„Stopp! Hier geht es nicht weiter!“
Was Noemi Mundhaas mit der „Letzten Generation“ verändern will
Die Mitglieder der Gruppe „Letzte Generation“ wollen mit aufsehenerregenden Aktionen erreichen, dass die Politik die drohende Klimakatastrophe endlich ernsthaft bekämpft. Sie kleben ihre Hände am Asphalt fest, blockieren große Straßen, lassen sich verhaften. Auch die Physik-Studentin Noemi Mundhaas (27) aus Potsdam macht dabei mit. Im Interview hat sie mir erzählt, warum für sie nur ein so radikaler Protest etwas bewirken kann.
Warum engagierst Du Dich bei der „Letzten Generation“?
Weil ich glaube: Wir sind an einem Punkt, an dem wir als Gesellschaft so nicht weitermachen dürfen. Im Jahr 2019 hat Fridays for Future 1,2 Millionen Menschen für den Klimaschutz auf die Straße gebracht, und trotzdem haben wir danach ein Klimaschutzgesetz bekommen, das verfassungswidrig war. Das heißt: Die ganzen Demonstrationen haben nichts gebracht. Wir brauchen jetzt das Signal: Halt! Stopp! Hier geht es nicht weiter! Wir brauchen eine Störung der öffentlichen Ordnung, die die Regierung nicht mehr ignorieren kann.
Wie groß muss die Störung dafür sein?
Wenn in Berlin die meistbefahrene Autobahn Deutschlands vier Wochen lang täglich stillsteht, muss die Regierung Stellung dazu beziehen. Die Medien fangen dann automatisch an, darüber zu berichten – nicht nur über die Aktionsform, sondern auch über die Frage: Warum sitzen diese Menschen da? Wieso nehmen sie es auf sich, ihre Hände auf dem Asphalt festzukleben, von Autofahrern beschimpft und von der Polizei verhaftet zu werden?
Und? Was ist Deine Antwort?
Der Klimakollaps, auf den wir zusteuern, ist so schrecklich, dass ich alles, was gewaltfrei möglich ist, dagegen tun will, um ihn zu verhindern. Die Wissenschaft sagt eindeutig: Wir steuern gerade auf eine drei, vier Grad heißere Welt zu. In so einer Welt wird es Todeszonen um den Äquator geben, in denen menschliches Leben nicht mehr möglich ist. Extremwetter-Ereignisse, schreckliche Dürren und Überflutungen werden zunehmen und Menschen in die Flucht treiben.
Schon jetzt sind die Folgen der Erderhitzung spürbar.
Und wie! Dieser Sommer ist extrem, es gibt Hitzewellen und Dürren und riesige Brände in Frankreich, Spanien, Griechenland, Italien – und auch in Deutschland. Wenn die Erderhitzung ungebremst weitergeht, wird alles noch viel schlimmer. Sie wird Kriege und Konflikte befeuern. Auch hier in Europa drohen uns gewaltsame Auseinandersetzungen um Wasser und das tägliche Brot. Wir steuern auf den Zusammenbruch unserer Zivilisation zu. Das macht mir Angst.
Bald könnten Kipppunkte erreicht sein, ab denen sich die Erderhitzung verselbständigt und unumkehrbar ist.
Die Zeit rennt uns davon. Professor David King, der ehemalige Klimaberater der englischen Regierung, hat vor einem Jahr gesagt: „Wir haben noch drei bis vier Jahre, um die Zukunft der Menschheit zu bestimmen.“ Das heißt: Jetzt sind es noch zwei bis drei Jahre. Das ist extrem wenig Zeit. Mit unserem zivilen Ungehorsam wollen wir den Druck auf die Politik so erhöhen, dass sie endlich wirkliche Maßnahmen für den Klimaschutz einleitet.
Kürzlich hat der CDU-Generalsekretär Mario Czaja gefordert, Straßenblockierer der Letzten Generation „so lange wie möglich“ in präventiven Gewahrsam zu nehmen – „genau wie Hooligans“. Kann es nicht sein, dass Ihr mit Euren Aktionen genau das Gegenteil von dem erreicht, was Ihr erreichen wollt?
Nein, den Eindruck habe ich nicht. Ja, klar, der CDU-Generalsekretär stellt solche Forderungen. Aber intern beschäftigt sich die Politik durch unsere Proteste viel mehr mit dem Thema Klimaschutz als vorher. Das Wirtschaftsministerium hat vor kurzem offenbar eine unserer Forderungen umgesetzt und die Prüfung neuer Ölbohrungen in der Nordsee eingestellt. Unser Protest wirkt also.
Löst er aber bei Bürgerinnen und Bürgern nicht eher Trotz, Genervtheit und Abwehrreaktionen aus?
Natürlich sind die Autofahrerinnen und Autofahrer wütend, wenn wir die Straße blockieren. Die haben keinen Bock, im Stau zu stehen und zu spät zur Arbeit zu kommen. Verstehe ich total. Würde mir auch so gehen. Aber ich habe ganz oft erlebt, dass sich ihre Haltung im Dialog mit uns verändert. Wenn ich ihnen erkläre, wie die Regierung den Klimanotfall befeuert, und dass ich finde, dass das nicht geht, dann sagen sie: „Kann ich total verstehen.“ Und: „Die Regierung soll doch diese Forderungen umsetzen – dann muss ich auch nicht mehr im Stau stehen.“
Dass Du die Menschen in den Autos im Dialog überzeugen kannst, kann ich mir vorstellen. Aber lösen Eure radikalen Proteste bei ruheliebenden Normalbürgern zu Hause nicht eher den Gedanken aus: „Ach, die linken Öko-Spinner – jetzt drehen sie endgültig durch!“?
Ich glaube, 80, 90 Prozent der Bevölkerung finden unsere Aktionsform scheiße. Verstehe ich. Ich finde die Aktionsform auch nicht geil. Aber wenn die Leute sich darüber aufregen, dann reden sie auch darüber. Und sie reden nicht nur über unsere Aktionsform, sondern auch über unsere Forderungen. Unsere allererste Forderung im Januar und Februar war ja: Große Supermärkte sollen genießbares Essen nicht mehr wegwerfen dürfen. Ich habe niemanden getroffen, der gesagt hat: „Eure Forderung ist falsch.“
Für Eure Aktionsform bringst Du Dich sehr direkt ein. Wie ist es für Dich, Deine Hand auf einer großen Straße festzukleben?
Jedes Mal kann ich in der Nacht vor so einer Aktion nicht schlafen. Weil ich so nervös bin und weil ich Gewissensbisse habe. Ich blockiere ja Leute, die nichts dafürkönnen. Aber trotzdem bin ich überzeugt davon, dass dieser Protest die bestmögliche Chance ist, die wir haben, um das Ruder noch rumzureißen. Wir machen das ja auch für die Menschen, die im Stau stehen. Und wir brauchen gesellschaftlichen Druck, um etwas zu verändern.
Wie läuft so eine Straßenblockade konkret?
Wir gehen mit fünf bis sieben Leuten los, ziehen unsere Warnwesten an, und wenn die Fußgängerampel grün ist, setzen wir uns nebeneinander auf die Straße und kleben unsere Hände mit Sekundenkleber darauf fest. Wenn dann die Polizei kommt, sammelt sie unsere Ausweise ein, löst unsere Hände mit Öl oder Aceton und einem Pinsel oder Spatel von der Straße, trägt uns weg und bringt uns in einen Gefangenentransporter. Dann geht’s auf die Polizeistation, wo wir ein paar Stunden in der Zelle sitzen – und dann meistens wieder freigelassen werden.
Wie ist diese Erfahrung für Dich?
Sehr, sehr krass. Aber jedes Mal, wenn ich in der Zelle sitze und Zeit habe nachzudenken, bin ich überzeugt, dass es richtig ist, was ich da mache. Wenn ich in die Geschichte zurückblicke, dann sehe ich: Um das Frauenwahlrecht zu erstreiten, sind auch Menschen ins Gefängnis gegangen – genau wie in der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Jedes Mal, wenn wir große Veränderungen in der Gesellschaft anstoßen wollen, gehört ziviler Widerstand dazu.
Warum?
Weil es um Systeme geht, die sich ja von selbst nicht verändern wollen. Heute ist das Problem, dass die Lobby der Ölkonzerne sehr stark ist. Außerdem ist unser politisches System nicht für große Veränderungen gemacht: Dadurch, dass wir alle vier Jahre wählen, denken Politikerinnen und Politiker oft an ihren Machterhalt und an die nächste Wahl. Das heißt, sie wollen keine großen Veränderungen anstoßen, um sich nicht unbeliebt zu machen. Deswegen schlagen wir vor, dass die Menschen in Bürgerräten mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zusammenkommen, sich informieren und gemeinsam Lösungen für die Klimakrise beschließen. Dadurch könnte sich wirklich etwas verändern.
Und verändern wird sich durch die Erderhitzung so oder so etwas.
Genau, und das ist der große Unterschied zwischen den historischen Protestbewegungen und unserem Protest jetzt: Damals musste es nicht zwingend eine radikale Veränderung geben, heute schon: Entweder rutschen wir in eine absolute Katastrophe – oder es gelingt uns, doch noch eine Welt zu schaffen, in der Menschen eine gute Zukunft haben.
Wie weit würdest Du für Euer Anliegen gehen?
Ich kann mir schon vorstellen, dafür auch länger ins Gefängnis zu gehen. Das ist natürlich keine leichte Entscheidung, und ich habe viel darüber nachgedacht. Aber ich kann es vor mir selbst nicht verantworten, wenn ich nicht alles versuche, um den Klimakollaps abzuwenden. Wir steuern auf diesen Kollaps zu, und die Regierung befeuert das Problem wissentlich immer, immer weiter. Und trotzdem gibt’s zu wenige Menschen, die dagegen aufstehen.
Du aber stehst dagegen auf.
Bei so viel Unrecht kann ich nicht anders, als dagegen aufzustehen. Und, ja, ich bin bereit, dafür ins Gefängnis zu gehen. Bisher gab es jedoch noch kein Gerichtsurteil zu unseren Aktionen. Ich kann mir gut vorstellen, dass uns die Richter freisprechen würden. Denn wir setzen uns schließlich für die Verfassung ein. Wir kämpfen dafür, dass die Regierung aufhört, die Verfassung zu brechen, das Grundgesetz Artikel 20a, in dem es heißt: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen.“
Du engagierst Dich seit Jahren für den Klimaschutz und warst lange bei Fridays for Future aktiv. Warum hat Dir dieser Protest nicht mehr gereicht?
Weil er viel zu wenig bewirkt hat. Ich habe während meines Physikstudiums in Konstanz die Ortsgruppe von Fridays for Future mitgegründet, habe viele Demonstrationen organisiert und sehr, sehr oft mit Politikerinnen und Politikern geredet, etwa aus dem Umweltministerium in Baden-Württemberg. Solange der Druck von der Straße da war, waren die Gespräche konstruktiv. Trotzdem ging es immer nur mit Trippelschritten in die richtige Richtung – und gesamtgesellschaftlich in die komplett falsche. Nach der Bundestagswahl merkte ich dann: Ich will was Neues machen. Mich stört, dass Fridays for Future immer sagt, wir müssen das 1,5-Grad-Ziel einhalten …
… also das Ziel, dass die Erde sich nicht mehr als 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter erhitzt …
… dabei ist wissenschaftlich klar, dass wir die 1,5 Grad wahrscheinlich schon 2030 überschreiten. Ich finde, wir müssen deutlicher kommunizieren, wie dramatisch das ist. Als ich dann die „Letzte Generation“ kennengelernt habe, hatte ich das Gefühl: Das ist endlich eine Gruppe, die die wissenschaftlichen Tatsachen zur Klimakrise verstanden hat und auch in angemessene Aktionen übersetzt.
Du hast gesagt, mit Fridays for Future habt Ihr immerhin erreicht, dass die Politik sich in Trippelschritten in die richtige Richtung bewegt hat. Welche Schritte waren das?
Unser größter Erfolg als lokale Gruppe war, dass Konstanz als erste Stadt in Deutschland den Klimanotstand ausgerufen hat. Das hat eine enorme Welle ausgelöst: Auch andere Städte haben das dann gemacht und später sogar das Europäische Parlament.
Was verändert das konkret?
Das ist natürlich erst mal nur ein Symbol, aber es hat dazu geführt, dass endlich an den Küchentischen über das Thema geredet worden ist. Viele Menschen haben diskutiert: Ist es richtig, dieses krasse Wort „Klimanotstand“ zu benutzen oder nicht?
Was habt Ihr in der Politik bewegt?
Konstanz hat zum Beispiel beschlossen, 2035 klimaneutral zu werden, und eine Studie anfertigen lassen, welche Maßnahmen es dafür braucht.
Warum hat Dir diese Veränderung nicht gereicht?
Weil ich sehe, dass die Politik sich für solche Versprechen feiert – dass dann aber nichts konkret passiert. In Konstanz zum Beispiel hat sich noch immer nichts Nennenswertes geändert. Das kann’s doch nicht sein! Das Verhalten der Politik in Deutschland ist absurd: Sie gibt bis heute mehr Geld für die Subventionierung fossiler Brennstoffe aus als für die Förderung erneuerbarer Energien. Die Regierung finanziert den Klimakollaps – obwohl sie die besten Klimawissenschaftler als Berater hat und weiß, dass ihr Verhalten falsch ist.
Was müsste die Bundesregierung kurzfristig tun, damit Du denkst, Euer Protest hat Erfolg gehabt?
Erstens sollte sie öffentlich erklären, dass sie keine neuen Nordsee-Ölbohrungen anstrebt. Sie sollte Öl sparen, statt Öl zu fördern. Konkret sollte sie dafür dringend ein Tempolimit einführen und den öffentlichen Nahverkehr kostenlos machen. Das Neun-Euro-Ticket zeigt eindrucksvoll, wie viel ein günstiger öffentlicher Nahverkehr verändern kann und wie viele Menschen er zum Umstieg vom Auto in die Bahn bringt.
Ich höre Dir an, wie leidenschaftlich Du für Deine Ziele kämpfst. Wie haben die radikalen Proteste Dich selbst verändert?
Ich studiere Physik und schreibe am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung meine Masterarbeit. Darin beschäftige ich mich tagtäglich damit, wie schrecklich alles werden wird, wenn wir nicht handeln. Unsere Proteste geben mir die Hoffnung und den Glauben, dass wir noch eine Chance haben, diesen Horror zu verhindern.
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Mein nächster Text kommt – nach einer kleinen Sommerpause – ausnahmsweise erst in drei Wochen.
Alles Gute!
Andreas