Kürzlich war ich mit Freunden mal wieder bei einem Konzert in der Lohner Kleinkunstbühne Chamäleon. Yvonne Louise aus Osnabrück sang und spielte mit ihrer Band zauberhafte Songs. Zwischendurch erzählte sie, dass sie gerade ihren Job als verbeamtete Lehrerin gekündigt hat, um sich ganz der Karriere als Singer&Songwriterin zu widmen. Krasser Schritt, dachte ich. Und habe sie gefragt, warum sie diese Veränderung gewagt hat.
Wann hast Du angefangen, über diesen Schritt nachzudenken: nicht mehr Lehrerin zu sein, nur noch Musikerin?
Ich habe es immer schon geliebt, Musik zu machen. Es war mir früh klar, dass das mein Weg ist. Wenn es nur nach mir gegangen wäre, hätte ich nach dem Abitur eine Musical-Ausbildung gemacht. Aber meine Eltern haben mir nahegelegt, Lehrerin zu werden.
Du hast Dich überreden lassen?
Ja, ich habe gedacht: Okay, dann studiere ich jetzt erst mal Lehramt und gucke, wie’s weitergeht. Also habe ich studiert, Musik und Deutsch, dann kam das Referendariat, alles lief einwandfrei, die Schule hat mich direkt übernommen. Das war natürlich erst mal cool. Ich hatte einen festen Job, ich wurde schnell verbeamtet.
Klingt gut.
Das stimmt. Ich dachte: Vielleicht ist das Dein Weg – dass Du hauptberuflich Lehrerin bist und nebenberuflich Deine Musik machst. Das war ja auch komfortabel – weil ich beim Musikmachen nie aufs Geld angewiesen war und einfach das machen konnte, wonach mir gerade war. Viele Jahre ging das gut so.
Und dann?
Vor fünf, sechs Jahren merkte ich, dass sich in der Schule alles nur noch wiederholt: der Jahreszyklus von Sommerferien bis zu Sommerferien, die Dienstversammlungen, die Fächer, die Unterrichtsthemen – immer dasselbe. Ich hatte das Gefühl, dass ich in diesem starren System an meine Grenze komme und mich nicht mehr weiterentwickeln kann. Wenn ich mit neuen Ideen kam, wurde das häufig beiseitegeschoben. Und wenn ich engagiert war, wurde das häufig ausgenutzt. Ich fühlte mich ausgebrannt. Ich hatte den Eindruck, der Job als Lehrerin saugt mir die ganze Energie aus.
Das hört sich nach viel Frust an.
Ich habe immer mehr gespürt, dass es einfach meiner Natur widersprach, weiter Lehrerin zu sein. Wenn man in einer Situation so unglücklich ist, sieht man halt auch nur noch Fehler. Das muss gar nicht immer die Wahrheit sein. Aber für mich selber hat sich die Situation so zugespitzt, dass ich gedacht habe: Ich möchte das nicht die nächsten 25 Jahre machen, ohne nicht wenigstens vorher ausprobiert zu haben, meinen eigenen Weg zu gehen.
Also hast Du einfach so gekündigt?
Nein, das habe ich mich da noch längst nicht getraut. Ich bin ja alleinerziehende Mutter und habe keinen Partner, der für mich finanziell einstehen könnte. Da ist so eine Kündigung noch mal ein größerer Schritt als sowieso schon.
Absolut, ja.
Und so habe ich den Gedanken an die Kündigung erst mal beiseitegeschoben, meine Stelle ein bisschen reduziert und versucht, einen Kompromiss zu finden zwischen Schule und Musik.
Und dann?
Dann hat die Corona-Zeit mich in meinem Veränderungswünsch sehr bestärkt. Auf einmal war ich mehrere Monate nicht mehr in der Schule – und habe gemerkt, wie ich aufblühe und wieviel mehr Energie ich bekomme, weil ich alles viel mehr nach meinem Rhythmus machen kann und nicht in dieses ganze Schulsystem gezwängt bin. Ich war da viel freier. Das war voll meins.
Was hast Du mit dieser Erkenntnis gemacht?
Ich habe angefangen, Geld zur Seite zu legen, um mich finanziell auf die Zeit nach der Kündigung vorzubereiten und ein bisschen Sicherheit zu haben. Ich habe dann aber immer noch zwei Jahre gebraucht, bis ich mich tatsächlich entschieden habe. Der Weg dahin war hart. Ich hatte ganz viel Kopfkrieg.
Kannst Du diesen Kopfkrieg genauer beschreiben?
In meinem Kopf haben zwei Frauen miteinander gekämpft. Einmal die Frau, die die Komfortzone liebte. Die Sicherheit. Das feste Gehalt. Und die natürlich auch Mutter war und für ihren Sohn sorgen wollte.
Und die andere Frau?
Die sagte die ganze Zeit: Yvonne, Du bist jetzt 40 geworden – worauf wartest Du denn noch? Dir ist doch ganz klar, dass Du schon immer Musikerin werden wolltest. Wenn Du es jetzt nicht machst, dann machst Du es nie mehr – und landest wie so viele Deiner Kollegen mit einem Burnout oder einer Depression zu Hause. Weil Du wie sie unglücklich bist, aber Dich einfach nicht dazu durchringen kannst, die Konsequenzen daraus zu ziehen.
So schlecht ging es Dir?
Ja, und im letzten Februar hatte ich sogar einen Hörsturz. Da habe ich gedacht: Wenn Du jetzt nicht bald was änderst, dann wirst Du wirklich krank.
Klingt anstrengend, dieses Hin und Her der Gedanken.
War es auch. Manchmal dachte ich, mein Kopf explodiert gleich, weil das so anstrengend war. Und der sicherheitsliebende Teil von mir hatte wirklich wahnwitzige Vorstellungen: Wenn ich jetzt meinen Job kündige und dann irgendwann schwerkrank werde, lande ich unter der Brücke. Das ist natürlich totaler Quatsch, aber trotzdem haben mir diese Gedanken Angst gemacht.
Wie hast Du die Ängste in den Griff bekommen?
Irgendwann habe ich begriffen: Wenn ich nach einem Jahr als Musikerin merke, das geht gar nicht, dann gehe ich halt in die Schule zurück. Als Angestellte geht das ja immer. Ich kann nicht wieder verbeamtet werden, okay. Aber ich gebe mit der Kündigung nicht mein komplettes Leben auf, nicht meine Existenz und meine Sicherheit, sondern nur einen kleinen Luxusteil, den sowieso die meisten Menschen nicht haben.
Wie bist Du letztlich zu Deiner Entscheidung gekommen?
An einem Wochenende war mein Kopfkrieg wieder total stark. Da habe ich mir gesagt: So, ich lege mich jetzt ins Bett und stehe erst wieder auf, wenn ich eine Entscheidung habe. Und mit dieser Entscheidung lebe ich dann. Es ist jetzt einfach genug mit dem Hin und Her. Ich habe keine Lust mehr, meine Freunde und mich selbst mit diesem Thema zu nerven. So habe ich das dann auch gemacht: Ich habe mich hingelegt und abgewartet, was kommt.
Und?
Relativ schnell, nach etwa einer Stunde, habe ich gemerkt: Eigentlich ist die Sache klar. Am Montag danach bin ich dann direkt zur Schulleiterin gegangen und hab’s ihr gesagt. Sie hat Gott sei Dank total cool reagiert und mich sogar ermutigt, das zu machen, wenn ich das möchte. Das fand ich stark. Dann habe ich die Kündigung losgeschickt zur Landesschulbehörde – und nach einiger Zeit habe ich eine Urkunde zugeschickt bekommen, dass ich entlassen bin zum 1. September. Da war ich also raus.
Was war das für ein Gefühl, diese Urkunde in der Hand zu halten?
Toll. Ich habe schon gedacht: Die müsste ich mir aufhängen. Das ist eigentlich die beste Urkunde, die ich habe.
Inwiefern?
Ich bin so stolz, dass ich diesen Schritt gemacht habe. Dass ich die Zähne zusammengebissen und das tatsächlich durchgezogen habe und nicht eingeknickt bin – trotz aller Ängste und Bedenken.
Wie haben Deine Freundinnen und Deine Eltern reagiert?
Meine Eltern haben erstaunlich entspannt reagiert, da hatte ich mit mehr Empörung gerechnet. Sonst war die Reaktion meistens: „Boah, bist Du mutig! Ich könnte das ja nicht.“ Und dann kam die Frage: „Warum?“ Manche haben auch mit Unverständnis reagiert. Aber eine richtige Konfrontation nach dem Motto „Wie kannst Du nur?“ hatte ich nicht. Obwohl ich mir vorher ausgemalt hatte, dass das die häufigste Reaktion sein würde.
Und wie geht’s Dir jetzt mit der großen Veränderung Deines Lebens?
Mir geht’s richtig gut. Es ist so angenehm, dass der Kopfkrieg aufgehört hat. Ganz oft habe ich ein Gefühl von großer Dankbarkeit und Freude in mir. Ich liebe jeden Tag, den ich jetzt als Musikerin verbringe. Manchmal kann ich es noch gar nicht glauben und denke: „O Gott, Dir kann’s ja gar nicht so gut gehen. Es muss jetzt doch irgendwas Schlimmes passieren, weil Du das ja die ganze Zeit befürchtet hast.“ Aber es fügt sich alles wie von alleine, wie von Zauberhand.
Inwiefern?
Selbst jetzt im Winter, wo man ja als Musikerin eigentlich nicht so superviel zu tun hat, habe ich tolle Auftritte. Und freue mich einfach, dass ich jetzt so viel Zeit für die Musik habe. Vorher habe ich das so nebenher gemacht. Jetzt kann ich da alles reingeben.
Was genau machst Du jetzt alles?
Ich mache mein eigenes Projekt, meine CD. Dann singe ich in verschiedenen Bands: in Jazzformationen, Top-Forty-Bands und Galabands. Ich trete alleine auf als Singer&Songwriterin, aber auch mit der Gitarre zu Hochzeiten und Taufen. Und ich schreibe für solche Anlässe Lieder. Youtube mache ich auch, da habe ich mittlerweile mehr als 20.000 Abonnenten, so dass da ein bisschen Geld über Werbung reinkommt. So habe ich viele kleinere Töpfe, die sich summieren. Das klappt alles wunderbar gerade.
Auch finanziell?
Ja, ich komme total gut klar. Mir war es wichtig, dass ich vor dieser großen Veränderung finanziell abgesichert bin, deswegen habe ich ja Geld zurückgelegt. Und ich habe meinen Lifestyle unter die Lupe genommen und geguckt: Wo kann ich etwas einsparen, so dass ich gar nicht mehr auf mein ganzes Lehrergehalt angewiesen bin und trotzdem klarkomme, auch wenn ich mal nicht mehr so viel verdiene?
Und? Wo hast Du gespart?
Ich bin immer in meiner relativ kleinen Wohnung geblieben. Ich habe mir nie ein Haus gekauft, obwohl ich es gekonnt hätte. Ich habe auch nur ein kleines Auto. Ich habe wenige Abos. Und ich bin minimalistischer geworden in vielen Sachen. Beim Klamottenkaufen zum Beispiel oder beim Lebensmittelkaufen. Da gucke ich, dass ich nicht so viel wegschmeiße.
Und wieviel verdienst Du jetzt?
Bisher verdiene ich tatsächlich genauso viel wie als Lehrerin. Das habe ich nicht erwartet.
Ist doch super.
Ja, ich bin um jeden Monat dankbar, in dem ich nicht an mein Erspartes ran muss. Ich habe sogar das Gefühl, dass ich jetzt noch mehr Geld übrighabe als früher. Damals bin ich nach einer anstrengenden Woche manchmal in die Stadt gegangen und habe irgendwas gekauft. Oder was zu essen bestellt. Um mir was zu gönnen. Solche Kompensationskäufe mache ich jetzt gar nicht mehr. Es klappt momentan wirklich alles wunderbar. Ich weiß natürlich nicht, wie es weitergeht. Aber wenn mal ein Monat dabei sein sollte, in dem ich nicht so viel verdiene, ist es ja auch kein Problem.
Wie fühlt es sich an, auf der Bühne zu stehen – verglichen damit, vor der Klasse zu stehen?
Ich liebe es einfach, Musik zu machen. Ich bin da voll in meinem Element. Wenn ich auf der Bühne stehe, gebe ich mich da voll rein mit meiner ganzen Leidenschaft und lasse mich total fallen. Das gibt mir Energie. Da habe ich ewig Power. Klar bin ich körperlich irgendwann erschöpft. Aber geistig ist das total anregend, ich denke mir „Wow!“ und bin nach einem Auftritt total euphorisiert. Das ist ein ganz anderes Gefühl als die Rolle als Lehrerin. Ich glaube, in dieser Rolle habe ich mich nie richtig wohlgefühlt.
Warum nicht?
Ich bin darin gar nicht schlecht. Aber Lehrerin zu sein, das beißt sich so sehr mit meinem Selbstverständnis als Musikerin. Da habe ich eine viel größere Verantwortung – und ich habe vor allem Leute vor mir sitzen, die am liebsten gar nicht da sein würden. Ich muss ständig um Aufmerksamkeit buhlen und die Jugendlichen disziplinieren – was einfach supernervig ist. Wenn ich als Sängerin auf der Bühne stehe, weiß ich: Die Leute, die da vor mir sitzen, sind freiwillig gekommen. Und wenn nicht, dann können sie gehen.
Dein Sohn ist elf Jahre alt. Wie hat er eigentlich darauf reagiert, dass Du nicht mehr Lehrerin bist, sondern Künstlerin?
Für ihn war das keine große Sache, weil er das Ausmaß der Veränderung noch gar nicht richtig begreift. Außerdem ist die neue Situation für ihn super: Vorher habe ich an einer Ganztagsschule gearbeitet, da war er nachmittags häufig im Hort. Jetzt bin ich mittags zu Hause, koche für ihn Essen und mache mit ihm Hausaufgaben.
Diese gemeinsame Zeit ist unbezahlbar, oder?
Ja, die ist für ihn und auch für mich ein Riesengeschenk. Das kann man gar nicht in Geld aufwiegen, was ich da gewinne: diese Zeit mit ihm, diese Nähe. Ich genieße das richtig: dass ich als Mutter auch mal zu Hause sein kann. Gut, ich bin dafür am Wochenende häufiger unterwegs, aber oft erst abends, und dann kommt eine Babysitterin und das macht für ihn nicht so einen großen Unterschied, ob ich dann da bin oder nicht.
Gibt es irgendetwas, das Du an der Schule vermisst?
Ja, ich vermisse meine Schüler. Das glauben mir die meisten nicht, weil sie denken, ich habe wegen der Schüler aufgehört. Aber ich habe immer Spaß daran gehabt, für sie da zu sein und mit ihnen zu quatschen und zu sehen, wie sie groß werden. Ich könnte mir vorstellen, dass ich vielleicht irgendwann nochmal was in der Richtung mache – als Kinder- und Jugendcoach oder so.
Kannst Du Dir auch vorstellen, noch einmal Lehrerin zu werden – aus echter Überzeugung?
Das will ich gar nicht ausschließen. Für mich ist es einfach nur jetzt wichtig, den neuen Weg versucht zu haben. Aber ich weiß genau: Als Sängerin habe ich ein Verfallsdatum. Das ist einfach so, auch wenn man das nicht so gerne hören mag. In zehn Jahren bin ich 50; wer weiß, vielleicht gehe ich dann nochmal mit ein paar Stunden in die Schule. Wahrscheinlich ist es dann dort sogar absolut okay für mich. Weil ich durch die Jahre als Musikerin einen anderen Horizont habe – und in der Schule plötzlich Dinge wertschätze, die ich jetzt übersehe.
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Andreas