Seit sieben Jahren veröffentlicht Katja Dittrich unter ihrem Künstlernamen Katja Berlin die wahrscheinlich klügste und lustigste, garantiert aber kürzeste Kolumne im deutschen Journalismus: die Torten der Wahrheit in der Wochenzeitung „Die Zeit“. Im Interview hat die 42 Jahre alte Autorin mir erzählt, wie sie die Tortengrafiken erschafft – und was sie damit bewirkt.
Was wollen Sie mit den Torten der Wahrheit verändern?
Ich will den Blick verändern, wie wir auf Debatten schauen, auf gesellschaftliche, politische und soziale Fragen.
Warum können Ihre Tortengrafiken das schaffen?
Ich arbeite bei den Torten mit Humor, mit einem Augenzwinkern. Ich glaube, dass das ein besserer Ansatz ist als Wut und Empörung – das sind ja sonst die häufigsten Emotionen im öffentlichen Diskurs …
… was ziemlich nervt. Oft ist das Ausmaß von Aggression und Besserwisserei schwer erträglich.
Absolut, ja. Auf Twitter ist es wirklich furchtbar. Aber nicht nur da. Schauen Sie sich mal die Foren auf den Online-Nachrichtenseiten an, auf Spiegel.de, Zeit online oder, ganz schlimm, auf welt.de. Da herrscht selten mal ein Moment des Nachdenkens, da werden selten Gegenargumente berücksichtigt. Da wird permanent der Empörungsreflex aktiviert.
Und in diesem schlecht gelaunten Umfeld können Ihre humorvollen Torten etwas verändern?
Ja. Ich glaube, dass Humor uns entspannt und wir aufnahmebereiter sind, wenn wir unterhalten werden. Ich finde es nicht schlimm, wenn manche Debatten emotionalisiert sind; das liegt in der Natur des Menschen. Nur ist Humor halt eine produktivere Emotion. Mit Humor kann ich Leute eher dazu bringen, mal eine andere Perspektive einzunehmen, als mit zehn empörten Ausrufezeichen oder dem drohenden Zeigefinger.
Ihre Themen sind oft total ernst, aber Ihre Tortengrafiken trotzdem total lustig. Wie kriegen Sie das hin?
Das ist mein Geheimrezept (lacht).
Jetzt dürfen Sie’s verraten!
Tja, ich denke, es ist vor allem Routine. Ich mache solche lustigen Infografiken ja schon seit vielen Jahren. Und Humor ist für mich eh ein gutes Ventil, um negative Eindrücke zu verarbeiten. Ich reagiere instinktiv immer ein bisschen mit Humor – und für die Torten nutze ich das.
Kommt Ihnen die Idee für eine Torte meistens durch etwas, das Sie stört?
Ja, das ist mein erster Impuls: dass ich mich darüber ärgere, wie gerade wieder diskutiert wird, worüber diskutiert wird, auf welcher Grundlage diskutiert wird – und warum wir in der Debatte nicht schon viel weiter sind. Diesen Empörungsimpuls versuche ich dann umzuleiten in Humor.
Wie geht das konkret? Wie ist der Weg vom Empörungsimpuls zur fertigen Tortengrafik?
Es ist viel Lesen, Verstehen, Nachdenken, Recherchieren. Eine Torte ist nie das Produkt einer Fünf-Sekunden-Idee. Und es ist auch nicht so, dass ich im Supermarkt stehe und plötzlich die nächste Grafik im Kopf habe. Bis eine Grafik fertig ist, das ist ein ziemlich langer, kreativer Prozess. Wenn mich an einem Thema etwas stört, dann grüble ich stundenlang: Was ist es, das mich stört? Was ist es, das bei mir diesen Empörungsreflex auslöst? Was genau könnte besser laufen? Und irgendwann fällt es mir ein. Dann bleibe ich dran und versuche, eine Torte daraus zu machen.
Zeichnen Sie dann schon mal was auf?
Nee, ich denke mehr textlich als visuell. Ich schreibe es mir dann auf. Die Grafik als solche ist der geringste Teil der Arbeit. Die Idee und das Konzept dahinter, das ist das, was dauert.
Wie lange dauert es vom ersten Impuls bis zur fertigen Torte?
Ich schlage der „Zeit“ jede Woche sechs oder sieben Torten vor und sie drucken dann zwei oder drei – je nach Platz. Für alle Vorschläge zusammen brauche ich ungefähr zwei Tage. Der erste Tag ist: Themensammeln, Nachdenken, Gucken, wo der Ansatzpunkt ist. Dann schlafe ich eine Nacht drüber, und am nächsten Tag verfeinere ich alles und spitze es zu.
Woran merken Sie, dass Sie mit einer Torte zufrieden sind?
Zufrieden bin ich, wenn ich sie selber lustig finde. Das ist nicht bei jeder Torte so. Aber manchmal merke ich eben doch: Okay, ich muss selber drüber lachen. Dann weiß ich: Die ist richtig gut. Ich lache dann nicht über meinen Witz. Eher über den Ansatzpunkt, den ich da gefunden habe – und darüber, wie doof manche Diskussionen laufen. Dieses Lachen hilft mir, nicht zu verzweifeln.
Woran drohen Sie denn zu verzweifeln?
Zum Beispiel an der Klimadiskussion. Wir diskutieren allen Ernstes darüber, wie teuer Klimaschutz ist und dass wir uns das nicht leisten können und dass Windräder die Landschaft verschandeln. Und vergessen total, was kein Klimaschutz kostet und wie sehr uns die Klimakatastrophe erst die Landschaft verschandeln wird. Das lässt mich wirklich verzweifeln. Und diese Verzweiflung versuche ich mit dem Lachen zu kanalisieren.
Ihre Torten handeln oft von Themen, die bitter sind. Vor ein paar Wochen haben Sie eine Torte mit der Überschrift „Wer in Deutschland dafür verantwortlich gemacht wird, dass eine rechtsextreme Partei gewählt wird“. Da waren dann fünf sehr große Balken: die Linken, Merkel, die Gender-Ideologie, die Ampel, Geflüchtete. Und ein sehr kleiner Balken: Menschen mit rechtsextremen Einstellungen.
Dieses Thema ist mir sehr lange im Kopf herumgegeistert. Immer, wenn ich die Diskussion darüber mitbekam, in Talkshows, Nachrichten, Podcasts, Artikeln, habe ich gemerkt: Irgendwas stört mich. Also habe ich nachgedacht: Warum reden die eigentlich nicht darüber, dass es Menschen mit stabilen rechtsextremen Einstellungen gibt, die die AfD wählen? Warum reden die nicht darüber, dass die AfD nicht nur gewählt wird, obwohl sie rechtsextrem ist – sondern auch, weil sie rechtsextrem ist? Nach ein paar Wochen Nachdenken wurde mir klar: Da wird drumherum geredet und lieber Identitätspolitik dafür verantwortlich gemacht. Ja, das isses!
Was für eine Reaktion haben Sie sich auf diese Grafik von Leserinnen und Lesern gewünscht?
Ein Nachdenken. Und es ist tatsächlich auch so, dass ich relativ häufig Zuschriften bekomme von „Zeit“-Lesern – und da gendere ich jetzt nicht, weil es wirklich immer Männer sind. Sie schreiben mir, dass sie gerade bei Torten mit feministischen Themen ganz viel dazulernen; dass sie mir eigentlich erst mal widersprechen wollen und dann aber drüber nachdenken und ich da irgendwas anstoße. Das freut mich. Ich denke dann: Besser geht’s ja gar nicht, als wenn ich das mal schaffe, zumindest bei einigen. Das ist dann für mich eine erfüllte Arbeit.
Und eine ziemlich coole Bestätigung. Normalerweise bekommt man als Journalistin und Journalist doch eher Kritik als Lob.
Ja, ich frage mich schon immer, ob die Redaktion der „Zeit“ mir vielleicht die bösen Leserbriefe gar nicht weiterleitet. Könnte ja sein! Denn ich bekomme tatsächlich zu 95 Prozent positives Feedback.
Oha. Was steht da noch so drin?
Die meisten schreiben, dass sie sich über die Torten freuen. Dass sie sie lustig finden – und gleichzeitig aber auch immer traurig. Und das Häufigste ist: dass ich sie auf neue Gedanken bringe.
Ist eine These wie bei der Torte mit den AfD-Wählern nicht eh allen „Zeit“-Lesern klar?
Oft ist sowas den Leuten zwar klar, aber sie haben in ihrem Leben nicht die Zeit und den Luxus wie ich, dass sie mehrere Stunden über solche Fragen nachdenken können. Sondern sie übernehmen ganz viele Meinungen unreflektiert. Das ist keine Sache der Bildung, das passiert einfach. Wir plappern ganz viel nach – weil wir nicht die Zeit haben, alles immer intensiv zu durchdenken. Mir fällt da gerade noch ein anderes Beispiel ein …
… nur zu!
Die Überschrift der Torte war: „Was Frauen machen, die nicht arbeiten“. Denn man sagt das ja immer so: Die Frau arbeitet nicht. Und dann habe ich als Antworten gegeben: Bügeln. Kinder versorgen. Haushalt. Kochen. Alles, was Hausfrauen halt so machen. Die haben ja tatsächlich mehr Arbeitsstunden als Berufstätige. Nach dieser Torte haben mir viele geschrieben: „Ich habe das auch immer so gesagt: dass Frauen nicht arbeiten. Aber durch die Torte denke ich einmal kurz drüber nach und stelle fest: Ah ja, stimmt, das ist ja gar nicht so.“ Und zack, wieder ein bisschen was gelernt.
Eigentlich denkt man, Tortengrafiken vermitteln Fakten. Was bewirkt es, wenn Sie jetzt Meinungen damit transportieren?
Ich persifliere die klassischen Tortengrafiken. Wenn wir eine Infografik sehen, sind wir darauf geeicht anzunehmen: Das ist jetzt die objektive Wahrheit, und darauf können wir uns berufen. Dabei ist eine Grafik immer nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit. Bis auf Balkendiagramme von Wahlergebnissen sind kleine Infografiken für die Realitätsdarstellung viel zu unterkomplex. Und das nehme ich aufs Korn. Ich will zeigen: Torten sind eigentlich eine absolute Quatschform, die nur vermeintlich die Wahrheit zeigt und wissenschaftlich ist.
Der „Focus“ war lange berühmt-berüchtigt für seine Tortengrafiken …
… ja, genau. Und damit spiele ich. Grafisch gaukeln meine Torten einen Anspruch von Seriosität vor. In Wirklichkeit sind sie natürlich absolut subjektiv. Ich nenne sie die Torten der Wahrheit. Aber es ist natürlich nur meine Wahrheit.
Sie haben von den vielen positiven Reaktion erzählt, die Sie bekommen. Was verändern die bei Ihnen?
Ich denke: Ach, wie schön! Das Lob gibt mir Sicherheit, dass meine Kolumne in der „Zeit“ vielleicht noch ein bisschen länger laufen kann. Und was es auch verändert, ist: Ich nehme mir vor, selbst häufiger zu loben. Ich konsumiere ja auch ganz viele journalistische Texte und freue mich an der Arbeit anderer – aber ich habe lange zu wenig gelobt. Da bin ich mittlerweile offener. Oft kontaktiere ich die Leute über Social Media oder schreibe einen Kommentar unter ihren Text – und bedanke mich für ihre Arbeit.
Wie haben Sie selbst sich durch all die Jahre Torten-Ausdenken verändert?
Ich habe momentan den Eindruck: Ich verliere mehr und mehr Hoffnung. Weil ich alle die gesellschaftlichen Debatten immer so genau beobachte und durchdenke – über sieben Jahre, jede Woche. Ich mache ja nie eine Pause, ich produziere sogar im Urlaub meine Torten.
Torten vorzuproduzieren hat für Sie keinen Sinn?
Nein. Ich will ja immer gucken: Was sind die aktuellen Themen? Und Vorproduzieren funktioniert bei mir eh nicht. Da blockiert mein Gehirn. Ich brauche Deadline und Druck. Ich mache das ja auch gerne. Frustrierend ist es trotzdem auf die Dauer – weil ich bei Debatten oft denke: Darüber müssen wir immer noch reden? Ernsthaft?
Was genau frustriert Sie? Dass die Debatten so langsam gehen oder dass die Politiker notwendige Entscheidungen einfach nicht treffen, obwohl die Fakten längst klar sind, wie in der Klimakrise?
Vor allem frustriert mich, wenn ich feststelle, wie schlimm wichtige Debatten immer wieder gekapert werden. Ich hatte zum Beispiel mal eine Grafik darüber, dass das Gendern im Fernsehen so viel mehr Empörung hervorruft als das Artensterben …
… dabei bedroht das Artensterben unsere Existenz – das Gendern eher nicht …
… und ich frage mich dann: Haben wir keine anderen Probleme? Das nimmt mir tatsächlich ein bisschen die Hoffnung. Auf der anderen Seite passiert schon auch viel. Corona hat ja gezeigt: Wenn eine Krise kommt, dann sind Menschen lernfähig und können sich ändern. Und wenn die Klimakrise jetzt noch schlimmer wird, dann wird Veränderung passieren. Wir können ja nicht immer so weitermachen.
Wie schaffen Sie es, Hoffnung zu schöpfen, wenn Sie mal sehr hoffnungslos sind?
Ich mache Atemübungen. Denke nach. Schiebe die destruktiven Gedanken mal ein bisschen zur Seite und konzentriere mich aufs Positive. Journalismus konzentriert sich ja sehr oft auf negative Aspekte.
Leider, ja.
Dabei gibt es bei jedem Problem auch Lösungsansätze – und Beispiele, die zeigen, wie etwas besser werden kann. Nach diesen Positivbeispielen müssen wir suchen. Dann erkennen wir, dass sich Dinge eben doch ändern können und dass vielleicht nicht alles immer so schwarz ist, wie es im ersten Moment erscheint.
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Bis zum nächsten Mal: alles Gute!
Andreas