Die großartige Musical-AG des Gymnasiums Lohne wagt sich in diesem Jahr an ein ganz besonderes Stück: „Carrie“, nach dem Horror-Bestseller von Stephen King. Jilan Artiklar (18) spielt darin eine der Hauptrollen. Im Interview hat mir die Zwölftklässlerin erzählt, wie sie sich auf der Bühne in einen anderen Menschen verwandelt – und welche Szenen in dem Drama sie besonders berühren.
Wie hast Du reagiert, als Du erfahren hast, dass Du die Rolle von Sue spielst?
Erst mal war ich schockiert.
Warum?
Weil es doch sehr unerwartet kam. Bei unserem Stück im vergangenen Jahr hatte ich ja eine kleine Ensemblerolle, da war das jetzt schon ein großer Sprung für mich – in eine so große Hauptrolle. Ich habe mich sehr geehrt gefühlt, dass unsere Leitung mir das zutraut.
Wie hast Du Dich auf die Rolle vorbereitet?
Zuerst habe ich gelesen, was über sie im Textheft steht. Da wird Sue total detailliert beschrieben. Ich wusste also danach, wie sie tickt, was sie macht und was sie nie machen würde. Und ich habe gleich gemerkt, ich mag meine Rolle richtig gerne. Weil ich viele Gemeinsamkeiten mit ihr habe.
Welche denn?
Sue ist eine gute Schülerin. Sie ist sehr fleißig, eher ruhig und total lieb. Im Unterricht hört sie eher der Lehrerin zu, als zu stören. Und sie will eigentlich niemanden verletzten – und hat auch sehr schnell ein schlechtes Gewissen, als Carrie von allen gemobbt wird.
In diesen Eigenschaften hast Du Dich wiedererkannt?
Ja, und dadurch ist es mir leichter gefallen, mich einzulassen auf die Rolle.
Wie machst Du das konkret: Dich auf diese Rolle einzulassen und auf der Bühne jemand anderes zu sein?
Ich versuche mich in Sue hineinzuversetzen. Ich versuche mir vorzustellen, wie jede Situation für sie ist und was sie da fühlt. Und dann versuche ich, nicht so zu reagieren, wie ich selbst reagieren würde – sondern so, wie Sue reagieren würde. Ich versuche, das eigene Ich komplett aus dem Weg zu schieben. Wenn ich zu den Proben komme, lege ich einen Schalter um und sage mir: Jetzt bin ich nicht mehr Jilan, jetzt bin ich Sue.
Gelingt Dir das immer?
Als wir mit den Proben angefangen haben, ist mir das schwergefallen. Ich musste da erst mal reinkommen. Manchmal habe ich immer noch wie ich selbst reagiert und dann gedacht: „Ach, nee, das war ja gar nicht Sue, was ich da gemacht habe. Das war ja ich!“ Von Woche zu Woche hatte ich es aber immer besser drin. Die Erfahrung, die wir durch die Proben sammeln, hilft mir sehr.
Was findest Du an Sue besonders auffällig?
Dass sie und Chris beste Freundinnen sind. Sie kennen sich schon von klein auf, aber sie sind komplette Gegenteile. Chris motiviert alle dazu, Carrie zu mobben. Sue findet das total blöd. Anfangs ist sie aber noch eine Mitläuferin und tut nichts dagegen.
Sie macht sogar mit beim Mobbing gegen Carrie.
Alle machen mit. Wenn Chris sagt „Carrie ist doof“, dann finden alle Carrie doof. Auch Sue. Sie will die Freundschaft zu Chris nicht riskieren. Aber dann fällt ihr irgendwann auf, dass es total fies ist, jemanden runterzumachen – und dass es bei Carrie auch gar keinen Grund dafür gibt. Sie merkt, dass Carrie ja gar nichts dafür kann, dass sie nichts darüber weiß, wie es ist, seine Tage zu haben.
Sie ist von ihrer Mutter, einer religiösen Fanatikerin, nie aufgeklärt worden. Als sie eines Tages nach dem Sport unter der Dusche bemerkt, dass ihre Hände voller Blut sind, weiß sie nicht, dass das ihre erste Menstruation ist.
Und wir lachen sie aus und bewerfen sie mit Tampons. Auch ich. Das ist die extremste Szene, da sind wir wirklich total im Mobbing-Modus.
Wie fühlst Du Dich, wenn Du so eine fiese Szene spielst?
Als wir die Szene zum ersten Mal geprobt haben, dachte ich mir: Wow, das ist echt ein krasses Musical! Es war total komisch, das zu spielen, weil ich sowas ja selber auf gar keinen Fall machen würde. Ich sehe auch gar keinen Sinn dahinter, sowas Fieses zu tun. Als ich bei diesem Mobbing auf der Bühne mitgemacht habe, ist mir klargeworden, wie extrem das ist: Wir spielen Kinder, die ein Kind einfach nur deswegen mobben, weil es anders ist. Und so was gibt es ja auch wirklich in unserer Gesellschaft: dass Menschen gemobbt werden, nur weil sie anders sind. Ganz schön krass.
Wie ist das für Dich: in dieser Rolle etwas zu tun, was Du im normalen Leben nie tun würdest?
Ich muss ehrlich sagen: Ich bin sehr froh, dass Sue die Einzige ist, die dann doch noch ein schlechtes Gewissen bekommt. Das muss ich nicht spielen. Denn ich selbst habe wirklich ein schlechtes Gewissen gegenüber Carrie.
In welcher Szene ist Sue Dir am nächsten?
Es gibt eine Szene, in der sich Sue bei Carrie entschuldigt für all das Mobbing, das passiert ist. Sie bereut das total. In der Szene ist sie mir sehr nah. Und wenn ich die Szene spiele, tut es mir auch wirklich leid. Da bin ich total in meiner Rolle und fühle genau wie Sue.
Was verändert es für Dich, wenn Du auf der Bühne in eine Rolle schlüpfst?
Mir hilft das ein bisschen, aus der Realität zu flüchten und von dem normalen Alltagsstress wegzukommen. Wenn ich auf der Bühne stehe, dann denke ich nicht mehr: „Oh nein, ich schreibe nächste Woche eine Klausur, ich muss dafür noch lernen.“ Sondern ich bin wirklich total hier und fokussiere mich auf meine Rolle.
Spielst Du im normalen Leben auch manchmal eine Rolle?
Nie so extrem wie beim Musical. Klar, in der Schule versuche ich, den Erwartungen der Lehrer gerecht zu werden. Und wenn ich mit meiner Fußball-Mannschaft von BW Lohne auf dem Platz stehe, fokussiere ich mich total aufs Fußballspielen und versuche, gut mit meinen Mitspielerinnen zusammenzuspielen und das umzusetzen, was unser Trainer uns sagt. Aber der Unterschied ist: Beim Fußball und in der Schule bin ich immer noch ich selber. Beim Musical bin ich ein komplett anderer Mensch.
Die Rolle der Sue ist dreifach besetzt. Wie ist es für Dich, die anderen Schauspielerinnen in Deiner Rolle zu sehen?
Ein bisschen ungewohnt und irgendwie komisch. Jede von uns dreien spielt die Rolle anders. Wenn ich den anderen in der Probe zugucke, sitze ich da und denke oft: Ich hätte das jetzt anders gespielt, aber so passt es auch.
Hast Du Dir von den anderen was abgeguckt?
Ja. Ich war am Anfang nämlich sehr unsicher. Ich wusste nicht genau, wie ich manche Szenen spielen soll. Ich konnte fühlen, was Sue fühlt. Aber ich wusste nicht, wie ich das rüberbringen soll. Also habe ich geguckt, wie das die anderen machen – und wenn es mir gefallen hat, habe ich es übernommen.
Was zum Beispiel?
In einer Szene tanzt Sue zum Beispiel mit ihrem Freund Tommy. Danach steht sie allein auf der Bühne. Ich wusste nie genau, was ich da machen soll. Und dann hat eine der anderen Sue-Schauspielerinnen total verliebt geguckt und sich die Hände so gehalten. Das fand ich toll. Also hab ich das auch gemacht. Es hat sich gut angefühlt. Ich wusste: Das hat bei ihr gewirkt, dann wirkt es bei mir bestimmt auch.
Im vergangenen Jahr habt Ihr ein total anderes Stück gespielt: „Bring it on“ – ein witziges, gut gelauntes High-School-Musical.
Ja, da ist „Carrie“ jetzt echt ein krasser Kontrast. Das merkt man auch bei den Proben. Wenn wir die letzte Szene proben. Ich weiß nicht, ob ich das jetzt spoilern darf …
… darfst Du. Kann ja eh jeder im Internet nachlesen …
… okay, also wenn wir die letzte Szene proben, dann ist die Stimmung schon komplett angespannt. Alle sind darauf fokussiert, wirklich rüberzubringen, dass in diesem Moment alle leiden und dann fast alle sterben. Wenn ich weiß, gleich proben wir diese Szene, habe ich immer ein blödes Gefühl, so ein Unwohlsein. Weil es so traurig ist. Sowas haben wir bei „Bring it on“ überhaupt nicht gehabt. Da sind zwei Tanzgruppen gegeneinander angetreten, das Publikum hat viel gelacht, dann hat irgendjemand den Pokal gewonnen, und am Ende war alles gut.
Wie war es, Dich in die Rolle als Tänzerin reinzudenken?
Ziemlich leicht. Weil sie gut zu mir passt. Ich bin ein fröhlicher Mensch. Ich mag es, zu tanzen und fröhlich zu sein. Und ich musste nicht darüber nachdenken, ob ich gerade lachen oder glücklich gucken darf. Wenn ich bei Carrie im falschen Moment lache und nicht in der Rolle bin, verliere ich total die Spannung. Das merkt das Publikum dann auch. Aber mit der Zeit habe ich gelernt: Ich darf nicht lachen. Also lache ich auch nicht.
Ihr habt mit Eurem Stück viele Auftritte – vor jeweils 600 Zuschauern. Was bringt Dir das fürs normale Leben, auf so einer Bühne eine Rolle zu spielen?
Das hilft mir sehr. Am Anfang war ich unsicher und wollte selber gar nicht glauben, dass ich überhaupt singen kann. Aber dann habe ich das geübt, habe mich auf die Bühne gestellt, Applaus gekriegt und gemerkt: Eigentlich kann ich das doch wohl ganz gut. Ich glaube, ich wäre ein viel schüchternerer Mensch, wenn ich nicht in der Musical-AG wäre. Vor 600 Leuten zu singen, das härtet ab. Außerdem weiß ich jetzt: Bei einem Musical kommt es nicht darauf an, dass man jeden Ton trifft. Es kommt darauf an, dass man die Message richtig rüberbringt.
Was ist für Dich die Message bei „Carrie“?
Dass Mobbing nicht gut ist. Dass es krasse Auswirkungen auf Menschen haben kann. Und dass man nicht immer das machen sollte, was andere machen. Dass man sich also ein Beispiel an Sue nehmen sollte.
Am Ende ist sie die Einzige, die gegen den Strom schwimmt und Carrie nicht mehr mobbt …
… und wenn alle anderen Carrie auch nicht gemobbt hätten, dann wäre es gar nicht zu diesem furchtbaren Ende gekommen.
Beim Abschlussball wird ein Eimer mit Schweineblut über Carrie ausgekippt.
Ja, und das löst bei ihr etwas aus, das sie nicht mehr kontrollieren kann. Sie ist in diesem Moment total überfordert und verliert die Kontrolle über sich – und sie bringt mit ihren telekinetischen Kräften, teilweise unabsichtlich, alle um.
Sue ist die Einzige, die überlebt – weil sie erst später zum Ball kommt.
Ja, und im letzten Lied hat sie eine Solostelle. Da kommt’s nicht darauf an, dass ich alle Töne richtig treffe. Sondern es kommt darauf an, dass ich rüberbringe: Ich habe gerade alle meine Freunde verloren, auch Carrie ist tot, und ich bin total traurig.
Wie ist es für Dich, diese Szene zu singen und zu spielen?
Ich glaube, es wird schwer für mich sein, da nicht in echt anzufangen zu weinen. Aber wenn es passiert, fände ich das auch gar nicht schlimm. Ich fände es sogar gut, wenn ich da meinen echten Gefühlen freien Lauf lasse. Weil es ja zu der Szene passt.
Da hilft es dann wieder, dass Sue und Du so viel gemeinsam haben.
Genau. Sue reagiert auf Carries Tod genauso, wie ich auch reagieren würde, wenn jemand in meinem Arm stirbt. Da würde ich garantiert auch anfangen zu weinen.
So, liebe Leute, drei Bitten habe ich jetzt noch.
Die erste: Empfehlt dieses Interview weiter! Teilt es auf Instagram, in Eurem Whatsapp-Status und auf Facebook. Geht ganz einfach – mit diesem Link:
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Die dritte: Lasst Euch Carrie nicht entgehen! Premiere ist am 10. Juni, Karten gibt’s hier.
Bis zum nächsten Mal: alles Gute!
Andreas