Bei den jüngsten Landtagswahlen in Ostdeutschland haben dramatisch viele junge Menschen die rechtsextreme AfD gewählt. Wie kann das sein? Warum ist sie besonders für junge Männer attraktiv? Und was könnten die demokratischen Parteien dagegen tun? Benn Kaletta (19) aus Lohne hat sich dazu Gedanken gemacht.
Was hast du gedacht, als du gehört hast, dass die AfD bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg bei jungen Wählern massiv Stimmen gewonnen hat?
Vor allem habe ich da ganz viel Angst und Unverständnis gespürt. Ich habe vor kurzem einen Film über die Nazi-Zeit gesehen. Besonders die Aussage einer Holocaust-Überlebenden ist mir im Kopf geblieben: „Ihr seid nicht für das verantwortlich, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“ Nach den Landtagswahlen hatte ich das Gefühl: Viele junge Menschen sehen diese Verantwortung nicht. Sie vergessen, was damals war – und wofür die AfD heute steht.
Wofür steht sie denn?
Die AfD ist eine Schande für unser Land. Sie verbreitet Fake News zum Klimawandel. Ihr früherer Vorsitzender Alexander Gauland hat den Nationalsozialismus als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte verharmlost. Und jetzt schreibt die AfD auf Wahlplakate Sprüche wie: „Sommer, Sonne, Remigration“. Sie will Menschen, die unser Land mitaufgebaut haben und seit Jahrzehnten hier leben, einfach rauswerfen und ihnen sagen: Ihr gehört nicht zu uns. Das finde ich pervers. Das hat für mich ziemlich viel von der Rassenlehre, die man aus der NS-Zeit kennt. Ich frage mich: Warum haben junge Menschen das Gefühl, sie müssen diese Partei wählen?
Und? Was ist deine Antwort?
Die etablierten demokratischen Parteien, CDU und SPD, FDP und Grüne, haben’s in den vergangenen Jahren einfach sehr grundsätzlich bei den jungen Leuten vergeigt. Sie haben sich viel zu lange viel zu wenig für sie interessiert.
Bei welchen Themen zum Beispiel?
In der Corona-Zeit sind wir jungen Menschen von der Politik alleingelassen worden. Einmal im halben Jahr haben wir irgendeinen Brief vom Kultusminister bekommen, wo drinstand: „Ihr macht das ganz toll!“ Ja, schönen Dank auch! Jetzt wird über die vielen Long-Covid-Fälle gesprochen, aber über die seelischen Verletzungen, die Corona bei Kindern und Jugendlichen hinterlassen hat, spricht niemand. Dabei haben so viele von ihnen aktuell mit Depressionen, Essstörungen und Burnout zu kämpfen. Und Corona ist ja nicht das einzige Problem.
Wo fühlt ihr euch noch vergessen?
Uns wird jetzt schon gesagt, dass wir später quasi gar keine Rente bekommen werden. Wir sehen, dass es langsam unbezahlbar wird, ein Haus zu bauen. Wir sollen eine Familie gründen, was aber auch immer teurer wird. Wir sollen den richtigen Job unter Millionen Möglichkeiten finden, bekommen in der Schule aber oft null Orientierung, weil da überhaupt nicht praxisorientiert gearbeitet wird. Ich glaube, ganz viele junge Menschen sind einfach sehr verunsichert und haben Angst – zumal da auch noch all die großen Krisen sind, vom Klima bis zum Krieg in der Ukraine. Und manche sagen dann halt: Warum nicht mal AfD? Zudem sie auf Instagram und TikTok von der AfD viel mehr angesprochen werden als von den anderen Parteien.
Die sind in den sozialen Netzwerken längst nicht so aktiv.
Genau. Die AfD spricht natürlich nur über Probleme und hat für nichts eine Lösung. Sie haut nichts als Sprüche raus. Aber auf Instagram und TikTok kriegt sie junge Leute damit. Die hinterfragen ihre Behauptungen oft nicht und fallen auf die AfD rein. Das ist total gruselig, aber es ist irgendwie auch kein Wunder.
Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer hat in einem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung vor kurzem geschrieben: „Wenn sich insbesondere junge Männer von dieser Partei angesprochen fühlen, liegt das auch daran, dass das autoritäre, nationalistische und radikale Angebot der AfD idealtypisch einem Habitus entspricht, der sich durch Stärke, Dominanz und Überlegenheit definiert. Dieser Habitus wird umso attraktiver, je stärker Unterlegenheitsgefühle und Verunsicherungen spürbar werden.“ Klingt das für dich schlüssig?
Absolut, ja. Ich glaube, das Angebot der AfD funktioniert vor allem, weil bei vielen jungen Männern diese große Verunsicherung da ist. Sie sehen all die Krisen um sich herum. Und merken: Ich weiß noch gar nicht genau, wer ich eigentlich bin. Dann kommt die AfD und sagt ihnen: Du bist ein Mann, wenn du rechts bist und wenn du das Gendern, die Schwulen und die Lesben ablehnst. Dann kriegst du auch eine Freundin. Sie gibt ihnen dadurch scheinbar einen Halt und eine Identität.
In einem Videoprojekt hast du mit einem Team des Artlab Lohne analysiert, wie die AfD junge Männer gewinnen will. Im Video klingt es, als ob sich dein eigenes Männerbild im Laufe der Jahre ganz schön verändert hat.
Das stimmt. Als ich 13, 14 war, war ich viel auf Instagram und TikTok unterwegs und bekam dort ein sehr klares Männerbild vorgespielt: Ein echter Mann ist muskulös, er hat einen definierten Körper, er ist stark. Und er weint nicht, er zeigt keine Gefühle, er ist nicht einfühlsam. Er ist der Fels in der Brandung, der das Geld ranholt und von seiner Frau bekocht wird.
Wie hat dieses Männerbild auf dich gewirkt?
Es hat mich sehr getroffen, dass die Bedeutung der Muskeln so betont wurde, weil ich immer gesagt bekommen hatte: „Ey, du Bohnenstange!“ Jetzt hatte ich das Gefühl, ich muss Muskelmasse gewinnen, damit ich mehr wahrgenommen werde. Mit 16, in der Corona-Zeit, habe ich mir Geräte für zu Hause geholt und trainiert.
Und dann?
Ich hatte zu der Zeit nicht so richtig eine Gruppe, zu der ich gehörte. Doch dann hatte ich das Glück, dass meine beste Freundin gesagt hat: „Hey, komm doch mal zu unserer Clique mit!“ So hab ich eine Gruppe gefunden, die mich sehr herzlich aufgenommen hat. Und da hab ich gemerkt: Denen ist das völlig egal, wie muskulös ich bin und wie stark ich rüberkomme. Hier kann ich einfach ich sein.
In der Musical- und in der Theater-AG des Gymnasiums, wo du seit Jahren mitmachst, wurde dieses gute Gefühl wahrscheinlich verstärkt, oder?
Ja, denn da durfte jeder sein, wie er ist. Das Gefühl war immer: Cool, dass du dabei bist! Das war eine Wahnsinnsgemeinschaft. Ich habe gemerkt, wie gut mir das getan hat.
In dieser Gemeinschaft dürfen wahrscheinlich auch Männer Gefühle zeigen, oder?
Na klar! Ich war schon immer ein sehr, sehr emotionaler Mensch. Aber heute umarme ich viel öfter als früher Leute und sage ihnen zum Beispiel nach dem Ende eines Musical-Jahres: „Ey, das war eine richtig schöne Zeit hier mit dir. Ich bin dankbar dafür, was wir hier gemeinsam geleistet haben.“
Dein Bild davon, was männlich ist, hat sich also stark verändert?
Auf jeden Fall, ja. Und in der Theater-AG konnte ich mich wunderbar ausleben. In einem Stück hatte ich zehn Rollen: Ich war zum Beispiel ein schwuler Drogendealer, ein Polizist, ein Lehrer, ein Musterungsarzt. Ich hatte das Gefühl, ich kann alles sein.
Wie hat das Theaterspielen dich noch gestärkt?
Vorher hat mich oft der Gedanke verunsichert: Was denkt der oder die wohl von mir? Das hat sich durchs Theater total gewandelt. Da stand ich in einer Szene in der Unterhose vor den Leuten, ich habe mich ganz bewusst aus meiner Komfortzone bewegt und mir gesagt: Okay, ich mach jetzt hier mein Ding und die Leute müssen’s einfach akzeptieren. Das hat mir sehr geholfen.
Was hast du durch die Produktion eures Videos über Männlichkeit gelernt?
Vor allem habe ich gelernt, dass Männlichkeit sehr individuell ist. Ich finde es schade, dass Männlichkeit bei vielen so reduziert ist auf Starksein und so. Dass seit Generationen gesellschaftlich vorgegeben wird, wie ein Mann zu sein hat. Viel schöner wäre doch, wenn jeder für sich selbst bestimmen kann, was Männlichsein für ihn bedeutet.
Zum Beispiel?
Es ist natürlich völlig okay zu sagen: Mann sein heißt für mich Frau und Familie, einen guten Job, Haus und Kinder zu haben. Ich finde das auch erstrebenswert. Aber eigentlich müssten wir dahinkommen, dass Männer auch sagen können: Für mich bedeutet Männlichsein, dass ich mich schminke oder mir die Fingernägel schön mache – weil ich dadurch meine Persönlichkeit zeige. Durch unser Projekt ist mir klargeworden: Die AfD verkürzt das Männerbild total und ist dadurch für verunsicherte junge Männer so attraktiv. Und so gefährlich.
Was für ein Feedback habt ihr auf euer Video über die AfD und ihr Männerbild bekommen?
Es ist mehr als 16.000-mal angeschaut worden. Ich hätte nie gedacht, dass es so viral geht. Und 99 Prozent des Feedbacks waren positiv. Aber eine Freundin hat mir auch erzählt, dass ein Kumpel von ihr gesagt hat: „Was, Benn will mir was über Männlichkeit erzählen? Natürlich gehört körperliche Stärke dazu! Willst du in 10, 15 Jahren einen Mann wie mich haben – oder so ein verweichlichtes schwules Arschloch wie Benn, der sich am Ende noch darum kümmert, dass die Kinder ins Bett kommen?“
Was hast du da gedacht?
Da habe ich gemerkt: Es scheint einige doch sehr zu treffen, was wir da ansprechen. Und ich dachte: Alter, wie traurig! Ich will mich später sehr, sehr gerne darum kümmern, dass meine Kinder gut ins Bett kommen. Und ich will mich natürlich auch im Haushalt einbringen, das ist für mich selbstverständlich.
Was bräuchten verunsicherte junge Männer, die mit der AfD sympathisieren, um aus der rechten Ecke wieder rauszukommen?
Vor allem muss die Politik uns junge Menschen endlich ernstnehmen und uns das Gefühl geben: Hey, wir sehen euch! Aktuell gibt nur die AfD den jungen Leuten durch ihre Videos dieses Gefühl, die etablierten demokratischen Parteien nicht. Und dann sagen viele Jugendliche sich: Okay, die interessiert’s anscheinend nicht, was wir von der heutigen Welt halten und was wir verändern wollen. Dann wählen wir halt AfD.
Was sollten die Parteien konkret tun?
Sie müssten sich ganz bewusst mit den Themen junger Menschen auseinandersetzen. Sie müssten zum Beispiel den Klimawandel endlich konsequent bekämpfen und Ideen und Ziele entwickeln, die dafür realistisch sind. Das ist, glaube ich, generell ein Problem der Politik: dass sie zu wenige realistische Ziele setzt.
Wo fällt dir das zum Beispiel auf?
Zum Start der Ampelregierung hat unsere Bundesbauministerin Klara Geywitz gesagt: Wir bauen 400.000 Wohnungen pro Jahr und davon sollen 100.000 Sozialwohnungen sein. Dieses Ziel hat die Regierung meilenweit verfehlt. Und das verunsichert besonders junge Menschen dann noch mehr.
Was könnten die Parteien noch tun?
Viele junge Menschen wünschen sich, dass sie in Jugendparlamenten auf kommunaler Ebene mitbestimmen dürfen. Die Politiker müssten sich Zeit für uns nehmen und uns fragen: Was sind eure Anliegen? Was wollt ihr an eurer Stadt verändern? Wo seht ihr Potenzial? Das würde schon ganz viel verändern.
So, liebe Leute, eine Bitte habe ich jetzt noch: Helft mir, den jungen Menschen eine Stimme zu geben! Teilt dieses Interview in allen sozialen Netzwerken! Empfehlt es in eurem Whatsapp-Status, auf Instagram, Facebook und LinkedIn. Geht ganz einfach – mit diesem Link:
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Bis zum nächsten Mal: alles Gute!
Andreas