herbeiführen, oder?
Nein. Märchen sind ein schöner Impuls, aber sie sind kein Hexenwerk. Wenn die Frau nicht im Grunde gewusst hätte, dass sie sich verändern muss, dann hätte das Märchen auch nichts bewirkt. Märchen allein lösen kein Problem. Am Ende muss ich schon selbst losgehen.
Wie meistern die Figuren in Märchen die Veränderung?
Das Grimmsche Märchenbuch fängt ja an mit dem Satz „In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat …“ Es reicht aber nicht, dass ich nur rumsitze und mir was wünsche. Sondern Wünsche helfen in den Märchen dann, wenn sie mich in Bewegung setzen. Heute würden wir das statt Wunsch vielleicht Vision oder Utopie nennen.
Wo siehst Du heute eine märchenhafte Utopie, die etwas in Bewegung gesetzt hat?
Ich bin mit Vergleichen vorsichtig, aber ich finde, man kann sagen: Dieses kleine Aschenputtel Greta Thunberg, ein schwedisches Mädchen mit Asperger-Syndrom, hatte den Wunsch, etwas gegen die Klimakrise zu tun. Also machte sie was Verrücktes und fing an, vor der Schule zu streiken – und hat damit die weltweite Fridays-for-Future-Bewegung ausgelöst. Das hat schon ein bisschen was Märchenhaftes.
So, liebe Leute: Zwei Bitten habe ich jetzt noch.
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Bis dahin: alles Gute!
Andreas
Mal wieder sehr interessant. Danke, Andreas.
Wunderbare Worte als Abschluss zu einem inspirierenden Seminar Wochenende zu genau diesem Thema