Seit seiner Gründung im Jahr 1991 hat Paul Sandmann den Jugendtreff in Lohne geleitet. Er ist in dieser Zeit eine Institution geworden für Menschen, die in Not sind und Hilfe brauchen. Jetzt ist er 65 Jahre alt und geht in Rente. Was hat er verändert in all den Jahren? Ein Interview über Kriegslehren, Drogentote, Schlüsselkinder – und den Wert der Sturheit.
Wie kommt das: dass Du als Leiter des Jugendtreffs immer so für Menschen gekämpft hast, die es nicht so leicht haben im Leben?
Das war der Auftrag von Gertrud Pöppelmann ...
… der damaligen Inhaberin des großen Lohner Kunststoffverarbeiters, die Euch die Räumlichkeiten für den Jugendtreff zur Verfügung gestellt hat …
… sie hat mir gesagt: „Paul, Du musst ein kleiner Robin Hood sein. Du musst für die Menschen kämpfen.“
Wie fandest Du diesen Satz?
Den fand ich genau richtig, weil das ja auch meine Idee war. Ich wollte nie ein Bürofritze sein. Ich wollte den Jugendlichen auch nicht nur ein paar schöne Stunden ermöglichen. Sondern ich wollte ihnen helfen, aus ihrem Leben was zu machen.
Wie ging das konkret?
In den ersten Jahren kamen oft Mädchen in den Jugendtreff, die wollten Abitur machen. Aber ihre Eltern wollten sie nicht lassen. Also bin ich zu den Eltern gegangen und hab gesagt: „Liebe Leute, Ihr müsst Euren Mädchen eine Chance geben auf ein Studium! Die können nicht alle nur Industriekauffrau werden und dann heiraten.“ Die meisten sind tatsächlich darauf eingegangen.
Warum ist Dir das wichtig: dass junge Menschen Chancen bekommen?
Das habe ich von meinen Eltern gelernt. Mein Papa war Torfarbeiter, und er hat immer gesagt: „Wir haben nichts, was wir Euch vererben können. Aber wir ermöglichen euch, dass ihr aus Eurem Leben was machen könnt. Ihr könnt die Schule so lange besuchen, wie Ihr wollt. Und wenn Ihr studieren wollt, könnt Ihr auch studieren.“ Hat funktioniert.
Diese Haltung hat Dich sehr geprägt, oder?
Absolut, ja. Kinder und Jugendliche müssen ihre Fähigkeiten entfalten dürfen. Sie sollen nicht benachteiligt sein, weil sie aus schwierigen Verhältnissen kommen.
Wo ist Dir das mal besonders gut gelungen: dass einer seine Fähigkeiten entfaltet hat?
Ich erinnere mich an einen russlanddeutschen Aussiedlerjungen, 12 Jahre alt. Von der Schule, von der Polizei, von überall hieß es: „Um den brauchst Du Dich nicht kümmern. Der landet sowieso im Knast.“ Da habe ich gesagt: „Warum soll der im Knast landen? Das ist ein junger Bursche, voller Energie. Der weiß zwar im Moment nicht, wo er mit seiner Energie hinsoll. Aber wenn man den an die Hand nimmt, kann aus dem was werden.“
Und? Ist was aus ihm geworden?
Er ist mittlerweile verheiratet, hat zwei Kinder, hat eine Ausbildung als Fachlagerist gemacht und macht gerade die Meisterschule. Für solche Menschen bin ich da. Die kommen zu mir in den Jugendtreff. Oder sie rufen mich an: morgens, abends, nachts, am Wochenende – egal. Mein Handy ist immer an.
Wie hat das Dein Privatleben geprägt: dass Du immer erreichbar warst?
Ich hatte das Glück, dass ich meine Frau kennengelernt habe, als sie gerade mal 15 war. Als wir später geheiratet haben, wusste sie also, worauf sie sich einlässt. Meine Frau hat mich immer bestärkt. Sie ist Lehrerin, sie ist auch immer für ihre Kinder da. Manchmal klingelt abends um elf das Telefon und ein Schüler ist dran, der Sorgen hat. Wir brennen beide für das, was wir tun. Wir machen das nicht einfach nur als Job. Das ist unsere Leidenschaft.
Woher kommt diese Leidenschaft bei Dir?
Ich glaube, so ein bisschen aus meiner Familiengeschichte heraus. Mein Papa ist vier Jahre in Kriegsgefangenschaft in Russland gewesen. Er hat nicht viel erzählt aus dieser Zeit. Aber was er erzählt hat, war: dass er in der Gefangenschaft von der normalen Bevölkerung in Russland viel Unterstützung bekam. Die haben ihm was zu essen gegeben, und sie waren freundlich zu ihm. „Aber wehe“, sagte mein Papa, „die hatten einen Pickel auf der Schulter. Wehe, die hatten Macht. Dann haben die Dir noch nicht mal die gefrorene Kartoffel auf dem Acker gegönnt.“ Er hat immer gesagt: „Man muss gucken, dass man bei den Menschen ist – bei denen, die Hilfe brauchen.“ Das hat mich geprägt.
Ihr habt im Jugendtreff oft Probleme gesehen, die andere in Lohne noch nicht wahrhaben wollten.
Ja, ich erinnere mich noch, wie irgendwann Kinder mittags zum Jugendtreff kamen, lange bevor er am Nachmittag öffnete. Sie saßen draußen vor der Tür, Schlüssel um den Hals, Schultasche auf dem Rücken, und fragten: „Dürfen wir schon reinkommen?“ Da habe ich gedacht: „Oh, ist die Situation aus den Großstädten auch bei uns angekommen? Die heile Welt hier ist doch wohl nicht mehr ganz so heil.“ Erst habe ich ihnen ab und an mal einen Toast gemacht und ihnen bei den Hausaufgaben geholfen. Aber dann wurden sie immer mehr und mir wurde klar: Wir brauchen eine strukturelle Veränderung, um ihnen zu helfen.
Ihr habt dann ein neues Angebot entwickelt für die Kinder, die nach der Schule zu Hause kein Essen hatten, keinen Ansprechpartner, keinen Hausaufgaben-Helfer: den pädagogischen Mittagstisch.
Genau. Als ich angefangen habe, dafür zu kämpfen, haben die Politik und die Verwaltung gesagt: „Schlüsselkinder, die gibt’s hier in Lohne nicht.“ Und ich: „Die sitzen doch hier vor der Tür. Die fallen doch nicht vom Himmel.“ Unser Angebot war wichtig für sie. Die Kinder sind bis vier, fünf Uhr bei uns geblieben. Und sie sind gern gekommen.
Woran hast Du gemerkt, dass Eure Arbeit etwas in ihrem Leben verändert hat?
Einmal war da zum Beispiel ein Junge, der hatte gar keinen Mut mehr. Er klagte, die Hausaufgaben, die könne er doch eh nicht. Also habe ich ihn angestachelt: „Willst du denn Deinem Lehrer gestatten, dass der immer sagt, dass Du doof bist? Das würde ich dem doch mal zeigen.“ Das hat gewirkt. In der nächsten Arbeit hat der Junge keine 5 mehr geschrieben, sondern eine 3. Als er das nächste Mal zum Jugendtreff kam, hat er stolz mit der Arbeit gewedelt und gerufen: „Ich hab’s geschafft!“
Später sind aus dem pädagogischen Mittagstisch im Jugendtreff Horte in den Schulen geworden – weil der Bedarf immer größer wurde. Wieso haben Du und Dein Team Probleme und notwendige Veränderungen in Lohne oft früher gesehen als Politik und Verwaltung?
Wir waren immer sehr nah bei den Menschen und hatten ganz viele Kontakte. Wir waren bei vielen Familien zu Hause. Und hatten relativ schnell das Gefühl, dass die Menschen uns vertrauen. Dass sie sehen: Die Leute vom Jugendtreff, die haben ein offenes Ohr für meine Sorgen und Nöte. Die kümmern sich.
Welche Schicksale haben Dich besonders belastet?
Als viele russlanddeutsche Aussiedler nach Lohne kamen, haben sie natürlich auch ihre Kinder mitgebracht. Also waren hier plötzlich Jugendliche, die 15, 16, 17 waren – und die keiner gefragt hatte, ob sie mitkommen wollen. Sie waren total entwurzelt und sie hatten keine Idee, was sie hier aus ihrem Leben machen sollen. Viele haben Drogen genommen: erst Cannabis, dann Heroin. Wir haben versucht, sie da wieder runterzukriegen. Wir haben extra Angebote für sie entwickelt und wollten ihrem Leben eine Struktur geben. Aber einige haben wir verloren. Die sind an den Drogen gestorben.
Wie sehr hat Dich das getroffen?
Das war hart für mich. Ich habe mich gefragt: Wie kann ich da so machtlos sein? Abends, wenn ich mit dem Auto von der Arbeit nach Hause gefahren bin, habe ich plötzlich nicht mal mehr das Radio angemacht und Musik gehört. Erst habe ich das gar nicht gemerkt. Aber irgendwann ist mir aufgefallen: Verdammt, hattest Du den Kopf voll – dass Du nicht mal mehr Deine üblichen Gewohnheiten hast!
Wie hast Du es dann geschafft, damit zu leben?
Ich habe mir klargemacht: Ich kann den Menschen zwar zur Seite stehen. Aber welchen Weg sie gehen, das ist ihre Entscheidung.
Ihr habt im Jugendtreff immer wieder neue Angebote geschaffen, wenn Ihr eine Notlage erkannt habt.
Genau. Irgendwann hat meine Frau mir erzählt, ihre Schule habe Milch und Cornflakes gekauft. Damit Kinder, die kein Essen dabeihatten, in der Pause zum Lehrerzimmer kommen und sich endlich mal sattessen konnten. Und wenn sie mal in der Klasse zusammen gefrühstückt haben, haben die Kinder gefragt: „Darf ich wirklich so viel essen, wie ich mag?“
Krass.
Ja, wirklich. Als ich das gehört habe, habe ich gedacht: Verdammt, das kann doch nicht sein. Warum wissen wir das nicht? Wir haben das im Jugendtreff besprochen und gesagt: Uns entgleiten zu viele Leute. Wir dürfen nicht mehr nur warten, bis sie mit ihren Problemen zu uns kommen. Wir müssen mehr auf sie zugehen.
Ihr habt dann ein neues Projekt gegründet: Kinder brauchen eine Familie.
Unsere Mitarbeiterin hat an Türen von Familien geklingelt, von denen sie glaubte, dass sie das Leben allein kaum meistern. Weil der Jugendtreff einen Hinweis von der Schule bekommen hatte, vom Kindergarten, vom Kinderarzt. Oder von besorgten Freunden oder Nachbarn. Beim ersten Mal hatte sie immer etwas dabei: ein kleines Spielzeug für das Kind oder eine Handtasche voller Lebensmittel.
Warum?
Sie kam ja oft zu Leuten, die sowieso von der Gesellschaft enttäuscht waren, nirgends Hilfe bekommen haben und dachten: „Was will die denn von mir? Ist das das böse Jugendamt und holt mir meine Kinder weg?“ Sie hat dann die Leute überzeugt, dass sie nichts nehmen will, nur etwas geben: Hilfe, Halt und Mut.
Was haben sie und ihre Kolleginnen in den Familien erlebt?
Unsere Mitarbeiterinnen haben Mütter erlebt, die mit ihren Säuglingen nicht umgehen konnten. Die ihnen einfach eine Flasche in den Mund gestopft haben – und nicht darauf geachtet haben, ob sie auch wirklich was trinken. Sie haben Babys jede Woche gewogen, um sicher zu sein, dass sie wachsen. Sie haben chaotische Wohnungen erlebt, fast messihaft, mit psychisch labilen Eltern, denen nichts gelungen ist. Unsere Leute haben wirklich oft tief in die Abgründe von Lohne geguckt.
Wie hat es Dich verändert, dass Dein Team und Du so viele Abgründe gesehen haben?
Gott sei Dank habe ich immer Menschen gefunden, mit denen ich das alles besprechen konnte, was ich erlebt habe – und die mir gute Hinweise gegeben haben, wie ich damit umgehen kann. So bin ich nicht daran zerbrochen.
Mit Eurer Arbeit seid Ihr für viele in unserer reichen Stadt unbequem, oder?
Ja, aber genauso habe ich meinen Dienst auch immer verstanden: Ich will für die Menschen da sein, die Hilfe brauchen. Und wenn ich für diese Menschen etwas einfordere und das für mein Gegenüber in einer Behörde womöglich Arbeit bedeutet, dann mache ich mich natürlich nicht beliebt.
Wie ist das für Dich: sich oft nicht beliebt zu machen?
Kein Problem (lacht). Ich bin ja relativ stur. Und ich habe ein ausgeprägtes Kämpferherz. Natürlich liege ich nicht immer richtig. Aber wenn ich von einer Sache überzeugt bin, will ich sie auch durchsetzen. Zum Glück habe ich im Jugendtreff immer Mitstreiter gehabt, die mir das zugetraut und mich unterstützt haben. Und ich habe Menschen um mich herum gehabt, die wie ich etwas gestalten und verändern wollten.
Du hast Dich über all die Jahre oft mit der Lohner Politik und Verwaltung gestritten. Was hast Du dadurch verändert?
Ich hatte ja nie selbst eine Entscheidungsbefugnis. Ich war immer auf Politik und Verwaltung angewiesen. Und manchmal war ich mit ihren Entscheidungen nicht einverstanden. Da wird man irgendwann unbequem. Oft wollten Politik und Verwaltung Veränderungen, die wir angestoßen haben, erst partout nicht – und dann irgendwann doch.
Hast Du dafür ein Beispiel?
Ich habe mich ja viel um die osteuropäischen Werkvertragsarbeiter gekümmert, die in der Fleischindustrie ausgebeutet wurden. Im ersten halben Jahr habe ich dafür nur Schimpfe gekriegt, von allen Seiten. Was mir denn einfallen würde! Ich würde das Oldenburger Münsterland beschmutzen! Und nach einem halben Jahr änderte sich das – weil öffentlicher wurde, wie skandalös die Werkarbeiter behandelt werden. Und plötzlich sagten alle, die mich vorher nur kritisiert hatten: Da müssen wir dringend was tun!
Hat Deine Sturheit Dir manchmal geholfen, Dinge zu verändern?
Ich glaube, meine Sturheit hat dazu geführt, dass ich nicht immer klein beigegeben habe. Wenn ich häufig beim ersten Gegenwind klein beigegeben hätte, hätten wir viele soziale Hilfsangebote in Lohne nicht, die wir heute haben.
Du bist mit dem Jugendtreff über all die Jahre für viele Menschen in Lohne, die Hilfe brauchen, eine Instanz geworden.
Stimmt, das ist in den Köpfen der Leute: Wenn Du Hilfe brauchst, kannst Du zum Jugendtreff gehen.
Ich erinnere mich zum Beispiel an 2015 und 2016, als viele Flüchtlinge aus Syrien nach Lohne gekommen sind.
Ja, die Stadt hat damals viel für sie getan. Aber trotzdem sind viele Flüchtlinge irgendwann zum Jugendtreff gekommen. Weil sie gehört hatten, dort könnten sie Möbel, Kleidung, Fahrräder bekommen. Und wir haben alles getan, um sie ihnen zu besorgen.
Die Stadt Lohne hat sich in all den Jahren enorm verändert und sie ist stark gewachsen. Braucht man den Jugendtreff heute noch genauso dringend wie am Anfang?
Ich bin relativ sicher, dass man ihn heute noch dringender braucht als damals. Weil es heute mehr Menschen gibt, die in schwierigen Lebenssituationen stecken – insbesondere Menschen, die hier nicht verwurzelt sind und kein großes Netzwerk haben: die Menschen im Niedriglohnsektor, die Flüchtlinge, die schlecht Ausgebildeten. Die Menschen, die wir im Alltag kaum mal näher an uns ranlassen – und die vergessen zu werden drohen.
Du klingst nicht, als wolltest Du die Füße hochlegen, wenn Du jetzt in Rente gehst.
Ich werde mein Kämpferherz nicht abstellen. Ich will weiter für die Menschen da sein. Durch den Eintritt ins Rentenalter habe ich dafür jetzt noch mehr Freiheiten. Und ich behalte ja viele Ämter. Ich habe nach wie vor den Auftrag der Lohner Bürger, mich als Ratsherr einzusetzen. Und den Auftrag der Bürger des Landkreises Vechta, mich als Kreistagsmitglied einzusetzen. Und ich habe auch noch viele Vereine, in denen ich weiterhin Verantwortung trage. Keine Sorge: Ich werde nicht an Langeweile zu Grunde gehen.
Findet Ihr die Arbeit des Lohner Jugendtreffs auch so bewundernswert? Dann helft mir, sie zu würdigen – und teilt dieses Interview in allen sozialen Netzwerken. Geht ganz einfach – mit diesem Link:
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Bis zum nächsten Mal: alles Gute!
Andreas