Luisa Wolf hat eine Wahnsinnsstimme: kraftvoll, intensiv, berührend. In ihrer Freizeit tritt die 29-Jährige als Sängerin auf, im Beruf arbeitet sie als Logopädin. Sie ist also eine Expertin dafür, was eine starke Stimme ausmacht – und was sie bewirkt.
Wann hast du zum ersten Mal gemerkt, welche Kraft deine Stimme hat?
Ich hab schon früh angefangen zu singen. Meine älteren Geschwister waren beide in der Musical-AG des Lohner Gymnasiums, und mein Traum war immer, da auch mitzumachen. Aber ich war damals natürlich noch zu klein, ich war ja erst in der Grundschule. Also hab ich mir die CDs, die sie zum Üben für die AG hatten, geschnappt und sie bei uns zu Hause auf dem Dachboden immer ordentlich nachgesungen. Irgendwann hab ich meine Eltern animiert, mir ein Mikrofon zu kaufen, damit ich noch mehr Gas geben kann.
Da waren die Geschwister wahrscheinlich wenig begeistert, oder?
Mein Bruder war irgendwann echt genervt davon, dass die kleine Schwester den ganzen Tag da oben auf dem Dachboden hockt und grölt. Er hat gemeckert, dass ich einfach zu laut bin. Das war das erste Mal, dass ich gemerkt habe: Ich kann mit meiner Stimme was erreichen. Aber dass meine Stimme nicht nur laut ist, sondern noch viel mehr kann, das ist mir erst später klargeworden – als ich auch in der Musical-AG war.
Erzähl mal!
Im ersten Jahr hatte ich noch eine kleine Rolle, aber im zweiten Jahr dann schon eine große. Ich war total aufgeregt und auch ein bisschen überfordert damit, denn ich kannte das ja noch nicht: so im Vordergrund zu stehen und ein Lied zu singen, allein vor 600 Menschen. Da musste ich mich schon überwinden. Aber von Aufführung zu Aufführung bin ich sicherer geworden. Weil ich gemerkt habe: Den Leuten gefällt das, die unterstützen mich. Ich berühre die mit meiner Stimme vielleicht sogar.
Wie hast du das gemerkt: dass du die Leute mit deiner Stimme berührst?
Ich habe nach den Aufführungen viele Rückmeldungen bekommen – nicht nur von meinen Eltern und Geschwistern. Auch unbekannte Menschen haben mir gesagt: „Tolle Stimme! Super gemacht!“
Wie hast du deine Stimme dann weiterentwickelt?
Ich habe Gesangsunterricht genommen, Techniken gelernt und Tipps bekommen und immer besser verstanden, worauf ich beim Singen achten muss. Ich habe gelernt, dass die Stimme ein Instrument ist, auf dem man üben und an dem man feilen muss – und dass es nicht reicht, drauflos zu singen, wie ich es vorher gemacht habe. Ich habe gelernt, dass es beim Singen genauso ist wie beim Klavierspielen. Auch hier muss ich gucken: Welche Tasten drücke ich, um welchen Ton rauszukriegen?
Was hat dein Gesangslehrer über deine Stimme gesagt?
Er hat gesagt, dass sie viel Kraft hat – und dass wir daran arbeiten müssen, dass ich diese Kraft richtig einsetze. Dass ich nicht nur mit Lautstärke und Druck singen soll, sondern dass ich auch die Technik brauche, um sie richtig anzuwenden und lange was von meiner Stimme zu haben.
Wie ist deine Stimme dann nach und nach besser geworden?
Ganz einfach durch viel Übung. Ich musste ein Gefühl dafür bekommen: Okay, ich habe gerade total mit Anstrengung und Druck gesungen – das sollte ich nicht machen. Wie kann ich das umgehen? Wie kann ich die Stimme nutzen, ohne dass es für mich anstrengend wird und ich danach vielleicht sogar heiser bin, weil ich mich durch den Song durchgequält habe?
Konntest du durchs Üben nach und nach höher und tiefer als vorher singen, lauter und leiser?
Sowohl als auch, ja. Und ich habe gelernt, auch höhere Töne auf der Bruststimme zu singen und nicht direkt in die weichere, luftigere Kopfstimme zu wechseln. Das war viel Arbeit. Aber ich habe gemerkt: Wenn ich dranbleibe, kann ich variieren – hoch und tief, laut und leise. Und ich kann beim Singen besser das nachempfinden, was in dem Song die Aussage, die Botschaft ist. Ich will einen Song ja nicht nur monoton rauf und runter singen. Ich will nicht nur die Töne treffen.
Wie machst du das konkret: die Botschaft eines Songs nachzuempfinden?
Ich muss mich wirklich drauf einlassen. Ich muss mich trauen, loszulassen und mich in diese Botschaft hineinzuversetzen. Ich sollte nicht darauf achten, dass jeder Ton perfekt sitzt. Das ist mir erst ein bisschen schwergefallen, weil ich dadurch Kontrolle abgebe. Ich habe mich das nicht getraut, weil ich gedacht habe: Nachher versemmele ich den Ton, weil ich mehr auf die Emotion gehe als auf die Technik.
Und? Ist das passiert?
Nein, im Gegenteil: Meistens nehmen die Leute einen Song viel, viel schöner und besser wahr, wenn er nicht nur mit Technik, sondern auch mit Gefühl gesungen ist.
Wann ist dir das mal besonders gut gelungen?
Im Musical „The king and I“. Da habe ich eine Frau gespielt, die als Geschenk für den König vorgesehen war, aber eigentlich war sie in einen anderen verliebt. Ich musste sehr, sehr hoch singen, so hoch wie noch nie. Und ich musste die Trauer und die Leidenschaft über ihre Situation da mit reinbringen. Das war eine extreme Herausforderung für mich. Und ich glaube, da bin ich so ein bisschen über mich hinausgewachsen.
Inwiefern?
Erst habe ich gemerkt: Ich kriege die hohen Töne, die sind da, aber ich kriege sie nur durch viel Konzentration und Arbeit. Nach und nach habe ich dann gespürt: Ich habe die Technik drin, wenn ich übe und fleißig dranbleibe. Und ich kann mich jetzt drauf einlassen, die Gefühle beim Singen zuzulassen und zu sagen: Okay, komme, was wolle, ich geb jetzt einfach Gas, damit die Zuschauer nachempfinden können, wie sehr diese Frau da gerade leidet.
Wie war das für dich, auf der Bühne zu merken, dass das funktioniert?
Das hat mich bestärkt. Ich bin selbstsicherer geworden. Ich wusste jetzt: Ich kann das. Ich habe ein Gefühl dafür bekommen, was meine Stimme leisten kann. Und dann hat mich natürlich der Ehrgeiz gepackt. Ich wollte dranbleiben, ich wollte weitermachen und immer mehr erreichen, ich habe mich auf jede weitere Aufführung gefreut.
Was haben deine Gesangslehrer im Laufe der Jahre darüber gesagt, wie sich deine Stimme entwickelt hat?
Ich hab oft positives Feedback bekommen. Und ich hab immer wieder gesagt bekommen, dass meine Stimme viel Potenzial hat. Zwischenzeitlich wurde mir auch mal nahegelegt, doch irgendwas in Richtung Gesang zu studieren.
Und? Wäre das nichts für dich gewesen?
Der Gedanke war auf jeden Fall da. Aber ich bin ein sehr sicherheitsliebender Mensch und habe dann gedacht: Klar, wenn man Glück hat und zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, kann man als Sängerin viel erreichen. Aber die Konkurrenz ist auch sehr, sehr groß. Das war mir zu ungewiss. So habe ich mir gedacht: Ich wähle einen Beruf, in dem ich mit meiner Stimme arbeiten kann – und der mir mehr Sicherheit gibt.
So ist dir die Idee gekommen, Logopädin zu werden?
Genau.
Wie hat dir die Ausbildung zur Logopädin geholfen, deine Stimme besser zu verstehen?
Zum einen habe ich die Anatomie des Stimmapparats gelernt: Wie ist der Kehlkopf aufgebaut? Was brauche ich, um eine Stimme zu erzeugen? Wie funktioniert das Ganze? Zum anderen hatte ich auch viel Stimmbildung und Sprecherziehung in der Ausbildung, wodurch ich immer mehr über die Stimme wusste.
Nämlich?
Ich habe gelernt, dass die Stimme nicht nur laut und leise, hoch und tief sein kann. Sondern dass und warum sie auch unterschiedlich klingen kann: kratzig, hart, rau, weich. Ich habe ein Gefühl dafür bekommen, wie ich die Stimme verändern kann und welche Übungen ich meinen Patienten mit an die Hand geben kann. Meine Gesangslehrerin hat immer so schön zu mir gesagt: „Luisa, du musst deine eigene Medizin schlucken.“
Was meinte sie damit?
Ich rate meinen Patienten in der Stimmtherapie immer: aufrechte Haltung, gute Körperspannung. Aber wenn mir im Gesangsunterricht irgendwas nicht so gelingt, wie ich das will, sacke ich selbst gern in mich zusammen. Da bin ich sehr gemütlich und bequem. Mir fällt das dann in dem Moment gar nicht auf. Aber im Nachhinein denke ich: Wie doof bist du eigentlich! Du weißt doch, dass das falsch ist!
Hast du im Laufe der Jahre gelernt, mehr darauf zu achten?
Ja. Nachdem ich im Gesangsunterricht immer wieder daran erinnert worden bin, hatte ich es irgendwann drauf. Ohne die Kritik hätte ich nie die Fortschritte erzielt, die ich erzielt habe. Und durch die Wiederholungen hat sich mein Körper das nach und nach eingeprägt.
Welche Probleme mit der Stimme haben die meisten deiner Patienten?
Ich habe viele Patienten mit Sprechberufen: Lehrer, Erzieher, Menschen, die viel telefonieren. Menschen, die gegen einen großen Lärmpegel und laute Umgebungsgeräusche ankämpfen müssen, die sich über Jahre hinweg eine falsche Technik der Stimme aneignen, regelmäßig heiser sind, immer eine kratzige Stimme haben und vielleicht bestimmte Tonhöhen nicht mehr zu packen kriegen beim Sprechen. Irgendwann sitzen sie dann vor mir und sagen: Eigentlich kann ich meinen Beruf gar nicht mehr so ausüben, wie ich will. Was können wir machen, dass ich wieder zu meiner normalen Stimme komme?
Die Leute haben vermutlich einen ziemlichen Leidensdruck, oder?
Ja, aber oft fällt ihnen das erst auf, wenn das Problem schon über einen längeren Zeitraum besteht und sich Fehler über Jahre eingeschlichen haben. Umso schwerer ist es dann, die falschen Techniken wieder rückgängig zu machen.
Was sind klassische Fehler, die sich einschleichen – und wie hilfst du den Menschen da?
Wenn jemand gegen eine große Lautstärke anreden muss, spricht er oft laut und mit viel Druck. Und je lauter man spricht, desto höher spricht man. Da eignet man sich vielleicht eine falsche Tonhöhe an, die eigentlich nicht für einen gemacht ist und die den Körper ziemlich herausfordert. Ich muss viel daran arbeiten, dass der Hals-Schulter-Nackenbereich der Leute nicht verkrampft ist – und dass trotzdem ihr Körper eine gewisse Grundspannung hat. Und wir üben, wie sie richtig atmen, damit die Stimmbänder in richtige Schwingungen geraten können und sie eine präsente, kraftvolle Stimme haben, ohne laut werden zu müssen.
Wenn die Leute nach und nach merken, meine Stimme wird wieder gut, was bewirkt das für die?
Das ist ein enormer Gewinn für sie. Sie merken dann: Ich kann wieder entspannt durch den Alltag kommen. Ich kann mich auf Geburtstagen und Hochzeiten wieder normal unterhalten und bin nicht den nächsten Tag heiser. Ich kann die ganze Woche über vernünftig arbeiten, ohne abends zu Hause Stimmruhe halten zu müssen, damit sich die Stimme für den nächsten Tag wieder erholen kann. Die Übungen sind natürlich erst mal gewöhnungsbedürftig. Aber wenn die Leute merken, sie wirken, dann sind die meisten Feuer und Flamme und üben zu Hause weiter.
Machen alle gleich gut mit?
Ältere Männer denken sich manchmal: „Was erzählt die Kleine mir denn da?“ Frauen lassen sich schneller darauf ein.
Deine eigene Stimme klingt ja ziemlich kraftvoll. Als meine Frau und ich dich kürzlich bei deinem Auftritt in einer Musical-Show in der Lohner Kleinkunstbühne Chameleon gesehen haben, waren wir schwer beeindruckt. Wie empfindest du deine Stimme selbst?
Ich würde schon sagen, dass ich durch die Jahre eine sehr kraftvolle und präsente Stimme entwickelt habe. Aber das variiert. Ich habe Tage, da habe ich das Gefühl, meine Stimme ist total belegt oder kratzig und eigentlich müsste ich morgens erst mal ein bisschen Stimmarbeit machen, damit die Stimme dahin kommt, wo sie hinsoll. Und es gibt aber auch Tage, da sitzt die einfach. Das merke ich natürlich auch bei Auftritten.
Was bewirkt eine kraftvolle Stimme auf der Bühne?
Ich bin ja nicht die größte Frau, und wenn dann aus so einer Frau plötzlich so eine kraftvolle Stimme kommt, sind die Menschen oft erst mal überrascht. Diese Stimme gibt mir Selbstbewusstsein und Sicherheit, sie macht Eindruck und strahlt etwas aus. Manchmal kommt es dann gar nicht darauf an, was ich da singe – wenn ich es mit dem richtigen Klang verbinde.
Wenn du auf der Bühne stehst und dich selber singen hörst, wie ist das für dich?
Es macht mir Spaß. Ich bin mit mir selbst aber auch ziemlich kritisch.
Echt? Krass.
Ja, ich gucke immer: Woran könnte ich noch feilen, damit die Stimme noch besser klingt? Aber ich weiß auch: Ich bin keine ausgebildete Sängerin. Und ich werde mich damit abfinden müssen, dass ich nicht alles so parat habe wie jemand, der das studiert hat. Mittlerweile bin ich zum Glück schon lockerer geworden und sage mir: Ach, wenn jetzt irgendwas nicht so läuft, wie ich es mir vorgestellt habe, dann ist es halt so. Ich ärgere mich dann einen kurzen Moment, aber dem Publikum fällt’s meistens gar nicht auf.
Hat euch dieses Interview gefallen? Dann teilt es in allen sozialen Netzwerken. Empfehlt es in eurem Whatsapp-Status, auf Instagram, Facebook und LinkedIn. Geht ganz einfach – mit diesem Link:
Seid ihr neu hier und habt meinen Newsletter noch nicht abonniert? Dann tragt hier eure Mailadresse ein – und ihr bekommt automatisch alle zwei Wochen kostenlos meinen neuesten Text. Immer über die Frage, wie Veränderung eine Chance sein kann:
Bis zum nächsten Mal: alles Gute!
Andreas