Die Welt verändert sich rasend schnell, das System Schule aber wirkt starr – und oft wie aus der Zeit gefallen. Nora Oehmichen (51), Bundesvorsitzende der Teachers for Future, will dieses System modernisieren. Sie wirbt für neue Formate, durch die Jugendliche lernen, zu einer nachhaltigen Welt beizutragen. Was ihnen das bringt, hat sie mir im Interview erzählt.
Wie müssten Schulen sich in Zeiten der Klimakrise verändern?
Sie müssen sich definitiv all dem stellen, was jenseits der Schultüren da draußen in der Welt passiert. Da ist ja nicht nur die Klimakrise, sondern da sind auch die Demokratiekrise und der Krieg in Europa – viele miteinander verwobene Krisen, bei denen man immer weniger Zeit hat, Luft zu schnappen.
Inwiefern stellen sich die Schulen diesen Krisen?
Die Uni Heidelberg hat 2021 in einer Studie sämtliche Bildungspläne in allen Bundesländern und Schularten analysiert auf die Frage hin, wie stark das Thema Klimakrise da verankert ist. Ergebnis: Es ist schon mehr oder weniger stark Thema.
Das ist doch gut.
Ja, aber die Lösung ist ja nicht, dass man jetzt überall nur noch über die Klimakrise spricht und dazu ganz viel klassischen Unterricht macht. Uns fällt zunehmend auf: Wenn man mit dem Thema Klima beginnt, kommt als Reaktion oft „Och, nee, nicht schon wieder!“ Das ist ja auch verständlich, die Jugendlichen haben schließlich Jahre der Frustration erlebt, in denen die Proteste von Fridays for Future verpufft sind und die Regierung nicht entsprechend gehandelt hat. Klar ist: Nur weil wir alles über diese Krise wissen, handeln wir noch nicht.
Das zeigt sich im Großen wie im Kleinen: Die Politik tut viel zu wenig gegen die Erderhitzung, und viele Menschen sind nicht bereit, ihren Lebensstil so zu verändern, wie es notwendig wäre.
Genau. Wir kommen nicht schnell genug ins Verändern. Deshalb sollte Schule sich fragen: Wie können wir Kinder und Jugendliche dazu befähigen, Veränderung nicht als Bedrohung wahrzunehmen, sondern als Chance? Welche Kompetenzen brauchen Lehrkräfte, um das vermitteln zu können? Und welche anderen Lernformate und Methoden brauchen wir dafür?
Was sind Ihre Antworten?
Zunächst brauchen wir ein Umdenken zu der Frage: Was ist überhaupt Schule? Wie funktioniert Schule? Welche Regeln gelten da? Unser Schulsystem ist zur Zeit der Industrialisierung entstanden und es gibt ja auch tatsächlich viele Parallelen zur Fabrik: Kinder und Jugendliche werden in altersgleichen Gruppen da reingepackt, sie durchlaufen ein in verschiedene Fachabteilungen aufgeteiltes, standardisiertes Programm, am Ende schreiben alle dieselben Klassenarbeiten, es gibt eine Note – und das Ziel ist dann, möglichst hoch zu punkten. Wenn das irgendwann mal einen Sinn gehabt hat: Spätestens seit der Erfindung von Internet und Künstlicher Intelligenz brauchen wir andere Lernformate.
Zum Beispiel?
Ein Format, das wir stark unterstützen, ist der FreiDay. Der funktioniert relativ simpel: Ein Zeitraum von vier aufeinanderfolgenden Schulstunden, also 180 Minuten, wird in der ganz normalen Schulzeit am Vormittag freigeschaufelt. Das heißt konkret: Diese Zeit ist frei von Fachunterricht und auch frei von Benotung. Und: Der FreiDay läuft nicht nur für ein oder zwei Projektwochen, sondern über ein ganzes Schuljahr.
Und was passiert da?
Schülerinnen und Schüler bekommen die Möglichkeit, in Projekten zu arbeiten zu Themen, die ihnen unter den Nägeln brennen und die andocken an die 17 Ziele für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen. Sie arbeiten in Gruppen von etwa drei bis sieben Jugendlichen, gern auch klassen- und jahrgangsübergreifend. Und alles ist sehr, sehr konkret.
Inwiefern?
Beim FreiDay geht es nicht darum, eine Power-Point-Präsentation oder Plakate zu erstellen. Sondern darum, sich umzuschauen, an der eigenen Schule oder in der eigenen Kommune: Wo laufen da Dinge schief? Wo hätten wir gern Dinge anders? Wo würden wir gern im Sinne von Nachhaltigkeit positive Veränderungen bewirken?
Zu den 17 Zielen der Vereinten Nationen gehören: Armut und Hunger beenden und Ungleichheiten bekämpfen, Selbstbestimmung der Menschen stärken, Geschlechtergerechtigkeit und ein gutes und gesundes Leben für alle sichern, Klimawandel bekämpfen, natürliche Lebensgrundlagen bewahren, Menschenrechte schützen. Die Jugendlichen haben also viele Möglichkeiten für ihr Projekt, oder?
Absolut, ja. Sie können in ihrem Projekt fragen: Was könnten wir im Umgang mit unserer Umwelt verbessern? Aber auch: Was könnten wir im Umgang miteinander verbessern?
Wie gehen die Gruppen vor?
Sie holen sich Expertise ein. Sie überlegen: Wer kennt sich mit unserem Thema aus? Da bin ich als Lehrkraft schlagartig nicht mehr die Person, die alles weiß. Sondern vielleicht jemand aus der Wissenschaft, dem Handwerk, dem Journalismus. Einmal hatten wir ein Projekt zu Fake News, da haben die Jugendlichen eine Redakteurin der Lokalzeitung befragt. Sie verlassen also die Schule und gehen raus in die Welt.
Was bringt das?
Sie lernen all das, was im normalen Fachunterricht in der Regel unter den Tisch fällt, was aber gerade in der krisenhaften Welt von heute so wichtig ist: Gestaltungskompetenz, Handlungskompetenz, Umgang mit Frustrationserlebnissen, Scheitern und Wieder-Anfangen. Möglich wird das dadurch, dass der FreiDay ein notenfreier Raum ist. Ich habe selbst erlebt, wie anders der Austausch mit den Schülern wird, wenn allen klar ist, dass ich ihnen am Ende keine Note dafür gebe.
Inwiefern war der Austausch anders?
Sie haben offener gesprochen, weil sie wussten: Wir dürfen eine Idee haben und diese Idee darf scheitern. Und dann dürfen wir uns überlegen: Warum ist sie gefloppt? Was haben wir da übersehen? Und was können wir im zweiten Versuch anders machen?
Haben Sie ein Beispiel dafür?
An der Schule einer Kollegin in NRW gab es zum Beispiel einen Klima-Rat. Da haben die Schülerinnen und Schüler gesagt: Wir finden, unsere Schule hat einen viel zu hohen Energieverbrauch – dadurch, dass den ganzen Sommer durchgeheizt wird. Wir wollen die Heizung austauschen. Die betreuenden Lehrer haben sich gedacht: Das könnte vielleicht eine Nummer zu groß sein. Dann sind sie ins Gespräch gekommen und haben gesagt: Okay, vielleicht nicht eine neue Heizung, aber zumindest über den Sommer die Heizung abstellen.
Warum ist die Heizung überhaupt im Sommer gelaufen?
Weil die Mensaküche warmes Wasser brauchte und das mit der Heizung gekoppelt war. Die Schüler haben sich dann Expertise eingeholt, sind in den Gemeinderat gegangen, haben ihr Anliegen eingebracht. Erst mal sind sie krachend gescheitert, weil die meisten Fraktionen gesagt haben, ein Umbau kostet zu viel Geld.
Waren die Jugendlichen da nicht frustriert?
Genau diese Angst haben viele Lehrkräfte, die nicht dafür ausgebildet sind, solche Projekte anzuleiten: Wenn die Schülerinnen und Schüler scheitern, haben die bestimmt keinen Bock mehr. Aber tatsächlich, und diese Erfahrung haben wir vielfach gemacht, ist das nicht so. Frustrationserlebnisse in solchen Formaten führen nicht zu Bocklosigkeit und Rückzug, sondern eher zum Gegenteil. Also dazu, dass sie ihr Ziel erst recht erreichen wollen.
Wie haben sie das bei dem Heizungsproblem gemacht?
Sie haben sich gesagt: Okay, der Stadtrat hat das abgelehnt – und jetzt? Sie sind an die Presse gegangen, haben nachgefasst, haben mit den Fraktionen gesprochen, die am ehesten zugestimmt hätten. Ein paar Monate später haben sie dann exakt denselben Antrag noch einmal eingebracht, und da ging er durch. Und der vergangene Sommer war der erste, in dem die Kreisläufe getrennt waren und die Heizung abgestellt werden konnte.
Woran merken Sie im Laufe so eines Projekts, dass sich bei den Schülerinnen und Schülern im Kopf etwas ändert?
An ihrem Engagement. Einer der ersten Vorbehalte, der von Seiten von Kolleginnen und Kollegen häufig kommt, wenn man in Richtung von Freiraum-Formaten denkt, ist: Wenn’s dafür keine Note gibt, dann machen die doch nix. Unsere Erfahrung ist aber: Das stimmt nicht. An meiner früheren Schule hatten wir bei einem Freiraum-Projekt etwas mehr als 20 Projektgruppen. Und lediglich zwei Gruppen haben sich entzogen und kaum was gemacht.
Verglichen mit dem herkömmlichen Unterricht finde ich das ziemlich wenig.
Absolut. Die allermeisten Schülerinnen und Schüler haben also konsequent an ihren Projekten gearbeitet. Und etliche Gruppen haben sogar deutlich mehr Zeit investiert, als verlangt gewesen war. Sie haben zum Beispiel nicht nur einen Politiker interviewt, sondern mit sämtlichen Fraktionen gesprochen. Sie haben nicht nur mit einer Influencerin zu ihrem Thema gezoomt, sondern gleich mit dreien. Sie haben nicht nur einen 15-Minuten-Clip über Fluch und Segen von Instagram gemacht, sondern eine 45-minütige Doku geschnitten – und sie haben sich dafür in ein professionelles Schnittprogramm reingefuchst und dabei unfassbar viel gelernt.
Das klingt, als ob sie richtig Lust darauf hatten.
Genau. Die Schülerinnen und Schüler haben sich selber ausgesucht, womit sie sich beschäftigen wollen, sie haben fantastische Ergebnisse erzielt, und sie haben die Erfahrung gemacht: Hey, wir können was bewirken! Wir haben Freiraum, wir können gestalten, wir können Dinge verändern. Es ist einfach großartig, auf diese Art und Weise was zu lernen. Alle beteiligten Kolleginnen und Kollegen haben in dieser Art von Lernformat realisiert, dass die Jugendlichen sich viel stärker mit ihren Themen identifizieren als im normalen Unterricht, wo der Lehrer einfach das durchzieht, was im Plan steht. Und eigentlich ist das ja auch nur logisch.
Wie hilft den Jugendlichen das noch?
Sie lernen dadurch nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch, wie Demokratie funktioniert. Und sie üben ganz konkret ein, was sie tun müssen, um in einer Demokratie ihre Anliegen durchzusetzen. Sie verstehen durch das Projekt: Welche Strategie brauchen wir? Wer ist für unser Thema in der Stadtverwaltung oder beim Landkreis verantwortlich? Wie sprechen wir am besten mit einer Politikerin? Wie kommen wir zum Erfolg? Wenn sie ihr Ziel erreichen, bekommen sie auch ein größeres Vertrauen in unsere Demokratie – weil sie erfahren haben, dass sie eine Veränderung bewirken können. Das ist besonders wertvoll, weil die meisten Schulen ja ansonsten eher hierarchische, undemokratische, nur vermeintlich partizipative Orte sind.
Wo kommen die vier Stunden für ein Freiraum-Lernformat wie den FreiDay her?
Das ist ganz unterschiedlich. In meiner ehemaligen Schule war das zum Beispiel ein fächerübergreifendes Projekt der Fachschaften Religion, Ethik, Geschichte und Gemeinschaftskunde. Das heißt: Stunden aus diesen Fächern sind da eingeflossen. Andere Schulen sagen: Bei uns ist eine Doppelstunde jetzt nicht mehr 90 Minuten lang, sondern nur noch 80 – und die zehn Minuten, die von jeder Stunde übrigbleiben, die nehmen wir als Zeit für den FreiDay. Super wäre, wenn alle Kultusministerien sagen würden: Wir pflegen die vier Stunden für das Projekt von vornherein ein und verschlanken dafür die Inhalte des Bildungsplans an anderen Stellen. Dann müssten sich Schulleitungen keine Gedanken mehr darüber machen.
Im Moment braucht es wahrscheinlich noch viel Mut, um Freiraum-Formate einzurichten, oder?
Leider ja. In fast jedem Bundesland begibt man sich, wenn man in diese Richtung denkt, in eine rechtliche Grauzone. Das hält die meisten Schulen bisher davon ab. Wir setzen uns dafür ein, dass diese Rechtsunsicherheit abgebaut wird. Dann würden deutlich mehr Schulen den Schritt wagen. Und das wäre wichtig, denn diese Freiraum-Formate sind ja nicht nur gut für die Welt, sondern sie stärken auch die Jugendlichen selbst. Und als Lehrkraft realisiert man: Ich lerne zusammen mit den Schülerinnen und Schülern Neues.
Sie klingen sehr engagiert. Was treibt Sie an bei Ihrem Einsatz für Veränderungen in der Schule?
Ich merke zunehmend, das System Schule pfeift auf dem letzten Loch – mit dem Lehrermangel, mit den Stresserkrankungen bei Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften und mit Schwerpunkten und Methoden, die überhaupt nicht mehr in unsere Welt passen. Es tut mir oft einfach weh, Teil dieses in vielem toxischen Systems zu sein und Dinge zu sehen, von denen ich weiß, die sind nicht gut. Das treibt mich an, Schule anders zu machen.
Wie sehr kann Schule denn helfen, die Welt zum Besseren zu verändern?
Das renommierte Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hat Bildung als einen wesentlichen Hebel für die sozial-ökologische Transformation benannt, die wir brauchen, um die Klimakrise aufzuhalten. Schulen können also dazu beitragen, dass diese Transformation schneller vorangeht. Sie sollten nicht einfach pseudo-neutrale Orte sein, sondern ein Motor des Wandels werden. Sie könnten den Wandel aktiv unterstützen und helfen, Mentalitäten zu verändern.
Glauben Sie, dass über die Jugendlichen das nachhaltige Denken auch bei ihren Eltern ankommt?
Bei einigen ist es ja bereits angekommen. Auf Klimademos ist die Elterngeneration mittlerweile deutlich stärker vertreten als zu Beginn von Fridays for Future, und auch in anderen Teilen der Klimagerechtigkeitsbewegung engagieren sich Menschen aus allen Altersgruppen. Aber da, wo das nicht so ist, brauchen wir auch diesen Generationenkonflikt und diese Auseinandersetzung, ja. Und ich erlebe immer wieder, dass die Jugendlichen definitiv mit ihren Eltern diskutieren und fragen: „Was habt ihr eigentlich die letzten 20 Jahre gemacht? Warum habt ihr euch nicht schon früher für Klimaschutz eingesetzt, obwohl man längst weiß, wie dramatisch die Lage ist?“ Diese Fragen sind natürlich unbequem, aber gerade deshalb finde ich es wichtig, dass sie gestellt werden.
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Bis zum nächsten Mal: alles Gute!
Andreas