Wo der Mangel gerade am schlimmsten ist? Sollte sich doch rausfinden lassen. Schnell das Wort bei Google News eingeben – und zack: Schon kommen die Ergebnisse.
Akut scheinen zu sein: Fachkräftemangel, Azubimangel, Lehrermangel, E-Auto-Ladesäulenmangel, Wohnraummangel, Erzieherinnenmangel, Hausarztmangel, Postfilialenmangel, Spenderorganmangel. Dazu: Vitamin-C-Mangel. Und: Mentalitätsmangel in der Bundesliga. Und das ist nur eine Auswahl der ersten Ergebnisse, die die Suchmaschine findet.
Mangel ist gerade überall. Weitere ernste Mängel stehen auf der Liste nicht mal drauf: der Mangel an Frieden, der Mangel an Pflegekräften, der Mangel an Energie. Vom Wassermangel nach viel zu trockenen Jahren in zahlreichen klimakrisengeplagten Weltregionen ganz zu schweigen.
Gekürzte Kitazeiten
Es wäre albern, den Mangel nur als Chance zu deuten. Abgesehen vom Vitamin-C-Mangel (leicht behebbar) und vom fußballerischen Mentalitätsmangel (leicht ignorierbar) ist er fast immer: ein Problem. Wer im Alltag mit einem Mangel in Berührung kommt, spürt das sehr direkt: An Schulen fallen Stunden aus. In Kitas werden Betreuungszeiten gekürzt. Unternehmen können wichtige Stellen nicht besetzen. In Städten finden Familien kein bezahlbares Zuhause. Auf dem Dorf findet ein Patient keine Praxis, die ihn noch aufnimmt. Der Schwerkranke muss auf ein neues Herz jahrelang warten. In Altenheimen muss der Nachtdienst viel zu viele Bewohner versorgen.
Mangel verändert also etwas, das ist klar. Mit diesem Text möchte ich dafür werben, konstruktiv statt destruktiv mit dieser Veränderung umzugehen, anpackend statt jammernd, kreativ statt schlecht gelaunt. Denn wegzaubern lässt der Mangel sich ja nicht.
Im ersten Schritt hilft vermutlich: zu prüfen, ob der Mangel ein echter Mangel ist oder ein Verteilungsproblem. Ist das geklärt, lässt sich leichter herausfinden, was zu tun ist – und wie ernst die Sache ist.
Gewohnter Überfluss
Klar, der Mangel schmerzt so oder so – umso mehr, weil wir in Deutschland Überfluss gewohnt sind. Lange haben wir es für selbstverständlich gehalten, dass von fast allem für fast alle immer genug da ist. Der Wohlstand in unserem Land ist seit Jahrzehnten gewachsen. Die Menschen haben immer größere Häuser gebaut, immer gewaltigere Autos gekauft, sind immer häufiger in den Urlaub gereist. In den Supermärkten haben sie eine immer riesigere Auswahl gehabt. Mangel? Ein Fremdwort.
Dann kam Corona. Und plötzlich gab es ganz viel echten Mangel. Einen Mangel an Möglichkeiten: Freunde treffen, essen gehen, Schule besuchen – alles verboten. Einen Mangel an Nähe: Schwerkranken und Alten in der Klinik oder im Heim die Hand halten – nicht erlaubt. Und dann war da natürlich noch der berühmte Mangel an Klopapier. Ein klassischer Verteilungsmangel.
Heute ahnen wir: Corona war ein gutes Trainingslager für die Mängel, die danach gekommen sind – und für die, die noch kommen werden. Die Mängel in der Pandemie haben geholfen zu erkennen, was wirklich wichtig ist – und was im Zweifel verzichtbar. Sie haben gezeigt: Verteilungsmangel lässt sich beheben, wenn die Leute sich solidarisch verhalten. Wenn jeder nur eine Packung Klopapier kauft, reicht’s für alle; wenn zu viele hamstern, halt nicht.
Neue Ressourcen
Jüngst haben die Folgen von Russlands Angriffskrieg in der Ukraine bewiesen, wie sich sogar ein gewaltiger echter Mangel in den Griff bekommen lässt. Plötzlich fehlte Deutschland massenhaft Gas aus dem Land des Aggressors, und manch ein Angstmacher sah schon einen Wutwinter heraufziehen – mit unbezahlbaren Energiepreisen, Gasrationierungen, kollabierenden Industrien.
Dann aber erschloss die Bundesregierung neue Gasquellen, viele Unternehmen und Bürger heizten sparsamer, kauften Wärmepumpen – und zack: wurde aus dem Wutwinter ein Mutwinter. Im Nu hatte sich Deutschland aus der Abhängigkeit vom russischen Gas befreit. Und alle sahen, dass auch eine radikale Veränderung durch Zusammenhalt, Entschlossenheit und Kreativität gelingen kann. Und durch die Mittel, die gegen echten Mangel helfen: neue Ressourcen erschließen, Effizienz erhöhen, weniger verbrauchen.
Wer schlau ist, betrachtet den Mangel nicht negativ, sondern positiv. Die runtergedrehte Heizung im Winter ließ sich besser ertragen, wenn man nicht dachte: Wie ätzend, dass ich für den Frieden frieren soll! Sondern: Wie cool, dass ich gerade richtig Geld spare – und nebenbei helfen kann, den Kriegstreiber Putin zu ärgern! Wobei auch klar ist: Gasmangel lässt sich in einem gut gedämmten und neu gebauten Eigenheim leichter ertragen als in einer zugigen Altbau-Mietwohnung. Wie überhaupt jeder Mangel die Privilegierten weniger hart trifft als diejenigen, die es eh schon schwer haben.
Beschleunigte Veränderungen
Wer diese Tatsache mitdenkt, kann das Gute im Mangel sehen. Zum Beispiel: Mangel hilft, Neues zu probieren. Er hilft, klarer Prioritäten zu setzen, Prozesse neu zu organisieren, kreativ zu werden, unbequeme Fragen zu stellen, sich von überkommenen Gewissheiten zu lösen. Er beschleunigt Veränderungen, die ohnehin irgendwann angestanden hätten.
In Unternehmen kann der Mangel an Fachkräften dazu führen, dass sie nicht mehr bräsig und arrogant auf Bewerber herabschauen, sondern sich fragen: Warum sollte hier jemand arbeiten wollen? Wie könnten wir für Menschen attraktiv sein? Wie müssten wir uns verändern, damit jeder hier hinwill? Solche Fragen helfen dann allen – auch denen, die schon da sind.
Der Mangel an Fachkräften ist echt, und er wird noch deutlich schlimmer werden, der demografische Wandel fängt gerade erst an. Aber unter den Fachkräften, die da sind, ist der Mangel natürlich eine Frage der Verteilung – und ein Unternehmen, das überzeugt, kann ihn zumindest lindern.
Coole Lehrer
An Schulen kann der Mangel an Fachkräften Mut machen, ungewohnte Wege zu gehen. Wenn beispielsweise an einem Gymnasium Mathelehrer fehlen und deshalb in den siebten Klassen jede Woche eine Stunde Mathe auszufallen droht, könnte es clever sein, Zwölftklässler aus dem Mathe-Leistungskurs zu fragen, ob sie die Siebener in dieser Stunde nicht betreuen wollen. Das verändert für alle etwas: Die Großen wachsen an der Verantwortung in ihrer neuen Rolle, die Kleinen finden Lehrer plötzlich ausnahmslos cool – und verstehen bei ihnen vielleicht Formeln, die sie vorher nie kapiert haben.
Natürlich ist so ein Mittel gegen den Mangel selten perfekt, aber immer ist es besser als nichts. Der Mangel hilft, aus der Not eine Tugend zu machen – was vorher selten nötig war, einfach weil es lange gar keine Not gab. Aber klar, nicht jeder Mangel lässt sich so rasch beheben. Gegen die Not in der Pflege müssten wohl sehr viele Betroffene sehr laut und sehr lange protestieren, bis die Politik gegen das Problem endlich ernsthaft etwas tut.
Und mit manch einem Mangel werden wir vermutlich auch einfach leben lernen müssen. Natürlich ist das unschön – etwa, wenn man auf einen Termin beim Kniespezialisten monatelang warten muss, obwohl jeder Schritt schmerzt. Und es ist eine Katastrophe, wenn Kinderintensivstationen so unterbesetzt sind, dass schwerkranke Kleine nicht mehr vernünftig behandelt werden können. Aber in einer alternden Bevölkerung fallen neue Fachkräfte halt nicht vom Himmel.
Hoffende Herzen
Schwer zu sagen, welcher Mangel als nächstes kommt. Die letzten Mängel jedenfalls haben auch Experten auffällig überrascht. Nur mal angenommen, China würde tatsächlich Taiwan überfallen und der Westen vor der Frage stehen, ob er den Aggressor ähnlich sanktionieren will wie jetzt Russland. Dann drohte Mangel in einer ganz neuen Dimension.
Für den Moment hilft, wenn ein Mangel mal allzu sehr nervt, vielleicht ein Blick in ein Land, dem so viel mehr fehlt als uns. Ein Blick in die Ukraine. Da fehlt es an Frieden und Sicherheit, Strom und Wärme, Ordnung und Perspektive – und vielen Familien fehlen zuallererst geliebte Verwandte, die Russlands Staatsterrortruppe gefoltert und ermordet hat. Doch die Ukrainer lassen sich von all diesem Mangel nicht unterkriegen. Sie kämpfen, packen an, halten zusammen. Denn sie haben eben auch etwas im Überfluss, tief in ihrem Herzen: die Hoffnung, dass der Mangel irgendwann ein Ende hat.
So, liebe Leute, das war’s für heute. Eine letzte Sache nur noch: Wäre super, wenn dieser Text nicht mal den klitzekleinsten Mangel an Leserinnen und Lesern litte. Wäre toll, wenn er so oft geteilt würde wie noch keiner meiner Texte zuvor. Also, bitte: Empfehlt ihn in Eurem Whatsapp-Status, auf Facebook, Instagram und LinkedIn oder wo immer Ihr mögt. Geht ganz einfach – mit diesem Link:
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Andreas