Mit 53 Jahren hatte Oliver Haustein-Teßmer viel erreicht: glücklich verheiratet, drei Kinder, Chefredakteur der Lausitzer Rundschau und der Märkischen Oderzeitung. Und doch wagte er noch mal was Neues. Er machte ein Sabbatjahr, schrieb ein Buch, studierte in New York, genoss die neue Freiheit. Was er dabei gelernt hat, hat er mir im Interview erzählt.
Wie bist du auf die Idee gekommen, ein Sabbatjahr zu machen?
Meine Frau und ich haben schon länger darüber geredet, was wir machen, wenn unsere drei Kinder erwachsen sind und ausziehen. Ob wir uns dann noch mal neu justieren wollen. So ist die Idee langsam gereift. Wir haben von anderen Leuten gehört, die ein Sabbatjahr gemacht haben. Einige haben es abgebrochen, andere sind auf ganz neue Ideen gekommen, wieder andere haben sich danach getrennt.
Also habt ihr es gewagt.
Ja, am Ende muss man es ja selber ausprobieren. Wir haben uns von Anfang an vorgenommen, das Sabbatjahr gemeinsam zu machen. Wir haben es ein Jahr vorher bei unseren Arbeitgebern angemeldet und hatten Zeit, uns drauf einzustellen.
Wie hat dein Arbeitgeber reagiert?
Total positiv. Ich habe meinem Geschäftsführer erzählt, dass ich in dem Jahr auch Zeit in den USA verbringen möchte. Er hat gesagt: „Wow! Toll! Das wollte ich auch schon immer mal machen.“ Auch die Gesellschafter unserer Mediengruppe haben mich unterstützt. Ich hätte nicht gedacht, dass das so leicht geht.
Du warst damals Chefredakteur der Lausitzer Rundschau und der Märkischen Oderzeitung, du hattest also einen verantwortungsvollen Führungsjob.
Ja, und mir war sehr wichtig, mit meinem Kollegen Claus Liesegang und dem Führungsteam zu bereden: Wie machen wir das in dem Jahr? Ich bin echt dankbar dafür, wie gut die sich alle darauf eingestellt haben. Denn für die anderen hat mein Sabbatjahr viel Umstellung und viel Arbeit bedeutet.
Hast du bei all den positiven Reaktionen auch gedacht, Mensch, da könnte doch mal jemand sagen: „Das darfst du nicht machen! Du fehlst doch hier!“?
Nein, denn ich hatte für mich schon entschieden: Ich will das machen. Viele haben mich aber gefragt: „Kannst du das überhaupt? Du arbeitest doch so viel und auch so gern!“ Da hab ich gesagt: „Na klar! Ich hab mir ja was für die Zeit überlegt!“ Einige haben das nicht geglaubt.
Warum?
Ich würde nicht sagen, dass ich ein Workaholic bin, aber ich habe halt seit Jahren viel gearbeitet, oft 60, 70 Stunden die Woche.
Konntest du dir vorstellen, wie es sein wird, davon runterzukommen?
Ehrlich gesagt: nee! Ich hatte keine Idee, wie das wohl wird, wenn es losgeht. Und wie es sich anfühlt.
Und? Wie hat es sich angefühlt?
Es war ein ganz neues Gefühl. Nicht unbedingt nur ein Durchatmen, muss ich gestehen. Es musste ja alles klappen. Ich musste so viele Dinge regeln wie: Bin ich richtig krankenversichert? Hab ich alles abgemeldet, was abzumelden ist? Klappt die Reise, die ich mir als Erstes vorgenommen habe? Klappt das Studienjahr? Das war ganz schön viel Stress. Ich bin am Anfang des Sabbatjahrs krank geworden, eine Gürtelrose. Das hat sich dann aber gegeben, als es richtig losging.
Hast du in den ersten Wochen Zweifel gehabt, ob das Ganze vielleicht doch eine schlechte Idee war?
Ich hab nicht am Sabbatical gezweifelt. Aber ich hab ein bisschen gezweifelt, ob ich mit meinen damals 53 Jahren noch fit genug bin, um aus meinem Studienjahr das rauszuziehen, was jemand rausziehen könnte, der jünger ist und mitten in seiner Karriere.
Wie lange hat es gedauert, bis es dir besser ging?
Knapp einen Monat. Dann begann mein Studienjahr.
Du hast an der City University of New York studiert, an der renommierten Craig Newmark Graduate School of Journalism, und das Executive Program in News Innovation and Leadership gemacht.
Genau. Es ging dort um innovative Möglichkeiten, Journalismus zu machen – und um Strategien und Businessmodelle, die dazu passen. Sehr empfehlenswert! Dieses Studienjahr war wirklich ein Glücksfall für mich: Ich wurde 2024 von der Stiftung Mercator finanziell gefördert – und von exzellenten Expertinnen und Experten der weltweit führenden wissenschaftlichen und journalistischen Einrichtungen unterrichtet. Ich hab wirklich davon profitiert, dass ich mich in diesem Studienjahr noch mal auf neue Dinge eingelassen habe.
Inwiefern?
Ich war ja in meiner Karriere mit Glück und auch mit Können ganz gut vorangekommen, war Chefredakteur von regionalen Medien, hatte einen guten Job. Im Studienjahr wurde mir bewusst, dass ich eine privilegierte Ausnahme bin. In meinem Jahrgang war ich als älterer weißer Mann aus Europa in der Minderheit und musste meine Rolle erst mal finden. Das war echt lehrreich.
Was hast du dadurch gelernt?
Dass es wichtig ist, sich zu öffnen für neue Ansätze. Ein Unternehmen, das nicht divers aufgestellt ist und die Gesellschaft nicht widerspiegelt in ihren Bedürfnissen, Milieus und Gruppen, wird es schwer haben, erfolgreich zu sein – gerade wenn es wie im Lokaljournalismus möglichst viele Menschen mit Produkten oder Medien erreichen will. Das hatte ich natürlich vorher schon gewusst, aber hier habe ich an konkreten Fallbeispielen aus verschiedenen Ländern gesehen, wie entscheidend das ist.
Und deine Zweifel, ob du zu alt bist zum Lernen?
Ich habe gelernt, dass es gut ist, sich zu sagen: Klar geht das! Mach es einfach! Du bist nie zu alt zum Lernen – manchmal vielleicht ein bisschen langsamer im Kopf, aber das ist nicht schlimm. Dann helfen dir die Jungen.
Was haben eure Kinder eigentlich zu eurem Sabbatjahr gesagt?
Am Anfang fanden die das ein bisschen merkwürdig und hippiemäßig, dass wir so eine Idee haben. Aber dann haben sie schnell verstanden, dass uns das wichtig ist. Und waren sehr aufgeschlossen für die Eindrücke und Ideen, die wir mitgebracht haben. Sie wollten daran teilhaben. Und wir haben in unserem Familien-Whatsapp-Chat dann auch reichlich geteilt. Was ihnen wichtig war: dass wir nicht total den Draht zu ihnen abbauen und zum Beispiel zusammen Weihnachten feiern.
Wolltet ihr das nicht?
Wir waren drauf und dran zu sagen: Da sind wir vielleicht weg. Wir wollten eben auch mal zusammen reisen in dem Jahr. Aber da haben unsere Kinder gesagt: „Nee, nee! Weihnachten ist Familie!“ Das haben wir dann auch gemacht.
Wie sah dein Alltag in dem Jahr aus? Du hast ja nicht nur das Studienjahr gemacht, sondern auch ein Buch geschrieben.
Ja, eines, das ich schon vorher angefangen hatte. Es heißt „Digitaler Erfolg im Lokaljournalismus“. Ich hatte immer gedacht: Das machst du mal so abends und am Wochenende neben dem Job her – aber es hat halt nicht gereicht. Ich brauchte Zeit zum Recherchieren und Schreiben und Diskutieren mit Kolleginnen und Kollegen. Jetzt hatte ich diese Zeit.
Wie viel Zeit hast du dafür gebraucht?
Das Buch hat ungefähr die Hälfte des Sabbatjahrs in Anspruch genommen – natürlich nicht in Vollzeit, das war ein großer Unterschied zu meinem Alltag vorher. Die Kernphase des Schreibens hat drei Monate gedauert und war sehr intensiv. Aber selbst da war es nicht so, dass ich nicht trotzdem hätte ausgehen können. Wir sind unheimlich viel im Theater und im Kino gewesen und haben in Cottbus ein großes Filmfestival rauf und runter gesehen. Da hab ich sonst vielleicht mal einen Film geguckt, diesmal waren es viel mehr. Das war echt super.
Und das Studienjahr?
Es gab drei Präsenzphasen in New York. Die übrigen Termine waren auf ein bis drei Tage in der Woche verteilt online: Vorlesungen, Seminare und ein Coaching. Manchmal war ich unterwegs, beispielsweise im April in Italien, und hab über den Laptop an einem Kurs teilgenommen. Das geht ja heutzutage Gottseidank von überall, wo Internet ist.
Was hast du in dem Studienjahr noch gelernt?
Wir haben viel über Strategien und moderne Führung gesprochen und über neue wertebasierte Formen des Journalismus. Über konstruktiven Journalismus und Modelle, um Zielgruppen richtig bedienen zu können. Das Jahr hat mir auch noch mal die Augen dafür geöffnet, wie ich arbeiten will: Ich mag strategisches Denken. Das konnte ich dort trainieren – und für meine neue Rolle in meinem Unternehmen passte das genau.
Seit Anfang August bist du Chief Transformation Officer eurer Mediengruppe. Hat sich diese Rolle im Laufe des Sabbatjahres rauskristallisiert?
Ja. Freundlicherweise hat die Geschäftsführung mich gefragt, wie ich künftig mit ihnen arbeiten will. Es ist toll, dass ich in meiner neuen Aufgabe das, was ich in New York gelernt habe, auch anwenden kann.
Deine neue Jobbezeichnung hört sich groß an.
Im Grunde ist mein Job, die digitale Transformation unserer Mediengruppe zu managen und die Geschwindigkeit dabei so zu halten, dass wir einerseits schnell genug vorankommen und andererseits die Mitarbeitenden gut mitnehmen. Ich bin super wieder aufgenommen worden. Bisher freuen sich alle, dass ich da bin – und ich sehe, dass ich helfen kann. Die Leute hier sind bereit für die digitale Transformation.
Einfach im alten Job weiterzumachen, wäre komisch gewesen, oder?
Ja, das wäre komisch gewesen – und auch nicht passend. Mein Kollege Claus Liesegang und sein Führungsteam bei der Lausitzer Rundschau und Märkischen Oderzeitung haben hart dafür gearbeitet, dass alles auch ohne mich funktioniert. Und es ist fair, wenn man es dabei dann auch belässt.
Wie viele Stunden pro Tag hast du im Sabbatjahr gearbeitet – fürs Buch, für die Uni, für die neue Rolle?
Meine Frau würde sagen: „Immer irgendwie.“ Nee, Quatsch – lass mich mal rechnen: Vielleicht halb so viel wie sonst. Das war schon ein Riesenfortschritt für mich.
Wie war das für dich: in dem Jahr so viel mehr Freizeit zu haben als vorher?
Super! Ich bin kein früher Vogel. Ich bin eine Eule. Ich arbeite abends, gerne auch lange. Da ist es super, wenn man nicht mit den Frühaufstehern, die gern frühe Termine ansetzen und dann schon super auf Zack sind, gleich morgens in Meetings sitzen muss. Wobei ich gemerkt habe: Man muss sich auch disziplinieren, wenn man ein Buch schreibt. Es geht nicht ohne Struktur. Aber ich konnte mir das natürlich freier einteilen.
Klingt schön.
Ja, es war wirklich schön, das operative Führen, das Managen, das Entscheiden mal beiseite zu schieben. Und zu sagen: Ich mach das hier jetzt für mich. Ich kann so richtig lange auf einer Sache rumdenken und sie noch mal wenden und mir ein verrücktes Buch dazu bestellen und da reingucken und denken: Oh, das ist ja noch abgefahrener, als ich dachte. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich habe gemerkt: So ein Jahr, das bringt einen schon anders drauf.
Inwiefern?
Ich hab sehr schätzen gelernt, dass ich diese, wie man so schön modern sagt, Me-Time hatte. Wir haben auch verrückte Sachen gemacht.
Erzähl mal!
Wir haben uns beide Gravel Bikes zugelegt, quasi Rennräder für ältere Menschen, und haben jetzt ein neues gemeinsames Sporthobby. Ohne dieses Sabbatjahr hätte ich wahrscheinlich nicht geschafft, mir die Zeit dafür zu nehmen. Für so eine Tour bist du ja schnell drei, vier Stunden unterwegs. Und ich hab Freunde besucht, die ich lange nicht gesehen hatte. Oft hab ich gedacht: Mist, die Zeit vergeht und du hast sie nie besucht. Warum eigentlich nicht? Ich habe auch mehr Zeit mit der Familie verbracht. Auch das kam vorher zu kurz.
Hatte deine Frau in der Zeit ein eigenes Projekt?
Sie ist promovierte Historikerin und hat unfassbare Mengen von Büchern verschlungen. Manche Reisen haben wir zusammen gemacht, manche jeder für sich. Und beide haben wir gemerkt: Ab der zweiten Hälfte rennt das Sabbatjahr nur so. Da hab ich oft gedacht: Boah, geht das schnell vorbei!
Hast du manchmal gedacht, ich häng noch ein Jahr dran?
Nein. Ein Sabbatjahr ist ja ein Privileg, das man sich auch leisten können muss. Und es war mir wichtig, dass wir nach dem einen Jahr wieder arbeiten, unseren Lebensunterhalt verdienen und vorsorgen. Außerdem wirkt das Jahr ja immer noch nach. Vielleicht ist es sogar inspirierend für andere, was ich gemacht habe. Das würde mich freuen. Unsere Personalleiterin hat mir vorher gesagt: „Das ist wichtig, dass du das machst. Wenn du als Führungskraft sagst, ich mach ein Sabbatical und gestalte das sinnvoll, dann bist du damit ein Vorbild.“ Ich habe versucht, Berufs- und Privatleben in dem Jahr so zu verbinden, dass auch andere was davon haben.
Wie hat dieses Jahr dich verändert?
Ich habe gemerkt: Es gibt mehr, als erfolgreich im beruflichen Alltag zu sein. Ich habe es sehr genossen, dass meine Frau und ich viel Zeit gemeinsam hatten. Vorher haben wir beide viel gearbeitet, waren viel unterwegs und haben drei Kinder großgezogen. Das war alles schön, aber die Zeit ist auch echt gerannt.
Jetzt war alles entschleunigt?
Ich finde, Entschleunigung ist ein komisches Wort, aber es hat sich alles ein bisschen verlangsamt, und das war gut. Ich habe mir vorgenommen, darauf zu achten, dass ich künftig Arbeit und Privatleben besser im Gleichgewicht halte.
Du klingst, als hättest du eine für dich perfekte Mischung gefunden in dem Jahr.
Absolut, ja. Im Januar hatte ich die Ehre, meiner eigenen Firma bei einem Workshop zur digitalen Transformation beratend zur Seite zu stehen. Bei dem Termin haben alle zu mir gesagt: „Ey, du siehst total entspannt aus.“ Daran habe ich gemerkt: Das Jahr hat was gemacht mit mir. Sonst bin ich eher einer, der ungeduldig ist, vorangeht und sagt: „Jetzt mal los!“ Das Sabbatjahr hat mich entspannt und ruhiger gemacht.
Glaubst du, dass du deine Wochen künftig kürzer hinkriegst?
Es wird auf jeden Fall wieder Arbeitswochen geben, die sehr intensiv sind. Ich glaube aber schon, dass ich Arbeit und Privatleben jetzt besser balancieren kann. Das hab ich mir jedenfalls fest vorgenommen. Kannst mich ja in einem Jahr nochmal fragen, ob’s geklappt hat.
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Andreas