„Mama, Mama, wir haben 700 Euro!“
Sabine Böckenstette erzählt, was die Sternsingeraktion verändert
Erstaunlich, was die Sternsinger Jahr für Jahr leisten: Da opfern Kinder freiwillig Ferientage, ziehen Anfang Januar bei Eiseskälte von Haus zu Haus, bringen Menschen den Segen und sammeln Geld für Kinder, denen es viel schlechter geht als ihnen. Sabine Böckenstette (51) gehört zu dem Team, das in der Pfarrgemeinde Sankt Gertrud in Lohne die Sternsingeraktion organisiert. Im Interview hat sie mir erzählt, was die Aktion verändert – auf allen Seiten.
Du warst doch bestimmt schon als Kind selbst Sternsingerin, oder?
Nein, war ich nicht! Ich kann Dir gar nicht sagen, warum. Meine Eltern sind wirklich christlich durch und durch, aber das Sternsingen ist irgendwie immer an uns vorbeigegangen.
Wie bist Du dann dazu gekommen?
2009 ist unser älterer Sohn Jan von meiner Nachbarin Geni Schwabe angesprochen worden. „Mensch, du wärst doch ein toller Sternsinger“, hat sie gesagt. Also ist er Sternsinger geworden, und ich bin mit seiner Gruppe mitgelaufen. Ein Jahr später ist auch Timo, unser jüngerer Sohn, eingestiegen – da hatte ich schon zwei Gruppen am Start.
2017 hast Du dann im Organisationsteam der Sternsingeraktion in Sankt Gertrud angefangen.
Genau. Auch mich hat Geni Schwabe angeworben, sie hat gesagt: „Sabine, Du musst das hier weitermachen, Du bist dafür prädestiniert.“ In den ersten Jahren bin ich parallel noch mitgelaufen mit Timos Gruppe – und hatte das Handy praktisch immer am Ohr, für den Fall, dass was ist. 2020 bin ich dann komplett in die Organisation gegangen; da hatte Timo seine zehn Jahre Sternsinger vollgemacht.
Warum war ihm das wichtig?
Er hatte sich zehn Jahre immer zum Ziel gesetzt. Kaplan Uwe Grünefeld hatte ihm versprochen: „Wenn Du zehn Jahre Sternsinger bist, gehst Du mit mir einmal auf den Kirchturm.“ Timo hat diese zehn Jahre geschafft – aber der Kaplan leider nicht. Er ist ja im Oktober 2020 bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen.
Wie verändert das Sternsingen die Kinder?
Es packt sie vom ersten Moment an. Das geht schon mit dem Info-Film los, den sie im Adolf-Kolping-Haus sehen. Der Reporter Willi Weitzel …
… den viele von „Willi will’s wissen“ kennen …
… zeigt darin, wohin das Geld der Aktion in diesem Jahr geht. Ich sag mal als Beispiel: Der Junge in dem Film heißt Paco und kommt aus Peru, er wird von Willi begleitet, sein Alltag und seine Probleme werden gezeigt. Und wenn der Film vorbei ist, ist den Kindern absolut klar, dass sie jetzt für Paco Geld sammeln müssen. In dem Moment könnte man die direkt losjagen – so heiß sind die darauf, Paco zu helfen. Weil sie jetzt wissen: Der braucht das Geld. Das ist erstaunlich, was da schon für eine Dynamik reinkommt.
Woran merkst Du, dass der Film in den Köpfen der Kinder schon so viel verändert?
Wenn er läuft, sind sie mucksmäuschenstill – eine Gruppe von 200 Kindern! Und wenn er vorbei ist, sagen sie sofort: „Ich muss jetzt von Haus zu Haus gehen. Ich will da helfen. Ich!“
Was löst es in den Kindern aus, wenn sie dann die Gewänder anziehen, geschminkt werden und sich in die heiligen drei Könige verwandeln?
Sie sind dann wahnsinnig gespannt. Bevor sie losziehen, ist ja noch ein kurzer Eröffnungsgottesdienst – nur in der Corona-Zeit ist der ausgefallen. Da ist die Spannung richtig greifbar. Wie ein Flitzebogen sitzen die Kinder da. Der Pastor könnte auch einfach sagen: „Los!“ – dann würden die alle losrennen. Mit welcher Inbrunst die ihr Lied „Wir kommen daher aus dem Morgenland“ singen – Wahnsinn! Nach dem Gottesdienst machen wir noch ein Gruppenfoto vor der Kirche, aber das ist kaum möglich, weil alle nur loswollen. Weil sie so stolz sind, dass sie jetzt die Sternsinger sind.
An den Haustüren, an denen sie klingeln, treffen die Kinder die unterschiedlichsten Menschen. Welches Erlebnis hat Dich besonders berührt?
Ich weiß noch, in einem Jahr lag mal hoch Schnee und es war spiegelglatt, und Thomas Hahn, der damalige Kaplan, sagte: „Kinder, wenn es nicht mehr geht, hört auf.“ Dann kam eine Gruppe zu dem Haus einer Oma. Sie stand an der Haustür und sagte: „O Gott, Kinder, brecht Euch nicht die Beine!“ Aber sie wartete eben auch sehnsüchtig auf die Sternsinger.
Und dann?
Dann haben sie gesagt: „Wir kommen!“ Und sind auf allen Vieren die Einfahrt bis zu ihrer Haustür hochgekrabbelt, haben ihr Sternsingerlied gesungen und ihr den Segen gebracht. Die Oma hatte Tränen in den Augen. Die war so glücklich! Die Mutter, die die Gruppe begleitet hat, hat ein Video davon gemacht und uns hinterher gezeigt. Das sind Erlebnisse, die nehmen die Kinder mit. Die prägen sie fürs Leben. Die zeigen ihnen, wie toll es ist, sich ehrenamtlich zu engagieren.
Sie erleben aber natürlich nicht nur positive Reaktionen.
Das stimmt. Manchmal werden sie auch abgewiesen. Leute sagen, die Sternsinger will ich nicht. Im vergangenen Jahr haben wir zum ersten Mal den Spruch gehört: „Ach, schon wieder schickt die Kirche welche zum Betteln rund.“ Das ist natürlich nicht so schön. Zum Glück erklären dann aber die Eltern, die mitgehen, den Kindern, wie sie sowas einordnen können. Und es überwiegt eindeutig die freundliche Haltung. So viele Leute sagen: „Schön, dass Ihr da seid! Kommt rein! Mögt Ihr einen Kakao?“ Und es gibt Omas, die unbedingt immer ein Foto an der Krippe vorm Tannenbaum mit den Sternsingern haben möchten. Also gehen die Kinder jedes Jahr da rein und machen das Foto. Das sind Momente, die die Kinder ergreifen.
Was ist es noch, was das Sternsingen für die Kinder so besonders macht?
Sie können zusammen mit ihren Freunden was Gutes tun. Sie können als Kinder anderen Kindern helfen. Sie können sich verkleiden und sagen: Ich bin jetzt ein König. Das ist toll für sie. Und jedes Jahr können sie die gleiche Diskussion führen: Wer ist Kaspar, wer ist Melchior, wer ist Balthasar – und wer wird diesmal schwarz geschminkt?
Die Sternsinger kommen an den Haustüren mit Menschen in Kontakt, die sie im Alltag nie treffen würden. Wie verändert sie das?
Sie kriegen dadurch ganz andere Einblicke in die Gesellschaft. Sie treffen auf die unterschiedlichsten Menschen und die unterschiedlichsten Kulturen. Und sie merken: Das ist auch alles unsere Stadt. Bei uns in der Siedlung zum Beispiel wohnen Jesiden. Da haben die Kinder gefragt: „Mama, sollen wir da jetzt als Sternsinger klingeln? Da haben wir doch sonst nie geklingelt.“
Und, haben sie geklingelt?
Na klar! Und dann haben die Leute die Tür aufgemacht. Sie haben erzählt, dass sie das Sternsingen gar nicht kennen, und statt einer Tafel Schokolade haben sie eine Orange gegeben. Aber die Kinder sind im Nachhinein stolz gewesen, dass sie sich getraut haben zu klingeln. Und sie haben gesagt: „Mama, die waren doch ganz nett. Und auch die haben was gespendet und in die Dose getan.“ Und wenn man die Leute das nächste Mal sieht, grüßt man sie ganz anders und denkt: Ach guck mal, die kennst Du doch jetzt!
Die Überwindung lohnt sich also.
Absolut, ja! Meistens lohnt sich das. Wir kriegen wirklich selten Rückmeldungen von Eltern, die sagen: Dieses Haus geht gar nicht, da braucht Ihr uns nicht wieder hinzuschicken. Viel häufiger sagen die Eltern: Die Kinder wollten am liebsten noch weitermachen, als sie mit ihrer Tour fertig waren.
Ernsthaft?
Ja, ernsthaft! Wenn sie zwei Tage gelaufen sind, sind die meisten Kinder zwar wirklich platt. Aber manche Gruppen kommen abends an und fragen: „Können wir noch irgendwo aushelfen? Können wir noch was machen?“
Was bewirken die Sternsinger bei den Menschen, zu denen sie an die Haustür kommen?
Für viele alte Menschen ist das der Höhepunkt des ganzen Jahres. Sie bleiben auch alle zu Hause, wenn es wieder soweit ist. Wenn sie wissen, die Sternsinger kommen, dann fahren sie nicht einkaufen und gehen auch nicht zum Friseur. Dann warten sie.
Die Jüngeren können das oft nicht, weil sie arbeiten müssen.
Ja, und manchmal hängt bei denen dann was an der Tür: eine Tüte mit Geld und Schokolade und, ganz witzig, einer Grußkarte dabei: „Liebe Sternsinger, ich bin leider nicht da. Das hier ist für Euch.“
Das nehmen die Sternsinger dann einfach so mit?
Nicht immer! Unsere Kinder haben da einmal trotzdem noch gesungen, vor dem leeren Haus. Sie haben gesagt: „Wir können das doch nicht einfach nehmen, ohne zu singen.“ Das war ihnen ganz wichtig.
Wenn die Kinder abends von ihrer Tour zurückkommen, zählt Ihr das Geld immer vor ihren Augen.
Genau. Die Bank sagt uns zwar: Ihr braucht das nicht zu zählen. Aber das können wir den Kindern nicht antun.
Warum nicht? Was bewirkt das bei ihnen?
Erstmal sind sie wahnsinnig gespannt. Die meisten kriegen beim Rumgehen gar nicht mit, wieviel Geld sie gesammelt haben. Sie sind dann total erstaunt, was da zusammengekommen ist. So richtig happy.
Woran merkst Du das?
An den leuchtenden Augen. An den glücklichen Gesichtern. Und an den müden, roten Wangen. Manchmal stützen sie schon den Kopf ab, so dass du merkst: O Gott, die sind wirklich richtig fertig. Aber sie gehen nicht weg. Sie bleiben da stehen und warten, bis sie dran sind und bis wir das Geld gezählt haben. Wenn mal ein Cent runterfällt, heben sie den auf und geben ihn mir. Und wenn sie dann die Summe hören, rufen sie: „Mama, Mama, hast Du gehört? Wir haben 700 Euro!“ Und man sieht ihnen an, dass sie wissen: Wir allein haben das erlaufen! Wir haben uns durch Schnee und Matsch, durch Kälte, Regen und Sonnenschein gekämpft. Und wir haben das für die armen Kinder getan. Für Kinder wie Paco.
Viele Kinder spenden zusätzlich auch noch einen Großteil der Süßigkeiten, die sie an den Haustüren bekommen.
Die Kinder nehmen meistens nur ein paar Bonbons für sich selbst. Dabei sind die Bonbons ihr Lohn – und wir sagen ihnen immer wieder, sie dürften die alle behalten. Aber wir sagen auch: Wenn Ihr es sowieso nicht schafft, sie alle zu essen, dann spendet sie gern – es wäre zu schade, wenn Ihr sie nachher wegschmeißt. In den vergangenen Jahren ist ein Teil der Süßigkeiten von der Bokerner Clique in die Ukraine gebracht worden, den anderen Teil haben bedürftige Familien im Kreis Vechta bekommen. So haben die Sternsinger vielen armen Kindern eine besondere Freude gemacht – denn eine Tafel Schokolade ist für sie besonders wertvoll.
Warum ist es für die Sternsinger wichtig, auch dadurch etwas für andere Kinder zu tun?
Weil sie so vom Anfang bis zum Ende der Aktion das Gefühl haben: Ich kann was tun. Ich kann helfen. Ich bewirke was.
Für diese Hilfe opfern die Kinder zwei Tage ihrer Weihnachtsferien. Krass, oder?
Ja, das wundert mich auch immer wieder, dass die so viel Ferienzeit opfern. Aber das scheint für sie selbstverständlich zu sein. Am Ende machen wir als Dankeschön ja immer noch eine Sternsinger-Disko. Einige fiebern total auf die Disko hin, die sagen: toll, Musik, Chips, Cola – das ganze Programm! Andere sagen: „Ach, war doch selbstverständlich, dass ich mitgemacht habe. Ihr braucht gar nicht danke sagen. Ich mache das doch gerne. Ich mach das doch nicht, um nachher die Disko zu kriegen.“
Wie haben Dich all die Erlebnisse bei den Sternsingern verändert?
Sie haben mich absolut bereichert. Innerlich, als Mensch. Die Zusammenarbeit mit unserem Orga-Team, die ist einfach nur schön. Dafür nehme ich die Vorbereitungsabende gerne auf mich. Ich denke nie: „Och, jetzt würde ich aber lieber auf dem Sofa liegen.“ Nein! Ich sage: „Sternsinger, hey! Wir müssen doch wieder zugange kommen!“ Und auch ich habe, genau wie die Kinder, gemerkt: Ich als einzelne Person kann was bewirken. Ich kann mit organisieren, ich kann Vorschläge machen, ich kann was tun – und es ist so einfach. Und macht auch noch Spaß.
Was genau macht Dir Spaß?
Das frühere Organisationsteam hat jahrelang tolle Arbeit gemacht. Wir Jüngeren ernten jetzt das, was die aufgebaut haben. Und wir haben auch ein tolles Team. Ich fühlte mich da von Anfang an willkommen und aufgenommen. Da habe ich gesagt: Hier bleibe ich. Und jede hat bei uns so ein bisschen ein Spezialgebiet.
Erzähl mal!
Eine Frau betreut das Sternsinger-Café und versorgt die Kinder, wenn sie ganz durchgefroren sind, mit dem weltbesten Kakao und mit Keksen. Andere legen die Gewänder bereit. Wieder andere machen die Werbeflyer für die Schulen fertig. Ich bin eine der zwei Frauen, die fürs Einteilen der Gebiete zuständig sind. Und alle packen zusammen an. Wenn einer nicht weiterkommt, sagen die anderen sofort: „Hey, ich helf dir! Was soll ich tun?“ Ich hab’s noch nicht ein einziges Mal erlebt, dass jemand sagt: „Du, ich kann grad nicht.“ Diese Gemeinschaft und dieser Zusammenhalt, die haben mich verändert.
Das Ergebnis der Aktion ist erstaunlich, in einigen Jahren sammeln die Sternsinger in Lohne mehr als 50.000 Euro. Was denkst Du, wenn Du diese Summe hörst?
Dann denke ich: Jeder kann was bewirken, auch wir im Kleinen. Jeder kann einen Anfang machen. Und ich frage mich eher: Wo könnte ich noch mehr tun? Wo könnte ich sonst noch helfen – etwa jetzt, bei all dem Leid in der Ukraine? Was wir in Lohne mit den Sternsingern an Geld zusammenkriegen, das ist schon toll. Das sehen andere auch so.
Wie meinst Du das?
Geni Schwabe hat mir mal erzählt, sie war irgendwo in Süddeutschland Fahrradfahren, da hat sie jemanden getroffen und der hat gesagt: „Ah, Du bist aus der Pfarrgemeinde Sankt Gertrud, von der Sternsingeraktion! Ihr seid doch die, die immer so viel Geld sammeln!“ Wir scheinen also ganz schön was zu bewirken.
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Mein nächster Text über Veränderung kommt in zwei Wochen. Vielleicht auch schon in einer.
Bis dahin: alles Gute!
Andreas