„Ich bin jetzt einer von ihnen“
Wie der syrische Flüchtling Azad Kour zum bekannten Bremer wurde
Manchmal wundert sich Azad Kour, wie sehr er sein Publikum immer noch begeistert. Seit sechs Jahren steht er mit den Zollhausboys auf der Bühne, er singt und tanzt und erzählt Geschichten von Syrien und Deutschland, von Krieg und Flucht, von alter und neuer Heimat – und die Menschen kriegen nicht genug davon. Sie kommen, klatschen, machen mit. Und lassen sich berühren, Kour sieht es in ihren Gesichtern. In der Pause rufen sie: „Super! Macht weiter so!“ Nach dem Auftritt bleiben sie, um mit den Künstlern zu quatschen. „Wir sind doch nur drei Jungs, die ein bisschen von ihrem Leben erzählen“, sagt Kour. Aber sie sind, zumindest in Bremen und umzu, jetzt auch ein bisschen berühmt.
Die Geschichte von Kour (22) handelt davon, wie ein Mensch eine Veränderung meistern kann, die für viele unvorstellbar ist. Was er schaffen kann, wenn er will. Und wie er Menschen findet, die ihm helfen, alle Hürden auf seinem Weg zu überwinden.
2015 ist Kour mit seiner Familie aus seiner Heimatstadt Kobani geflohen, vor den Terroristen des IS. Niemand sei geblieben, erzählt er, nur ein paar alte Leute, die ihre Häuser nicht verlassen wollten. Mit seiner Familie kam er in ein Flüchtlingslager in der Türkei, sie blieben dort ein paar Monate. Kour fand es furchtbar. Er war 15, konnte nicht zur Schule gehen, sah keine Perspektive. „Es war unerträglich für mich da.“ Also entschied er mit seiner Familie, dass er, der älteste Sohn, die Flucht nach Europa wagt.
Angst und Abenteuer
Kour kam mit einem Schlauchboot übers Mittelmeer nach Griechenland. Dann zog er weiter – durch Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich, bis nach Deutschland. Mit dem Bus, mit der Bahn, zu Fuß. In München kaufte er sich ein Zugticket nach Bremen; er hatte gehört, die Menschen im Norden seien netter als die im Süden.
Heute sagt Kour: „Natürlich war da viel Angst, viel Hin und Her, viele Unsicherheiten. Aber es war irgendwie auch abenteuerlich, spannend, schön.“ Damals war manches nicht so leicht, wie es heute klingt. Als er in Bremen ankam, ahnte er, dass er noch lange nicht am Ziel war. Zu viele Fragen türmten sich vor ihm auf: Wo kann ich unterkommen? Wie finde ich eine Schule? Wie lerne ich Deutsch? Welche Rechte habe ich? An wen kann ich mich wenden, wenn ich Hilfe brauche? Im Kern, so erinnert er sich, kreiste alles um die Frage: „Wie schaffe ich es, dass ich nicht untergehe?“
Und? Wie hat er das geschafft? Kour überlegt, dann sagt er: „Harte Arbeit. Ehrgeiz. Und Glück. Ein bisschen Glück braucht man immer.“
„Sie hat mein Leben verändert“
Zu seinem Glück gehörte, dass er im Zollhaus landete, einer Bremer Flüchtlingsunterkunft. Ab und zu, wenn die Chefin der Unterkunft vorbeikam, trank er Kaffee mit ihr. „Ich wollte ja gerne quatschen, weil man dadurch die Sprache lernt.“ Irgendwann lud sie ihn zu sich nach Hause ein, er lernte ihre Familie kennen, eine Freundschaft wuchs. Kour fuhr mit der Familie in den Urlaub, er feierte mit ihr Weihnachten, Ostern, Geburtstage. Bis heute trifft er sie jede Woche. „Sie ist für mich wie eine Patenfamilie“, sagt er. „Sie ist ein Ort, zu dem ich immer zurückkehren kann, wenn es irgendwo mal schlecht läuft. Das ist mir sehr, sehr wichtig.“
Die Zollhaus-Chefin bat den Kabarettisten Pago Balke, mit Azad Kour und zwei weiteren jungen Flüchtlingen aus Syrien ein bisschen Musik zu machen; sie hießen Ismaeel Foustok und Shvan Sheikho. Balke holte den Musiker Gerhard Stengert dazu, und so entstanden die Zollhausboys. „Wir konnten kein Instrument spielen, wir konnten nicht singen, wir konnten keine Lieder schreiben“, sagt Kour. Die Profis Balke und Stengert haben ihnen alles beigebracht; sie wissen, wie man Musikschüler begeistert. „Davor habe ich großen Respekt: dass sie das durchgezogen haben“, sagt Kour. „Die Arbeit mit den Zollhausboys hat mir enorm geholfen. Sie hat mein Leben verändert.“
Er lernte, auf der Bühne seine Geschichte zu erzählen. Er spürte, dass ihm das in der fremden Sprache leichtfiel – weil er sich auf die einzelnen Wörter konzentrieren musste und so der Schmerz nicht so heftig hochkam. Und er merkte, wie heilsam es war, die Erinnerung an Krieg und Flucht musikalisch zu verarbeiten: „Das hat eine enorme Wirkung auf mich gehabt. Es hat mir geholfen, besser damit umzugehen.“
Eine fabelhafte Mischung
Sein Deutsch wurde schnell besser. „Ich habe dann auf der Bühne einfach irgendwelche Kommentare rausgehauen, und ich habe gemerkt, dass das Publikum darüber lacht“, erzählt er. „Ich hatte bald keine Angst mehr vor der deutschen Sprache. Sie war ein Teil von mir.“
Die Zollhausboys trafen bei den Menschen einen Nerv – mit ihrer fabelhaften Mischung aus Liedern und Geschichten, Comedy und Tanz, Spaß und Ernst. Und Kour stand vorn auf der Bühne, im Fokus, im Licht. Er lernte interessante Menschen kennen, er wurde auf der Straße angesprochen. Er spürte, dass er mit seinen Auftritten etwas bewirkt. „Ich war nicht mehr einer von vielen. Ich war nicht mehr eine Null. Ich war auf einmal eine interessante Persönlichkeit“, sagt er. „Das war ein schönes Gefühl.“
Mittlerweile ist Kour nicht mehr nur Sänger, Tänzer und Zollhausboy, sondern auch Autor. Ende 2020 hat er ein Kochbuch herausgebracht, „Salz und Sehnsucht“ heißt es. Kour gibt darin einen Überblick über die Tradition des Essens in Kobani. Präsentiert Rezepte, die schon seine Mutter von seiner Oma gelernt hat. Und erzählt persönliche Geschichten und zeigt Bilder, die ihm am Herzen liegen.
Er will Politiker werden
So verbindet Kour Menschen miteinander, Syrer und Deutsche. Durch Essen und Musik, durch Küche und Kultur. Und so hat er eine neue Heimat gefunden. „Ich bin ein richtiger Bremer“, sagt er. „Ich weiß, wie die Menschen hier ticken, wie sie reden, wie sie sind. Ich fühle mich nicht wie ein Fremder. Ich bin jetzt einer von ihnen.“ Beim Interview am Telefon geht er am Deich spazieren und sagt: „Ich könnte jetzt auch einfach mit geschlossenen Augen weitergehen, weil ich alles so gut kenne.“ Wenn Kour meint, dass er mit jemandem gesprochen hat, dann sagt er manchmal „geschnackt“; so redet nur jemand, der sich im Norden zu Hause fühlt.
Sein Abitur hat Kour mit einem Schnitt von 1,7 gemacht, jetzt studiert er Politik- und Wirtschaftswissenschaften. Und er arbeitet im Bremer Rat für Integration mit, einem ehrenamtlichen Gremium, das sich für ein gutes Zusammenleben von Zuwanderern und Einheimischen engagiert. Kour will Politiker werden. Er will helfen, das Land besser zu machen, das ihn aufgenommen hat. Er hat viel bekommen auf seinem Weg, aber er hat eben auch viel gegeben.
Er fühlt mit den Ukrainern
Kour ist sehr bewusst, wie gut es ihm in seiner neuen Heimat geht. Er spürt das besonders, wenn er die Bilder von Wladimir Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine sieht. „Ich finde die Situation dort furchtbar“, sagt er. „Ich kenne das Gefühl, das die Menschen da jetzt haben: diese Hilflosigkeit. Ich kann das total nachfühlen.“ Die Ukrainer durchleiden jetzt das, was die Syrer einst durchlitten haben.
Kour sagt, er schaue immer Nachrichten, er wolle wissen, was in der Welt passiert. Er erträgt auch die Berichte über die Ukraine. „Aber wenn über Geflüchtete berichtet wird und wenn die Menschen selbst zu Wort kommen, das ist für mich unerträglich anzuschauen“, sagt er. „Da kommt alles wieder hoch.“ Die ganzen furchtbaren Erinnerungen. Wenn bald ukrainische Geflüchtete nach Bremen kommen, will er ihnen helfen. Er hat gerade in der Uni viel zu tun, aber die Zeit für sie, die will er sich nehmen. Weil er selbst erfahren hat, wie viel solch eine Hilfe verändern kann. Und was daraus wachsen kann.
Natürlich vermisst Kour seine Familie auch heute noch, und er hofft, dass er zumindest seine Brüder irgendwann nach Deutschland holen kann. Aber bereut hat er seine Flucht nach Bremen nie. Er hat damals, vor sieben Jahren, ein neues Leben gesucht – und er hat es gefunden. Azad Kour sagt: „Ich wusste immer, dass das klappt.“
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Andreas