„Bleib laut!“ So heißt das Motto, unter dem Peter Havers (51) und Benedikt Feldhaus aus Vechta Talente im Poetry Slam coachen. Im Interview hat Peter mir erzählt, welch berührende Momente dadurch entstehen und was die Worte auf der Bühne bewirken – beim Publikum und bei den Slammern selbst.
Wann habt Ihr angefangen, Talente im Poetry Slam zu coachen?
2015 haben wir einen Preacher Slam für die Kirche am Campus veranstaltet. Wir haben Leute gefragt, ob sie nicht auftreten wollen. Leute, die das noch nie vorher gemacht haben: Texte zu schreiben und auf der Bühne zu stehen. Und wir haben angeboten, dass wir ihnen bei der Vorbereitung helfen können.
Und? Wie hat es geklappt?
So gut, dass wir es seitdem jedes Jahr gemacht haben. 2015 waren 70 Zuschauer da, 2016 schon 130 Zuschauer. Und wir haben gemerkt: Je mehr die Slammer vorher mit uns im Kontakt sind, desto besser werden ihre Texte. Also haben wir überlegt, wie wir die Leute noch mehr pushen, noch mehr aus ihnen rauskitzeln, sie noch mehr auf den Punkt bringen können. Ab 2017 haben wir Textworkshops mit den Slammern angeboten – nur wer daran teilnahm, durfte dann auch auftreten. Wir wollen ja, dass die Zuschauer am Ende einen guten Abend haben – und die Leute, die auftreten, auch.
Warum macht Ihr überhaupt diese Slams unter dem Motto „Bleib laut“?
Mit „Bleib laut“ ermutigen wir Leute, mit der eigenen Perspektive an die Öffentlichkeit zu treten und sie rauszuhauen. Also das, was sie denken, in Worte und auf die Bühne zu bringen. Wie wichtig das ist, seine Meinung auch mal laut zu sagen, hat man ja zuletzt bei all den Demos gegen Rechtsextremismus gesehen. Es gibt viele, die schon immer ganz entschieden gegen Nazis, gegen Rechtsextremismus, gegen die AfD waren. Aber diese Meinung muss eben auch öffentlich ausgesprochen werden. Sie muss auf die Straße, damit Leute drüber nachdenken und damit nicht irgendwelche bekloppten Nazis denken, sie seien das Volk.
„Bleib laut“ ist also auch der Beweis, dass nicht stimmt, wenn manche behaupten, man könne seine Meinung ja heute gar nicht mehr frei äußern?
Absolut, ja. Diese Behauptung ist totaler Quatsch. Man darf vieles sagen – man kriegt dann halt nur womöglich massiven Gegenwind. Was man nicht darf, ist: Grenzen überschreiten und abwertendes, ausschließendes Scheißzeug reden. Denn das hat nichts mit Toleranz und Respekt zu tun, und das würden wir bei uns auf der Bühne auch nicht zulassen.
Warum ist Euch die Bühne so wichtig?
Weil wir selbst wissen, wie toll es ist, auf der Bühne zu stehen und Applaus zu kriegen. Und wir wollen Leute die Erfahrung machen lassen: Das kann ich auch. Sie sollen spüren: Ich hab was zu sagen. Und wir glauben: Je echter die Texte sind, die sie aufführen, je näher sie bei denen sind, die sie sprechen, desto mehr Botschaft kommt an. Unsere Teilnehmer sind Amateure, und sie sollen auch auf der Bühne Amateure sein und keine Schauspieler – aber eben professionell inszeniert.
Wo hat das mal besonders gut funktioniert?
Einmal hat Stephan Trillmich …
… der Leiter der Ehe-, Familien- und Lebensberatung in Vechta …
… auf der Bühne gestanden und von seinem Sohn erzählt. Und im Text hat er angefangen zu weinen, weil es ein Abschiedstext an den ausziehenden Sohn war, der ins Studium geht. Dieses Weinen, würde ich behaupten, hätte so kein Schauspieler hingekriegt – weil der nicht so berührt gewesen wäre, wie Stephan es war.
Wie haben die Leute da reagiert?
Die Leute waren ganz still, ganz fokussiert. Da ist niemand ein Bier holen gewesen. Da war totale Aufmerksamkeit. Der Auftritt war sogar draußen, auf einer großen Bühne. Wenn Du es schaffst, draußen so eine dichte Atmosphäre zu schaffen, dann ist das schon stark. Am Ende haben die Leute natürlich geklatscht. Sie haben Stephan durch seinen Auftritt getragen.
Wie hat er reagiert?
Stephan war drauf vorbereitet, dass er wahrscheinlich ein Tränchen verdrücken wird. Er hat den Text ja bei uns im Workshop geübt. Er wusste, was passiert.
Trotzdem war der Moment für ihn bestimmt ein besonderer, oder?
Ja, mit Sicherheit. Weil er seinen Text ja nur für diesen Abend geschrieben hat. Weil es sein Text über seinen Sohn war. Und weil er gemerkt hat: Der Text dockt bei vielen Menschen an, weil sie auch Kinder haben, die irgendwann ausziehen oder schon ausgezogen sind, und sie verstehen mich, sie identifizieren sich mit mir. Das trägt einen Slammer. Mir fällt gerade noch ein anderes Beispiel dafür ein, was jemand mit Worten bewirken kann.
Erzähl!
Jolin Meinecke. Sie hat mit 15 bei uns angefangen, jetzt ist sie 17 und hat schon x-Mal einen Slam gewonnen. Und sie hat sich in der Zeit total entwickelt.
Inwiefern?
Sie hat ganz viel Kraft in der Stimme, und sie wusste schon immer, dass sie schreiben kann. Und dass sie sich selbst und ihren Stil gefunden hat, das kann sie sich auf die Fahne schreiben. Aber wir haben da ein bisschen mitgeholfen und geschubst. Wir sind total dankbar, dass wir mit ihr arbeiten können – und sie hat offensichtlich durch die Workshops mit uns gemerkt: Ich hab nicht nur was zu sagen. Sondern ich kann das, was ich zu sagen habe, auch in eine Sprache bringen, die verständlich ist – sogar für Leute, die nicht 15 oder 17 sind, sondern 40, 50 oder 60.
Woran genau merkst Du, dass sie ihren Stil gefunden hat?
Sie hatte von Anfang an ein gutes Gefühl für Sprache. Sie hatte sich auch vorher schon mit Texten von Slammern und Songwritern auseinandergesetzt. Als sie bei uns eingestiegen ist, waren ihre Texte schon sehr dicht. Unser Feedback im Workshop hat Jolin dann total in ihrer Sprache bestärkt. Sie hat durch uns Kriterien gelernt, wie ihre Texte noch besser werden und eine Struktur bekommen.
Wie genau hat sie sich im Laufe der Workshops verändert?
Sie ist deutlich selbstsicherer und offener geworden. Sie arbeitet inzwischen in einem Café und managt da ganz viel in der Bedienung. Wenn sie auftritt, bringt sie längst nicht mehr nur ihre beste Freundin und ihre Mutter mit, sondern eine ganze Fanbase. Und sie spricht jetzt auch über mehr verschiedene Themen. Erst hat sie einen Text über ihr Alter geschrieben, darüber, dass sie sich mal älter fühlt und mal auch jünger. Dann einen über ihre Mutter. Und jetzt schreibt sie auch über Klima und über Politik. Und sie merkt: Ich bin Jolin, ich habe auch dazu eine Meinung und die ist wichtig.
Was mögen die Zuschauer an den Slams?
Sie genießen es sehr, dass da Leute aus ihrer Nachbarschaft auftreten. So können sie Verbindungen knüpfen: „Ah, das ist doch der, der in der Oyther Straße wohnt. Den kenn ich! Und jetzt redet der hier.“ Oder: „Die Jolin, das ist doch die, die bei meiner Nachbarstochter in der Schulklasse ist.“ Das Tolle ist: Wir müssen keine Stars teuer einkaufen, damit ein guter Abend entsteht. Wir schaffen das mit Talenten von hier. Das ist wie beim Fußball: Da gehen viele mittlerweile ja auch lieber zu Blau-Weiß Lohne in die Regionalliga als zu Werder in die Bundesliga. Und merken, dass das Team aus der eigenen Stadt vielleicht viel spannender ist.
Weil es ihnen näher ist?
Ja. Sie kennen bei unseren Slams die Leute und wissen: Die sprechen jetzt von sich. Und unsere Erfahrung ist auch: Es gewinnen immer die Texte, die so authentisch sind, dass es einen Klickmoment gibt und die Leute total angefixt sind. Die den Leuten aus der Seele sprechen und ihnen einen Anstoß geben, worüber sie nachdenken können. Texte wie der von Stephan über seinen Sohn, der auszieht. Meine Tochter hat auf dem Stoppelmarkt mal gewonnen mit einem Text, in dem sie erzählt, wie sie jemandem in die Fresse schlagen will, weil der wie viele andere gesagt hat, sie sähe aus wie ein Junge. Sie war sauer über die ständige Zuschreibung.
Die Texte dürfen also auch mal wütend sein?
Absolut, ja. Wir haben immer wieder mal Texte, die wütend sind und sich aufregen. Stephans Tochter Jule hat sich neulich in einem Text darüber aufgeregt, was ihr als 16-Jährige inzwischen alles zugemutet wird von Eltern, Lehrern, allen. Sie hat auch das Publikum angemacht: „Stellt euch nicht vor, dass es eine Bindung zwischen uns gibt.“ Ihre Eltern waren da, die mussten da auch mal schlucken, aber es war nachher niemand verletzt. Das ist mir wichtig. Die Slammer dürfen alles rauslassen, sie dürfen emotional werden, aber es gibt auch eine Grenze.
Was lernt Ihr selbst beim Coachen der Leute?
Ganz viel. Immer irgendwie eine Idee vom Leben. Ich bin 51, Bene ist Mitte 30. Wenn wir eine 16-Jährige coachen, die Sätze raushaut wie Jolin, dann ist das cool – weil man als Erwachsener von 16-Jährigen ja sonst selten hört, was die wirklich meinen. In den Workshops und auf der Bühne kommen wir an echte Lebensperspektiven. Das ist nicht nur bei den jungen Slammern so, auch bei den älteren. Die brechen auf und denken: Ich verrate jetzt was von mir. Das ist toll. Das bewegt Bene und mich sehr, dass die Slammer sich so öffnen und dass wir auch von ihnen lernen.
Wo hast Du mal was gelernt?
Kürzlich ist bei uns zum Beispiel Maren aufgetreten, eine Frau Anfang 20. Sie hat ihre Perspektive auf Sexualität, Kirche und Glauben mitgebracht. Für mich war das oft eine Herausforderung, ich habe gemerkt: Da muss ich drüber nachdenken, diese Perspektive kannte ich noch nicht. Und gleichzeitig dachte ich: Ich kann mich glücklich schätzen. Denn wer wird denn sonst von Leuten als Ansprechpartner für solche Themen wahrgenommen – und bekommt einen Einblick, wie die das Leben sehen und die Themen, die ihnen wichtig sind?
Wieso öffnen die Leute sich bei Euch so?
Ich glaube, weil sie eigentlich was sagen wollen – aber das, was sie in sich tragen, sonst nicht gehört wird. Und unsere Vorbereitung und Bestärkung hilft ihnen dann, dass sie sich auf die Bühne trauen. Bei uns erfahren sie: Ihre Perspektive wird gehört, sie hat eine Bedeutung.
Du hast gesagt, Ihr steht auch selbst gern auf der Bühne und kriegt Applaus. Wenn Ihr Eure Slammer auf der Bühne seht und das Publikum sie feiert, seid Ihr dann auch ein winziges bisschen neidisch?
Nee, überhaupt nicht. Wir haben die ja gecoacht. Wir sind eher stolz auf sie – und fiebern mit, wie ihr Auftritt wohl wird.
Was sagen die Slammer, wenn sie ihren Auftritt geschafft haben?
Manche ärgern sich schon mal, dass sie nicht gewonnen haben. Aber die meisten sind überglücklich und einfach nur beseelt, dass der Abend gut war. Sie wussten ja schon vorher, dass ihr Text gut ist. Ein starker Auftritt ist dann noch mal das i-Tüpfelchen da drauf. Sie bekommen viele total tolle Rückmeldungen. Das macht sie stolz. Es gibt ihnen ein Gefühl von Selbstwirksamkeit.
Wie wirken solche Auftritte nach?
Wenn wir Monate später, zum Beispiel auf dem Stoppelmarkt, Leute treffen, die mal bei uns aufgetreten sind, dann begrüßen sie uns immer sehr herzlich – und ich spüre da eine große Dankbarkeit. Weil sie mit uns eine Zeit erlebt haben, die besonders war, an die sie sich gern erinnern und die auch eine Veränderung mit sich gebracht hat. Weil sie bei uns Entwicklungsschritte gegangen sind und wir uns getraut haben, auch mal kritisch zu sein. Weil sie sich von uns gesehen fühlen.
Hat Euch dieses Interview gefallen? Dann teilt es in allen sozialen Netzwerken. Empfehlt es in Eurem Whatsapp-Status, auf Instagram, Facebook und LinkedIn. Geht ganz einfach – mit diesem Link:
Seid Ihr neu hier und habt meinen Newsletter noch nicht abonniert? Dann tragt hier Eure Mailadresse ein – und Ihr bekommt automatisch alle zwei Wochen kostenlos meinen neuesten Text. Immer über die Frage, wie Veränderung eine Chance sein kann:
Bis zum nächsten Mal: alles Gute!
Andreas