Seit gut elf Jahren ist Dirk Lüerßen (50) Geschäftsführer des Wirtschaftsbündnisses Ems-Achse. Er mag seinen Job, und doch hat er sich eine Auszeit genommen – zum Pilgern auf dem Jakobsweg. Im Interview hat er mir erzählt, was er von schmerzenden Gelenken und schnarchenden Mitbewohnern gelernt hat und wie ihn der Weg fürs Leben geprägt hat.
Als Du am Ziel Deines Pilgerweges die Jakobsstatue umarmt hast, hast Du geweint. Warum?
Zum einen, weil ich da realisiert habe, dass dieser Weg jetzt zu Ende ist – nach sehr beeindruckenden sechs Wochen mit Höhen und Tiefen. Und zum anderen, weil ich einfach ein Gefühl von ganz, ganz großer Zufriedenheit und Dankbarkeit gespürt habe.
Wofür warst Du dankbar?
Dafür, dass es noch viel schöner war, als ich es erwartet hatte. Ich war da hingeflogen nach dem Motto: Oh, nett, jetzt hast Du mal ein paar Wochen vor Dir ohne Termine, ohne E-Mails, ohne Kalender. Aber was ich dann erlebt habe, war so viel mehr: die Landschaften, die Menschen, die ich getroffen habe, die körperlichen Herausforderungen, die tollen Momente.
War der Hauptgrund für Deine Auszeit: einfach mal rauskommen aus dem Alltag?
Ja. Ich habe oft gemerkt: Mein Job macht mir Spaß, aber ich habe Tage, an denen ich eine relativ enge Folge von Sitzungen, Terminen, Gesprächen habe. Und wenn ich dann wieder aufs Handy gucke und da 17 Mails im Posteingang und drei Rückrufbitten sehe – dann stört mich das schon. Davon wollte ich mal richtig Abstand gewinnen.
Hast Du das geschafft?
Ja. Ich habe in keine einzige Mail geguckt. Ich hatte mein Smartphone zwar dabei, aber ich hatte die Outlook-App extra für den Jakobsweg gelöscht und von unserem Admin auch noch das Passwort ändern lassen. In meiner Abwesenheitsnotiz stand: „Ich bin dann mal weg – und erfülle mir einen lange gehegten Wunsch. In dringenden Fällen bitte an Kollegen wenden.“ Anrufe hätte ich theoretisch bekommen können, wenn’s gebrannt hätte. Aber zum Glück hat es nicht gebrannt.
Wie hat die Zeit auf dem Jakobsweg Dich verändert?
Der Jakobsweg hat mich in vielen kleinen und großen Fragen verändert. Was er vor allem verändert hat, ist: Ich bin gelassener geworden. Ich sage mir jetzt: Ob ich als Geschäftsführer nach einem langen Tag noch zu dieser oder jener Abendveranstaltung gehe oder nicht – damit rette ich die Welt auch nicht.
Hattest Du vorher oft lange Tage?
Drei, vier Abendtermine in der Woche waren für mich normal – und dann dauert ein Tag schnell mal zehn, elf Stunden. Der Jakobsweg hat mir gezeigt, dass das nicht sein muss. Ich bin ihn ja 2019 gegangen, und in der Corona-Zeit habe ich dann mein Buch über meine Erfahrungen geschrieben …
… es heißt „Sechs Wochen weg“ …
… Corona hat die Idee verstärkt, die ich durch den Jakobsweg bekommen habe. Ich habe jetzt nicht mehr die Taktung, die ich vorher hatte. Ich habe festgestellt: Mensch, die Abende kann ich auch echt anders sinnvoll nutzen, mit der Familie, mit Freunden, im Garten beim gemütlichen Zusammensitzen.
Steckte in Deinen Tränen am Ende des Jakobswegs auch Erleichterung?
Schon, ja. Es war ein unglaublich schönes Gefühl, am Ziel angekommen zu sein. Denn die 1000 Kilometer quer durch Spanien waren ja nicht gerade leicht. Sondern da war immer die Frage: Schaffe ich das überhaupt?
Wann hast Du am meisten gezweifelt?
In der zweiten Woche. Da hatte ich große Probleme mit Knie und Knöchel. Ich war körperlich am Ende. An zwei Tagen hatte ich bei jedem Schritt so extreme Schmerzen, dass ich gedacht habe: „Diese Etappe schaffe ich nicht. Und weiterwandern brauche ich so morgen schon gar nicht.“
Wie hast Du es dann doch geschafft?
Ich habe Pausen gemacht. Und später auch Schmerzmittel genommen. Ich bin da sonst gar nicht so der Typ für, aber hier ging es eben nicht anders. Und dann habe ich mir gesagt: jetzt einfach nur irgendwie ankommen.
War das Knie schlimmer oder der Knöchel?
Es tat beides extrem weh: linkes Knie, rechter Knöchel. Meine Frau hat mich abends nach der einen Etappe gefragt: „Was denkst Du eigentlich so, wenn Du den ganzen Tag wanderst?“ Und ich hab gesagt: „Das ist relativ einfach: Au! Au! Au!“
Klingt nicht schön.
Das Knie hätte ich noch irgendwie in den Griff gekriegt mit Bandagen. Ich hatte mehr Sorge, dass der Knöchel der Grund wird, warum ich aufgeben muss.
Du bist wegen der Schmerzen auch Strecken mit dem Bus gefahren.
Ja, ich habe meine Grenzen erkannt. Ich habe mir gesagt: „Dirk, sei kein Idiot!“
Hattest Du Befürchtungen, Du könntest einer sein?
Naja, am Anfang bin ich da typisch deutsch rangegangen. Ich hab gedacht: Den Jakobsweg, den arbeite ich so ab. Und wenn ich mal zwei Etappen an einem Tag laufe, komme ich halt schneller ans Ziel. Diese Einstellung habe ich mit meinen überlasteten Gelenken teuer bezahlt.
Also hast Du Dich im Bus geschont.
Beim ersten Mal war es nur eine kurze Strecke, das fand ich gar nicht schlimm. Aber später bin ich mal ein recht langes Stück Bus gefahren. Da hab ich überlegt: Ist das jetzt noch Pilgern – oder was? Und andererseits hab ich gedacht: Ach, ist auch egal. Es läuft im Leben halt nicht immer alles so, wie man sich das gedacht hat. Entschuldige den Ausdruck, aber: Scheiß auf Pläne! Viel besser ist doch, sich einzulassen auf das, was kommt. Und was bringt es jetzt, wenn Du Dich wochenlang rumquälst?
Hast Du diesen Gedanken vom Jakobsweg mit in den Alltag genommen?
Auf jeden Fall. Ich habe meinen Mitarbeitenden schon vorher gesagt: „Wenn man nicht fit ist, ist man eben nicht fit. Dann sollte man sich auskurieren. Der Körper holt sich sowieso alles wieder.“ Vorsorge war mir schon immer wichtig, alle anderthalb Jahre mache ich einen Check-up. Aber jetzt horche ich noch mehr in meinen Körper rein.
Was machst Du jetzt konkret anders?
Anfang des Jahres war ich beispielsweise eingeladen zu einem Neujahrsempfang. Und ich war echt nicht fit. Irgendwie vergrippt. Früher wäre ich wahrscheinlich trotzdem hingefahren und hätte gesagt: „Ach, geht schon. Ist nicht so schlimm.“ Jetzt habe ich gesagt: „Nee! Morgen ist auch wieder ein Arbeitstag. Lieber einmal früh ins Bett, vorher noch ne Brühe, dann hinlegen und gut is.“
Hat’s geholfen?
Ja. Am nächsten Tag konnte ich wieder arbeiten. Und ich hatte kein schlechtes Gewissen, weil ich nicht bei der Veranstaltung war. Ich habe mir gesagt: Ich kann’s nicht ändern. Da hat der Jakobsweg meine Lernkurve schon beschleunigt.
Welche Begegnungen unterwegs haben Dich besonders berührt?
Die mit älteren Pilgern aus verschiedenen Ländern. Ich nenne nur mal Stefano und Adriano aus Italien und Kerstin aus Schweden, die mit jenseits der 70 eine unglaubliche Lebensfreude ausgestrahlt haben, gepaart mit einer tollen Erfahrung und Ruhe – und die auch durchaus sinniert haben: Ist das jetzt mein letzter Camino? Sie haben sich mit dem Thema Tod beschäftigt, ohne dass das schwermütig war. Das war sehr beeindruckend für mich.
Zumal das Thema ja ganz schön persönlich ist.
Ja, aber die Gespräche auf dem Jakobsweg sind oft geprägt von einer großen Offenheit. Vermutlich auch deshalb, weil man nach einer gemeinsamen Wegstrecke ja wieder auseinandergeht. In der letzten Nacht habe ich in einer Herberge einen niederländischen Pilger kennengelernt, der mir erzählt hat, dass sein Sohn sich umgebracht hat und dass er den Weg auch für ihn gegangen ist und dass ihn das irgendwie befreit hat. Das sind ja Dinge, die man so im normalen Alltagsumfeld nicht einfach so erzählen würde.
Was hat Dich auf dem Weg noch beeindruckt?
So viele kleine Gesten. So viel Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft. Und die unglaublich menschenzugewandte Art von vielen Pilgern auf dem Jakobsweg. Irgendwann kam ich abends bei einer privaten Herberge an. Die Leiterin, eine Oma, kam auf mich zu und sagte, sie hätte noch was übrig vom Mittagessen, Nudeln mit Ei. Und fragte, ob ich was haben möchte. Dazu hat sie mir noch ein Bier aus dem Kühlschrank geholt. Und als ich ihr Geld dafür geben wollte, war sie fast schon beleidigt. Und in der gleichen Herberge war ein französischer Mitpilger, der mir morgens einen Kaffee gekocht hat.
Das ist ja nett.
Fand ich auch. Er wollte sich damit entschuldigen – weil er so laut geschnarcht hatte. Ich habe ganz viele Menschen mit so einer Haltung erlebt und gedacht: Vielleicht ist es bei uns im Alltag oft zu hektisch dafür. Vielleicht sollten wir uns mehr Zeit nehmen für solche kleinen Gesten. Ich glaube, die machen viel aus.
Du hast auf dem Jakobsweg weniger Komfort gehabt als sonst. Du hast in Mehrbettzimmern geschlafen und schnarchende Mitbewohner gehabt. Wie haben diese Erfahrungen Dich verändert?
Nachts habe ich mir relativ schnell gesagt: „Der Mensch da neben mir, der hört nicht auf zu schnarchen, weil ich mich jetzt darüber ärgere.“ Ich habe gelernt, mir zu sagen: „Okay, wenn ich die Nacht heute schlecht schlafe, dann lege ich mich halt am nächsten Tag mittags eine Stunde ins Gras und döse.“
Wie hat es Dich verändert, sechs Wochen nicht Geschäftsführer zu sein, sondern einfacher Pilger?
Es hat mir erst einmal gezeigt, dass das geht: dass der Chef sechs Wochen nicht da ist. Wobei mich das nicht überrascht hat. Was mich überrascht hat, war: Ich habe in den sechs Wochen nicht ein einziges Mal an die Arbeit gedacht.
Wie kam das?
Ich war so weit weg, und da waren so viele Eindrücke. Wenn man mit offenen Augen und Ohren durch ein anderes Land geht, Leute trifft und manchmal auch nur die Landschaft genießt, dann schweifen die Gedanken in alle möglichen Richtungen. Nur nicht zur Arbeit.
Und als Du zurückgekommen bist, hattest Du da den Eindruck, Du schaust anders auf Themen, Probleme, Mitarbeiter als vorher?
Ja. Ich diskutiere ja gerne. Aber auf dem Jakobsweg habe ich gelernt: Ich muss Menschen nicht überreden, meine Meinung zu übernehmen. Ich muss sie noch nicht mal überzeugen. Unterwegs habe ich einmal lange mit einem Südafrikaner in seiner Herberge diskutiert, über Europa und die EU. Da ich ja von Haus aus Politikwissenschaftler und Historiker bin, war ich mit einer gewissen Leidenschaft dabei.
Und er hatte eine andere Meinung als Du?
Ja, aber irgendwann ist mir deutlich geworden: Es steht mir gar nicht zu, diesen Menschen jetzt überzeugen zu wollen. Es kann ja jeder seine Meinung haben, solange die auf demokratischem Boden fußt. Durch die Begegnungen auf dem Jakobsweg bin ich viel gelassener geworden in Diskussionen. Ich tausche jetzt zwei, drei Argumente aus. Aber wenn ich merke, der andere will seine Position nicht verändern, dann denke ich: Ist halt so.
Was hast Du auf dem Weg noch gelernt?
Ich achte noch stärker darauf, wie ich mit Leuten in meinem Team umgehe.
Warum?
Auf dem Jakobsweg erwartet kein Mensch, dass alle gleichzeitig abends in der Herberge ankommen. Die einen brauchen länger, die anderen kürzer. Der eine geht ganz schnell bergauf, der andere schnell bergab. Und man weiß nie, was jeder Einzelne im Rucksack mit sich rumträgt – auch im übertragenen Sinne.
Welche Schlüsse hast Du daraus für Dein Verhalten als Führungskraft gezogen?
Wenn wir Aufgaben verteilen, versuche ich noch stärker als vorher zu sagen: Die Aufgabenerfüllung ist entscheidend, das Tempo weniger. Und im Zweifelsfall hinterfrage ich noch mal eher: Wie gefüllt ist der Rucksack der Mitarbeiter? Was haben sie vielleicht gerade für Sorgen und Nöte zu Hause, mit kranken Kindern oder pflegebedürftigen Eltern? Warum können sie vielleicht gerade einfach nicht so schnell sein, wie ich es gern hätte?
Was hat es bei Dir bewirkt zu merken: Es geht auch sechs Wochen ohne mich, den Chef?
Es hat mich in meiner Meinung bestärkt, dass jeder ersetzbar ist. Das meine ich gar nicht böse. Ich finde nur: Man sollte sich nicht zu wichtig nehmen. Mir sagen immer mal wieder Führungskräfte: „Das wäre bei uns gar nicht möglich: dass ich sechs Wochen weg bin.“ Das hinterfrage ich dann schon mal gerne: „Warum nicht?“ Ich habe noch kein Argument gehört, das mich überzeugt.
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Andreas