„Mein Blick aufs Spiel hat sich total verändert“
Ralf Böckmann erzählt, was er als Fußball-Schiedsrichter lernt
Jeder, der Fußball liebt, hat sich schon mal über einen Schiedsrichter aufgeregt. Ein Pfiff von ihm kann ein Spiel entscheiden – so oder so. Wie geht es einem mit dieser Verantwortung? Ralf Böckmann (54) vom SV GW Mühlen ist Schiedsrichter. Im Interview hat er mir erzählt, was er in dieser Rolle bewirkt. Bei Spielern, Trainern, Zuschauern – und bei sich selbst.
Seit wann bist Du Schiedsrichter?
Ich wollte immer schon mal einen Schiedsrichter-Schein machen, aber ich hatte nie Zeit dafür. Tja, und dann kam Corona, man hatte abends sowieso nichts zu tun, und der Kreis Vechta hat einen Schieri-Kurs online angeboten. Also habe ich mich angemeldet.
Du hast im Fußball schon fast alles gemacht, oder?
Ja. Ich war Spieler, Jugendtrainer, Herrentrainer, ich war Abteilungsleiter Fußball hier bei uns im Verein und Vorstandsarbeit habe ich auch gemacht. Jetzt bin ich im Förderverein. Nur Schiedsrichter fehlte noch. Also habe ich mich für den Kurs acht Abende vor den Computer hingesetzt.
Wie war’s?
Ich war mit Abstand der Älteste im Kurs, die anderen waren alle Jugendliche. Ich war auch der Einzige, der im Zoom-Meeting seine Kamera anhatte. Am Ende habe ich die Prüfung bestanden – und bin gefragt worden: „Willste auch pfeifen?“ Da hab ich gesagt: „Kann ich machen.“ Dann haben sie mich gleich für ein paar Jugendspiele angesetzt. Es hat mir sofort Spaß gemacht. Dann hat mich mein sportlicher Ehrgeiz gepackt und ich hab gesagt: „Ein Herrenspiel kann ich auch wohl pfeifen.“ Dann haben sie mich gleich in der Kreisliga angesetzt. Hat auch gut geklappt. Und so bin ich jetzt dabei.
Was gefällt Dir an der Schiedsrichterrolle?
Mein Blick aufs Spiel hat sich total verändert. Er ist ganz anders als der Blick, den ich früher als Spieler und Trainer hatte. Ich weiß ja vieles, denn ich habe ewig lange selber gespielt. Aber trotzdem habe ich nochmal neu verstanden, wie so ein Spiel abläuft. Und ich lerne bei jedem Spiel dazu.
Was denn?
Zum Beispiel, wie ich am besten mit den Spielern und den Trainern klarkomme.
Und? Wie geht das?
Bei den Spielern ist das so ein bisschen ein Balanceakt: Sprichst Du gar nicht mit ihnen, giltst Du als arroganter Fatzke. Quatschst Du sie zu, dann versuchen sie, jede Entscheidung mit Dir zu diskutieren. Dazu habe ich natürlich auch keine Lust.
Und wenn die Spieler meckern?
Ich kann damit locker umgehen. Wenn ein Spieler meckert, kriegt er auch mal einen Spruch zurück. Und wenn mich ein 19-Jähriger anmeckert und zufällig kenne ich seine Familie privat, dann sage ich: „Mann, von Dir muss ich mich jetzt aber nicht so anmeckern lassen. Das habe ich echt nicht nötig.“ Dann kommt der schon mal nach dem Spiel und sagt: „Das wollte ich nicht, Ralf. Entschuldige!“ Das sind coole Erfahrungen. Mir ist als Schieri nochmal ganz neu klar geworden, wie sehr Emotionen zum Spiel gehören.
War Dir das vorher nicht klar?
Am Anfang habe ich gedacht: Die sollen sich mal nicht so aufregen! Dann habe ich gemerkt: Ich muss auch akzeptieren, dass ich von der Trainerbank mal angemeckert werde.
Und wenn’s Dir zu bunt wird?
Dann werde ich deutlicher. Extremstes Beispiel war ein Co-Trainer, mit dem ich früher selbst in Holdorf zusammengespielt habe. Seine Mannschaft hat 4:0 geführt, und er hat sich furchtbar aufgeregt über einen Spieler des Gegners: „Der kommentiert jede Szene! Der soll endlich mal die Klappe halten!“ Ich hatte das so gar nicht mitbekommen. Also bin ich zu ihm hingegangen und hab ihm gesagt: „Am besten, Du bist jetzt mal ruhig und gehst auf Deine Bank.“ Aber er hörte nicht auf.
Und dann?
Dann bin ich etwas lauter geworden: „Jetzt ist Schluss! Du gehst jetzt zu Deiner Trainerbank und setzt Dich da hin.“ Und er hörte nicht auf. Ich also: „Jetzt muss ich Dich leider verwarnen.“ Er hörte immer noch nicht auf. Ich: „Dann gehst Du jetzt gleich hinter die Bande.“ Da hat er sich hingesetzt. Nach dem Spiel war er dann wie ausgewechselt – und wusste nichts mehr davon. Nach dem Duschen, beim Bier, sieht oft vieles schon wieder ganz anders aus. Dann ist aller Zorn verraucht.
Trinkt Ihr dann oft noch ein Bier zusammen?
Ja, das ist oft so, dass die Spieler nach dem Duschen noch zusammenstehen und ein Bierchen trinken. Da trinke ich gern eins mit. Manchmal gibt’s auch noch Pommes und Bratwurst, das gehört ja irgendwie dazu.
Bist Du als Schiedsrichter eher locker?
Ich denke schon, ja. Durch meine lange Fußball-Erfahrung pfeife ich ein bisschen anders als die anderen. Ich habe in 40, 50 Spielen noch keine Rote Karte gezeigt. Wenn ich nur nach Lehrbuch pfeifen würde, sähe das wahrscheinlich anders aus. Ich versuche, nicht gleich die ganz harte Linie zu fahren. Lieber ist es mir, vieles erst mal locker wegzumoderieren.
Wie sehr kannst Du als Schiedsrichter den Charakter eines Spiels verändern?
Das kann ich auf jeden Fall. Wichtig ist: Ich muss eine Linie finden. Mensch, ich spreche jetzt hier schon, als hätte ich 450 Spiele gepfiffen ...
… alles gut, nur zu!
Wenn ich schnell eine Gelbe Karte ziehe, bin ich schon ein bisschen im Zugzwang, bei einem ähnlich harten Foul der anderen Mannschaft auch Gelb zu geben. Dann kann das schnell ausufern. Meistens versuche ich, erst mal ein bisschen mehr laufen zu lassen. Aber ich muss natürlich aufpassen, dass die Spieler nicht denken: Super, da kann ich ja mal härter reingehen! Ich muss erkennen, wenn sie übers Ziel hinausschießen – und dann zeigen: bis hierhin und nicht weiter!
Wenn Du heute als Zuschauer ein Spiel siehst, schaust Du dann anders hin als früher?
Ja. Ich achte mehr darauf, wie der Schiedsrichter pfeift. Ich frage mich bei jeder strittigen Szene sofort: Wie würdest Du jetzt entscheiden? Darüber habe ich früher ja gar nicht nachgedacht. Früher habe ich, wenn ich etwas anders gesehen habe als der Schiedsrichter, oft gleich angefangen zu meckern.
Warst Du für die Schiedsrichter ein Problemspieler?
Beleidigt habe ich nie einen. Und dass ich mal eine Gelbe Karte gekriegt habe wegen Meckerns, das war echt die Ausnahme. Als Trainer habe ich dann oft versucht, den Schieri irgendwie auf meine Seite zu ziehen. Ganz ehrlich: Da war ich genau wie all die Trainer, die ich heute erlebe.
Wie hast Du die Schiedsrichter damals, als Spieler, gesehen?
Darüber habe ich auch schon öfter nachgedacht. Am einfachsten war es natürlich immer, den Schiedsrichter als Sündenbock zu nehmen. Aber ob er dann wirklich immer so spielentscheidend war? Kann ich mir nicht so richtig vorstellen. Und wenn wir gewonnen haben, war sowieso alles gut. Über Schiedsrichter regt man sich ja in der Regel nur auf, wenn man verliert.
Vor allem die Zuschauer.
Von denen lasse ich mich nie beeinflussen. Für die ist der Schieri eh immer der Buhmann. Wenn ich eine Entscheidung treffe, finden es die einen gut und die anderen nicht – so isses halt. Damit muss ich leben. Ich glaube, Schiedsrichter-Sein ist eine Art Persönlichkeitsbildung. Man lernt dabei, zu seiner Entscheidung zu stehen – auch wenn sie mal falsch ist.
Ein Pfiff kann ein Spiel halt von jetzt auf gleich total verändern.
Klar, manchmal sind es spielentscheidende Situationen: War es ein Elfmeter oder nicht? Aber: Wie soll ich das als Schiedsrichter alles perfekt sehen? Ich habe ja keine vier Augen. Und ich habe in den untersten Amateurligen und in der Jugend auch keine Assistenten da an der Linie stehen. Es ist unmöglich, da keinen Fehler zu machen.
In der Bundesliga sind sogar nach dem Videobeweis noch viele Szenen strittig.
Ja, genau. Manchmal gibt es trotz fünf Zeitlupen aus vier verschiedenen Positionen noch keine Klarheit. Und ich habe für meine Entscheidung maximal zwei Sekunden Zeit: einundzwanzig, zweiundzwanzig – dann muss der Pfiff kommen. So schnell muss ich in meinem Gedächtnis kramen: Wie war das noch? Gehört die Stelle, mit der er den Ball berührt hat, noch zum Arm – oder nicht? Ging er aktiv zum Ball oder ist er angeschossen worden? Konnte der seinen Arm da überhaupt so schnell wegkriegen? Gar nicht so einfach.
Wie ist das für Dich, so schnell solche folgenreichen Entscheidungen treffen zu müssen?
Was mir hilft, ist meine Erfahrung. Ich habe selber 30 Jahre gespielt. Und ich gucke mir natürlich auch die Bundesliga an. Aber ich kann halt trotzdem daneben liegen. 50 Prozent entscheide ich vielleicht für beide Mannschaften richtig, und bei den anderen 50 Prozent sagen alle: „Hättest Du aber pfeifen müssen, den Elfmeter – oder auch eben nicht.“ Diese Entscheidung zu treffen und durchzuziehen, das ist manchmal nicht so einfach. Aber wenn ich damit nicht umgehen kann, dann bin ich als Schiedsrichter fehl am Platz. Ich muss es nur konsequent durchziehen und verkaufen.
Hast Du schon mal einen Fehler gemacht, nach dem Du ein richtig schlechtes Gewissen gehabt hast?
Komplett danebengelegen habe ich bisher noch nicht. Kann aber alles noch kommen. Und wenn’s dann so ist, ja, dann habe ich auch kein Problem damit, nach dem Spiel hinzugehen und mich zu entschuldigen: „Hey, hab ich eben aus der Position leider so gesehen. Man hätte es auch anders entscheiden können. Aber ich kann’s jetzt nicht mehr ändern.“
Bist Du ein Perfektionist, wenn Du pfeifst – obwohl Du weißt, dass Fehler immer passieren können?
Ja, ich gehe schon in jedes Spiel rein und sage: Ich will hier mein Bestes geben. Ich bereite mich vernünftig vor. Ich gucke mir Tabellenstände an, damit ich weiß: Was wird das für ein Spiel? Geht’s hier um die Wurst? Ich mache das nicht larifari nach dem Motto: Ob ich richtig oder falsch liege, ist auch egal. Nee, nee, ich will schon alles gut machen. Den Anspruch habe ich an mich.
Siehst Du die Leistungen von Schiedsrichtern heute mit anderen Augen als früher?
Ja, total. Ist ja wirklich kein einfacher Job. Das habe ich früher so nicht gesehen. Jeder, der meckert, sollte sich da mal hinstellen und selbst ein Spiel leiten und Entscheidungen in Sekundenschnelle treffen. Ich glaube, viele stellen sich das einfacher vor, als es ist.
Oft werden Schiedsrichter im Amateur- und Jugendfußball angefeindet. Was bekommst Du davon mit?
Ich lese viele Fachzeitschriften, und wenn’s ganz wild wird, steht’s ja auch in der Bild-Zeitung. Das ist schon krass, wie einige da ausflippen. Da werden Grenzen überschritten, die einfach nicht überschritten werden dürfen. Wenn ich als Schiedsrichter zu Fußballspielen fahre, werde ich manchmal gefragt: „Wie, Du pfeifst? Wieso tust Du Dir das an?“ Schiedsrichter sein, da hat keiner so richtig Bock drauf. Wer lässt sich schon gerne anmeckern?
Du offenbar.
Ja, und mir macht die Aufgabe als Schieri wirklich Spaß. Außerdem komme ich dadurch mit vielen Mannschaften und Vereinen ins Gespräch, das finde ich interessant. Und pfeifen kann ich auch noch, wenn ich 65 bin – falls die Knochen dann noch mitmachen.
Im Moment machen sie noch mit?
Ich bin ja jetzt 54, da wird das nicht besser (lacht). Aber 90 Minuten kriege ich noch hin.
Wie hast Du Dich durch den Job als Schiedsrichter verändert?
Also, meckern tue ich jetzt von außen wirklich nicht mehr. Wenn ich mir ein Spiel als Zuschauer angucke, sehe ich natürlich auch, dass ein Schiedsrichter mal was falsch macht. Meine Kumpels drehen sich dann oft zu mir um und fragen: „Na, was sagt denn unser Schiedsrichter dazu?“ Und ich sage dann: „Joa, ich hätte auch Freistoß gegeben. Genau richtig entschieden.“
Du hast definitiv mehr Verständnis für Schiedsrichter als früher?
Auf jeden Fall, ja. Unsere beiden Töchter spielen Handball. Da ist es ja noch schwieriger für Schiedsrichter, immer richtig zu entscheiden. Schon weil es so viel mehr Entscheidungen zu treffen gibt als beim Fußball: Hing die da im Arm? Ist das jetzt Siebenmeter? Ist sie nachträglich geschubst worden? Muss es eine Zwei-Minuten-Strafe geben oder nicht? Früher habe ich da viel gemeckert. Jetzt sage ich nichts mehr. Nur noch manchmal, bei ganz, ganz krassen Fehlentscheidungen.
So, liebe Leute: Zwei Bitten habe ich jetzt noch.
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Andreas