In jüngster Zeit geistert er immer wieder mal durch die Schlagzeilen, der Begriff, der so verheißungsvoll klingt: freedom day. Ein Tag der Freiheit – wäre das nicht schön? Ein Tag, an dem alle Einschränkungen der Corona-Zeit ein Ende haben: Maske, Abstand, alles. Brauchen wir so einen Tag nicht in Deutschland, am besten jetzt sofort?
Kurz gesagt: Nö, noch nicht. Spannend ist die Debatte um den freedom day trotzdem. Weil sie Fragen berührt, die in unserer Gesellschaft immer wichtiger werden: Was kann, was sollte Freiheit heute bedeuten? Wo beginnt und wo endet sie? Und welche Risiken und Nebenwirkungen sind wir bereit, für die Freiheit in Kauf zu nehmen?
Die Zwänge und die Chancen
Wenn etwa den Krankenhäusern durch Corona kein Überlastungsproblem mehr droht: Wollen wir dann weiter Maskenpflicht und Abstandsregeln für alle? Oder akzeptieren wir, dass Impfgegner sich die Freiheit herausnehmen, schwer zu erkranken und vielleicht zu sterben? Können wir es aushalten, dass es so unterschiedliche Auffassungen von Freiheit in der Gesellschaft gibt – oder wollen wir lieber, dass alle sie so sehen wie wir?
Mal ehrlich: Vor der Pandemie haben wir über Freiheitsfragen doch kaum nachgedacht. Längst hatten wir uns daran gewöhnt, dass unsere Freiheit grenzenlos ist. Und dass alles geht, jederzeit – dem Wohlstand sei Dank. Unsere Freiheit war eine Freiheit von etwas, wie die Philosophen sagen. Also: eine Freiheit von Zwängen, von Einschränkungen durch den Staat oder die Gesellschaft. Wir waren niemandem Rechenschaft schuldig außer uns selbst.
Dann aber kam Corona, und wir erlebten, dass es mit dieser Art Freiheit von heute auf morgen vorbei sein kann. Welchen Zwängen wir da plötzlich unterworfen waren! Was wir da alles nicht mehr durften! Die Alten im Seniorenheim besuchen. Die Kinder in die Schule schicken. Die Nachbarn zum Bier einladen. Und ohne Maske Zug fahren. Unsere individuelle Freiheit hatte nun enge Grenzen – weil die Freiheit der anderen in Gefahr war.
Das Gute im Schlechten
Das war ungewohnt und anstrengend, klar. Aber es war auch eine Chance. Und diese Chance war, dass wir zwar die Freiheit von etwas verloren – aber gerade dadurch die Freiheit zu etwas neu entdeckten. Die Freiheit mitzudenken, mitzuhelfen, mitzugestalten. Verantwortung zu übernehmen. Und etwas Gutes aus der schlechten Situation zu machen.
Wie kreativ wir da wurden – und wie solidarisch! Was da plötzlich alles ging! Die einen haben die Oma von nebenan gefragt, ob sie für sie einkaufen sollen. Die anderen haben extra beim lokalen Buchladen statt bei Amazon bestellt, damit er die Krise übersteht. Fast alle sind freiwillig zu Hause geblieben, um die Risikogruppen zu schützen. Und siehe da: Es hat funktioniert. Wie gut tat es zu spüren, was wir zusammen bewegen können! Waren wir da nicht auch stolz?
Was wir in der Pandemie über Freiheit gelernt haben, wird uns noch helfen. Vielleicht sehen wir sie irgendwann mal als eine Art Trainingscamp für das, was danach gekommen ist. Beim nächsten großen Thema jedenfalls, bei der Klimakrise, geht es um exakt die gleichen Freiheitsfragen.
Münster statt Mallorca
Unsere Freiheit von etwas steht infrage. Wir werden, damit die Krise nicht eskaliert, unseren Lebensstil radikal ändern müssen. Heißt das, dass die Supermarkt-Erdbeeren im Dezember jetzt tabu sind? Dass der Wochenendtrip mit der Clique nach Mallorca ausfallen muss? Dass die Klamotten, mit einem Klick bestellt, jetzt nicht mehr gehen? Dass wir also unsere individuellen Wünsche, frei von Einschränkungen, nicht mehr ausleben dürfen wie bisher?
Wenn wir es wieder machen wie in der Corona-Zeit, tun diese Fragen vielleicht gar nicht so weh. Denn wir können den Verlust der Freiheit von etwas wieder nutzen, um die Freiheit zu etwas neu zu entdecken. Die Freiheit dazu, uns rücksichts- und verantwortungsvoll zu verhalten – und zu entscheiden, unseren Teil zur Linderung der Klimakrise beizutragen. Im Dezember können wir uns für die Äpfel aus der Region entscheiden, die eh saftiger schmecken als die Erdbeeren vom anderen Ende der Welt. Fürs Wochenende können wir Münster buchen, da gibt‘s vielleicht sogar coolere Kneipen als auf Mallorca. Und die Klamotten kaufen wir auch mal secondhand.
Könnte sie sich gut anfühlen, diese bewusst gelebte Solidarität? Diese Entscheidung, freiwillig auf etwas zu verzichten, damit auch unsere Kinder und Enkel noch eine lebenswerte Welt haben? Und wie sehr muss der Staat der Freiheit der Einzelnen Grenzen setzen, wenn sie sich zu viel herausnehmen – was die Freiheit vieler bedroht?
Die Freiheit, die uns niemand nimmt
Das Bundesverfassungsgericht hat der Politik jedenfalls schon mal klargemacht, dass es nicht weitergeht wie bisher. Es hat in einem bemerkenswerten Urteil klargestellt, dass das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung in Teilen verfassungswidrig ist. Kernargument: Weil die Politik heute unsere Freiheiten zu wenig einschränkt, wird die Freiheit zukünftiger Generationen zu viel eingeschränkt.
Dieses Urteil lässt erahnen: Die Freiheitsfrage wird bleiben, in unserer sich rasend verändernden Welt. In allen großen Debatten, die noch kommen, wird immer wieder neu verhandelt werden müssen, wieviel Freiheit gerade möglich ist – oder auch nicht. Das Gute ist: Wir können selbst entscheiden, konstruktiv damit umzugehen, wenn unser Leben wieder mal plötzlich kopfsteht. Wir haben immer die Wahl, nicht dem Alten nachzutrauern, sondern das Neue als Chance zu sehen. Diese Freiheit nimmt uns niemand.
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Andreas