„Ich will den Menschen die Augen öffnen“
Willi Rolfes erzählt, was er mit seiner Naturfotografie verändern möchte
Willi Rolfes (58) aus Vechta ist einer der renommiertesten Naturfotografen Deutschlands. Im Interview hat er mir erzählt, wie sich durch seine Arbeit seine Einstellung zur Natur verändert hat – und was er bei anderen Menschen durch seine Fotos bewirken will.
Du bist seit vielen Jahren Naturfotograf. Was hast Du in all der Zeit gelernt?
Ich habe schnell gespürt, wie wichtig es ist, früh aufzustehen, an den Wendezeiten des Tages und des Jahres unterwegs zu sein, Kälte zu spüren, Wärme zu spüren, die Natur unmittelbar zu erleben, allein zu sein. Und dann: zu warten, zu warten, zu warten. Langeweile auszuhalten, wenn nichts passiert und der Fuchs, den ich fotografieren möchte, einfach nicht kommen will.
Was verändert es, diese Langeweile auszuhalten?
Wenn ich losziehe, habe ich oft tausend Ideen, mein Kopf ist wie ein Zettel voller Notizen. Die Langeweile hilft mir, den Zettel weiß zu bekommen. Und weiße Zettel sind für mich Ausgangspunkt für Ideen. Weiße Zettel kriegen, das ist unheimlich kreativ.
Was hast Du noch durch die Fotografie gelernt?
Dass meine Bilder nicht gut werden, wenn ich alles Mögliche will. Dass ich mich komplett beschränken muss auf etwas. Das zu verstehen, war ein schmerzlicher Prozess, weil ich eigentlich immer anders gedacht und empfunden hatte.
Warum ist die Beschränkung wichtig für Dich?
Wenn ich alles gleichzeitig will, schaffe ich nichts. Wenn ich morgens, mittags und abends fotografieren will, Blumen, Rotkehlchen und Birken, wenn ich gehetzt aus dem Alltag in die Naturfotografie gehe, dann gelingt mir gar nichts. Ich konzentriere mich auf eine Sache, und zwar ziemlich lange.
Zum Beispiel auf was?
Auf eine Art. Im Frühling habe ich mir den Aurora-Falter vorgenommen. Das ist ein ganz früher Schmetterling, der lebt auf dem Wiesenschaumkraut. Natürlich hätte ich Ende April so viel mehr Motive fotografieren können. Ich hatte hunderte Möglichkeiten. Aber wenn ich alles probiert hätte, wäre ich am Ende unzufrieden gewesen. Ich muss eine Sache wirklich durchfotografieren und verstehen. Ich muss von ihr auch etwas lernen. Erst das gibt ein wirklich gutes Bild. Und mich interessieren heute nur noch wirklich gute Bilder.
Kannst Du am Beispiel des Aurora-Falters erklären, wie das konkret geht: dass Du Dich total auf etwas konzentrierst und es verstehst?
Zuallererst suche ich mir einen Platz, wo dieser Aurora-Falter lebt. Das heißt, beim Fotografieren lerne ich immer auch etwas über die Natur. Und ich staune. Und ich lasse mich immer wieder überraschen.
Wo hast Du den Aurora-Falter gefunden?
Ich habe mir zwei, drei Stellen hier bei uns in Vechta am Moorbach gesucht, nah bei unserem Haus. Da bin ich sehr oft hingegangen. In der Wiederholung liegt der Erfolg.
Warum?
Die wenigsten Bilder werden beim ersten Mal richtig gut. Ich versuche, eine Beziehung zu dem Aurora-Falter zu bekommen. An einem Abend habe ich gesehen, wie Aurora-Falter an einem Wiesenschaumkraut wunderschön schlafen. Abends setzen die sich hin, und da sitzen sie auch noch am anderen Morgen. Dann sind sie mit Tautropfen belegt und haben eine wunderbare Frische und Schönheit. Das Foto bereite ich also am Abend vor, indem ich mich schon mal einsehe. Am anderen Morgen habe ich dann eine Vorstellung, wie das Licht sein kann, wie es changiert, wie ein schöner Hintergrund entsteht. Ich versuche, so eine Situation mit immer neuen Ideen aufzuladen.
Woher wusstest Du, wie früh Du morgens da sein musst?
Das ist Erfahrungssache. Man muss sich auf die Situation einstellen, die besten Bedingungen schaffen – und dann gelassen schauen, was passiert. Das ist auch so eine Erkenntnis: Man kann das Glück nicht zwingen. Man kann es nur einladen. Man kann mit Fleiß und Wissen die Situation gut eingrenzen. Und den Rest, diese Haltung habe ich mir angewöhnt, muss man sich dann schenken lassen. Wenn man nur auf das Ergebnis fokussiert ist, wird man skrupellos oder unachtsam oder will es erzwingen. Das ist nicht mein Weg.
Was heißt diese Haltung ganz praktisch?
Wenn etwas nicht funktioniert, akzeptiere ich das. Wenn der Falter plötzlich wegfliegt. Oder nicht in schönem Licht hängt. Ich könnte dann ja die Pflanze abschneiden und woanders hinpflanzen. Oder ich könnte mit irgendwelchen Taschenlampen da rumfummeln. Oder ein Tier erschrecken. Oder irgendwas arrangieren. Aber das verbiete ich mir. Die Zeiten habe ich hinter mir. Das gibt mir nichts mehr.
Hast Du diese Gelassenheit lernen müssen?
Ja, die habe ich lernen müssen. Das ist sicherlich auch ein Teil der Veränderung, die ich als Fotograf durchgemacht habe: dass ich erfahren habe, es geht auch anders. Eine gewisse Altersmilde spielt sicherlich auch eine Rolle. Wenn ich heute merke, eine Aufnahme ist erzwungen oder ich habe da keinen guten Gedanken dran, dann bedeutet sie mir nichts. Dann will ich sie mir gar nicht erst angucken.
Hast Du, wenn Du ein Bild siehst, noch im Kopf, wie es entstanden ist?
Meine Frau sagt immer: „Dich könnten sie zu „Wetten, dass …?“ schicken.“ Ich weiß von sehr, sehr vielen tausend Bildern noch, wann, wo und wie sie entstanden sind. Meine Fotos entstehen ja nicht so, dass ich irgendwie spazieren gehe und gucke, was passiert. Sondern ich habe eine Idee und verfolge sie. Und arbeite daran.
Wie funktioniert diese Arbeit?
Ich habe vor kurzem beispielsweise ein Landschaftsporträt der Hunte gemacht. Erst einmal habe ich viel über sie gelesen und mich geologisch informiert. Ich habe die Hunte erwandert, ich bin darauf mit dem Kanu gefahren, ich bin mit der Drohne rübergeflogen und mit dem Flugzeug. Ich habe die Hunte komplett mit dem Fahrrad abgefahren. Ich habe hinter jeden Busch geguckt. Je mehr ich mich mit etwas befasse, umso interessanter ist es für mich. Je näher ich der Hunte gekommen bin, desto mehr hat sich mein Verhältnis zu ihr verändert. Und Andreas Kathe …
… der Journalist, mit dem zusammen Du das Buch über die Hunte gemacht hast …
… hat noch ganz viele kulturhistorische Fragen eingebracht: Wieso gibt’s da Rieselwiesen? Wieso heißen die so? Was war eine Rieselwirtschaft? Hab ich vorher alles nicht gewusst. Aber plötzlich, wenn ich das weiß, kann ich in der Landschaft lesen. Und erst dann kann ich sie auch fotografieren. Weil sie dann eine Bedeutung für mich hat.
Warum verändert dieses Wissen Deine Fotografie?
Weil sie dann eben nicht ein Zufallsprodukt ist. Ich arbeite mit Konzepten. Ich frage mich, was das Bild transportieren soll. Ich habe eine Idee für das Bild. Und ich möchte ein bestimmtes Gefühl, eine gewisse Stimmung, die ich empfinde, in dem Bild verdichten.
Warum ist Dir das wichtig?
Vor ein paar Jahren habe ich beschlossen, beim Fotografieren ab jetzt an Projekten zu arbeiten – bei denen am Ende meistens ein Buch steht. Ich will nicht mehr heute hier und morgen da sein und am Ende viele bunte Bilder haben und aber gar nicht wissen, was ich damit tun soll. Ich will auch nicht das tollste Bild haben und irgendwelche Wettbewerbe gewinnen. Die Zeiten gab’s auch mal …
… ja?
Ja, früher hatte ich weniger Zeit, weniger Geld, weniger Möglichkeiten. Ich hatte nicht die Reife, die Erfahrung und den Horizont, so in Konzepten zu denken, wie ich das heute, nach 40 Jahren kann. Außerdem war es früher ja viel teurer, ein gutes Bild zu bekommen. Wenn ich damals Kraniche fotografiert habe, habe ich hundert Filme mitgenommen und hatte hinterher für Filme und Entwicklung 3000 D-Mark investiert. Wir hatten Kinder, wir hatten ein Haus gebaut, da musste auch Geld reinkommen. Heute, mit der digitalen Technik, fotografiere ich an einem Abend einen Steinkauz und habe am Ende 800 Bilder gemacht. Kostet nix! Aber mir geben Leistungsshows und Wettbewerbe auch nichts mehr. Das ist nicht mehr meine Welt. Ich will nicht der Schnellste, Größte, Beste sein. Ich möchte Naturverständnis vermitteln.
Was meinst Du damit?
Ein dänischer Fotograf hat mal gesagt: „Ich möchte mich gemein machen mit meinem Subjekt. Ich bin Anwalt dessen, was ich fotografiere.“ Das finde ich eine sehr sympathische Perspektive. Ich möchte die Naturräume meiner Heimat porträtieren. Das ist mein heimlicher Antrieb: Ich möchte in einer Zeit, in der sich unsere Landschaft und unsere Einstellung zur Natur rasant wandelt, zeigen, wie es um die Natur bestellt ist und welche Argumente es gibt, sie zu erhalten.
Was genau wollt Ihr mit den Büchern erreichen?
Andreas Kathe und ich, wir wollen, dass die Leute sagen: „Auf diese Natur in meiner Heimat bin ich stolz.“ Wir halten viele Vorträge über unsere Bücher. Wir wollen das Naturerbe unserer Region ins Bewusstsein heben: das Moor, die Hunte, den Dümmer. Wir wollen dafür werben, Informationen und Wissen vermitteln. Ich glaube, unser Plan funktioniert.
Woran merkst Du das?
Vor allem daran, wie die Leute bei unseren Vorträgen staunen. Viele wussten vorher gar nicht, was es alles in unserer Region gibt. Und welche Bedeutung Moore als CO2-Speicher und für den Artenschutz haben. Früher war das Moor der Inbegriff von Armut. Davon wollte man weg, dem musste man entrinnen. Wenn wir heute das Moor als Naturerbe verkaufen wollen, müssen wir die Menschen erstmal dafür gewinnen. Das Naturerbe ist ein Erbe, das uns unverdient zufällt. Wir leben davon. Unser Projekt soll anregen zu fragen: Wie können wir verantwortlich damit umgehen? Was soll davon bleiben für die nächste Generation?
Was tragen Deine Bilder dazu bei, dass sich in den Köpfen der Leute zu diesen Fragen etwas verändert?
Ich merke das in den Gesprächen nach meinen Vorträgen. Die Leute sagen: „So ein Eisvogel bei uns? Das ist ja unglaublich! Da fahre ich direkt hin, das muss ich mir ansehen. Ich dachte immer, der lebt in den Tropen!“ Ich will den Menschen die Augen öffnen für die vielen kleinen Wunder, die unsere Moore bereithalten. Und ich merke: Bilder sind mächtige Botschaften. Die gehen direkt rein ins Bewusstsein. Wenn die Leute so staunen, sind sie auch bereit, sich auf schwierige Fragen einzulassen.
Staunst Du auch selbst manchmal über das, was Du in der Natur unserer Region entdeckst?
Na klar! In den vergangenen zwei Jahren habe ich intensiv an den Ahlhorner Fischteichen fotografiert. Und war überrascht, wie unheimlich vielfältig der Landschaftsraum da ist.
Was genau hat Dich überrascht?
Welche ungeheure Vielfalt an Vögeln, Amphibien, Libellen, Pflanzen es dort gibt und welch unterschiedliche Landschaftsräume, das hätte ich nicht für möglich gehalten: Teiche, Waldformen, Moore, Übergangsmoore, Erlenbrüche, Sumpflandschaften, Auenlandschaften und Unter-Wasserwelten – fantastisch! Da gibt es riesige Lachse, hier bei uns im Landkreis, und das weiß niemand! Als ich davon gehört habe, habe ich enorm gestaunt. Und mir gleich eine Unter-Wasser-Kamera gekauft und gesagt: Ich will die fotografieren!
Wie hat sich Dein Verhältnis zur Natur dadurch verändert, dass Du ihr so nahekommst?
Ich merke: Je länger ich mit einer Sache umgehe, desto vertrauter bin ich damit. Meine Motive sind dann keine Objekte mehr, sondern Subjekte. Ich habe eine Beziehung zu ihnen, ich habe Respekt vor ihnen. Sie bedeuten mir etwas. Ich bilde mir ein, den einen oder anderen Zusammenhang zu sehen. Das macht mich sehr froh. Es hat mir auch meine Heimat noch viel, viel nähergebracht. Ich bekomme dadurch einen anderen Blick, ein anderes Verhältnis.
Woran merkst Du das?
Wenn ich ins Moor gehe und es rieche, dann geht’s mir richtig gut. Das ist für mich Heimat, Vertrautheit, Wildheit. Das hat was Verheißungsvolles: Wenn ich morgens die feuchte Moorluft atme, dann weiß ich, das gibt ein gutes Bild. Was mir auch immer richtig Freude macht, ist Rehwild. Rehböcke finde ich faszinierend, weil die sowas Heimliches haben. Und ich mag Libellen.
Warum?
Die gibt es schon seit 250.000 Jahren auf dieser Welt, viel länger als uns Menschen. Die waren gleich am Anfang ziemlich endkonstruiert, und da denke ich mir: Ja, wer sind wir denn?
Du hast vorhin gesagt, fotografisch reizvoll seien für Dich die Wendezeiten. Warum?
Weil Wendezeiten Zeiten der Veränderung sind. Der Übergang von der Nacht zum Tag oder vom Tag zur Nacht: Da ändert sich das Licht, da steht die Sonne am flachsten, da haben die Motive die größte Plastizität. Da kommen Aspekte mit rein wie Nebel, Schatten, Frische durch Tau. Am Abend ist ganz langes, warmes Licht da, und man spürt bei den Tieren, dass sie den Tag ausklingen lassen. Sie sind einfach relaxter. Geht uns ja ähnlich. Mit den Wendezeiten des Jahres ist es genauso.
Inwiefern?
Ende April, Anfang Mai ist die Wendezeit vom Winter in die Fülle hinein, alles blüht, alles singt, die Stimmung steigt, Zugvögel kommen durch, jeden Tag schlüpft und brütet und fiept irgendwas. Es ist ein Farbrausch in der Natur. Das ist total spannend. Den Herbst finde ich auch toll: diese Zeit der Reife. Jetzt als älterer Mensch komme ich da auch über mich selbst ins Nachdenken. Ich frage mich: Wo stehst denn Du im Jahr? Ich würde mal sagen: im Oktober.
Ach, komm …
… naja, ist doch so, muss man doch ehrlich sagen, ich bin jetzt schließlich 58! Und ich finde das auch nicht schlimm. Ich finde diese Wendezeiten wirklich toll. Der Sommer ist dagegen langweilig. Da ist alles zu glatt, zu sonnig, zu hart im Schatten. Und wenn man die erste Stunde des Tages zum Fotografieren haben will, muss man um drei Uhr aufstehen, damit man um vier Uhr irgendwo ist. Das ist nicht sehr alltagskompatibel.
So, liebe Leute: Zwei Bitten habe ich jetzt noch.
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Mein nächster Text über Veränderung kommt in zwei Wochen.
Bis dahin: alles Gute!
Andreas