„Hey, Sport kann mein Leben sein“
Wie Denise Schindler gegen alle Widerstände zur Weltklasse-Athletin geworden ist
Im Alter von zwei Jahren ist Denise Schindler bei Glatteis unter eine Straßenbahn gekommen. Nach dem Unfall musste ihr der rechte Unterschenkel amputiert werden. Heute ist sie eine erfolgreiche Radsportlerin, hat Weltmeistertitel und mehrere Medaillen bei den Paralympics gewonnen. Im Interview hat die 37 Jahre alte Athletin mir erzählt, wie sie es geschafft hat, die radikale Veränderung ihres Lebens als Chance zu sehen.
Wie hat der Unfall damals Dein Leben geprägt?
Ich bin dadurch einen ganz anderen Weg gegangen, der mit sehr viel mehr Widerständen gespickt war.
Wie bist Du mit den Widerständen umgegangen?
Ich hatte immer die Wahl. Ich konnte sagen: „Ist alles unfair und gemein, was mir passiert ist.“ Oder ich konnte sagen: „Okay, blöd gelaufen – und jetzt versuche ich, das Beste draus zu machen.“
Wie hast Du es geschafft, Dich für die zweite Variante zu entscheiden?
Meine Eltern haben mir sehr dabei geholfen. Sie waren streng zu mir, und das war mein Riesenglück – obwohl ich es als Kind natürlich total doof fand. Sie haben immer gesagt: „Denise, Du wirst es nicht leicht haben im Leben und Du wirst härter für Deine Ziele arbeiten und mehr liefern müssen als andere. Denn Du bist behindert.“ Damit haben sie recht gehabt.
Inwiefern waren sie streng?
Sie haben mich zum Beispiel gezwungen, aufs Gymnasium zu gehen. Ich wollte eigentlich auf die Realschule, weil da alle meine Freundinnen hingegangen sind. Aber meine Eltern haben gesagt: „Du hast die Noten. Du hast die Voraussetzungen. Du musst Abitur machen, studieren und mit Deinem Kopf Geld verdienen.“ Und wenn ich mal wieder aus dem Krankenhaus kam nach einer Operation, dann haben sie mich nie in Watte gepackt. Ich muss dazu sagen: Bis zu meinem 13. Lebensjahr bin ich fast jedes Jahr operiert worden.
Und was war dann, wenn Du aus dem Krankenhaus zurückgekommen bist?
Dann haben sie gesagt: „So, jetzt bist Du wieder zurück. Ab jetzt hier, Tisch decken.“ Und ich saß da im Rollstuhl und hab gedacht: „Wie soll ich denn das jetzt machen?“ Da haben sie gesagt: „Teller auf den Schoß – und los geht’s.“
Wie hat’s geklappt?
Beim ersten Mal sind die Teller runtergeflogen, beim zweiten oder dritten Mal nicht mehr. Ich hab’s irgendwie hingekriegt. Die Strenge meiner Eltern hat mir sehr geholfen, nicht in einen Opfermodus zu gehen, sondern die Verantwortung für mein Leben zu übernehmen. Auch später für meinen Weg als Sportlerin war das wertvoll.
Inwiefern?
Weil diese Mentalität im Sport ja extrem wichtig ist: nicht rumjammern, sondern machen. Und wenn’s mal keinen Weg gab, dann hab ich mir halt einen gesucht. Aber natürlich war mein Lebensweg oft hart und nicht immer nur schön.
Du bist im Kindergarten und in der Schule wegen Deiner Behinderung gehänselt worden. Wie hast Du gelernt, damit klarzukommen?
Das hat Zeit gebraucht. Ich habe nicht von Anfang an gesagt: „Ist mir alles egal. Ich bin so, wie ich bin – und alles ist toll.“ Als Teenie habe ich fast immer lange Hosen angezogen, damit keiner merkt, dass ich eine Prothese trage. Ich habe versucht, eine Schutzwand um mich herum aufzubauen. Erst nach und nach habe ich verstanden: Wenn jemand wirklich ein Problem damit hat, dass ich humpele, dann ist das sein Problem – und nicht meins.
Wie meinst Du das?
Wenn mich mal wieder jemand gehänselt hat, habe ich mir irgendwann gesagt: Wenn man ehrlich ist, dann ist es doch so, dass er mich kleinmachen muss, um selber größer dazustehen. Er lässt einen blöden Spruch, ohne meine Geschichte zu kennen – und ohne zu wissen, dass ich froh bin, überhaupt noch am Leben zu sein. Ich habe mich gefragt: Findest Du diesen Menschen wirklich so toll, dass Du Dir diese Aussagen wirklich zu Herzen nehmen musst?
Ich vermute, die Antwort war: nö.
Genau. Ich habe gelernt, selbst zu entscheiden, wie sehr ich etwas an mich ranlasse. Aber natürlich gelingt das nicht immer.
Wann zum Beispiel nicht?
Als Jugendliche im Freibad bin ich immer begafft worden. Das war schon sehr unschön. Manchmal wollte ich ins Wasser gehen und habe es dann doch gelassen – weil ich wusste: Von dem Moment, wo ich von der Wiese aufstehe, bis zu dem Moment, wo ich im Wasser bin, schauen mich alle in diesem Freibad an, mich mit meiner Prothese. Heute finde ich es schade, dass ich mich da so eingeschränkt habe.
Nach dem Abitur hast Du beim Spinning im Fitnessstudio Deine Lust am Radfahren entdeckt – und bist schließlich Leistungssportlerin geworden. Wie hat der Sport Deinen Blick auf Deinen Körper und Deine Behinderung verändert?
Mir hat der Sport sehr geholfen auf dem Weg, selbstbewusster zu werden und entspannt mit meinem Körper umzugehen. Dass ich irgendwann als Frau mit anderthalb Beinen bei den Männern vorne mitfahren konnte und den einen oder anderen sogar stehen lassen konnte, das fand ich natürlich klasse. Das hat mir Selbstbewusstsein gegeben. Der Radsport ist ein totaler Booster für mich und ein Gefühl von Freiheit. Und er hat außerdem was wahnsinnig Meditatives.
Inwiefern?
Auf dem Rad bin ich stundenlang unterwegs, kann viel nachdenken und meine Gedanken sortieren. Ich kann mich mit meinem Leben auseinandersetzen. Und ich spüre meinen Körper. Ich bin in der Natur stundenlang bei Wind und Wetter. Am Anfang war es natürlich eine Katastrophe, weil ich überhaupt keine Ausdauer hatte. Aber irgendwann bin ich Stück für Stück besser geworden und hatte Erfolgserlebnisse. Sport lehrt einen sehr, sehr viel fürs Leben.
Was denn?
Wenn ich stundenlang einen Berg hochfahre, dann frage ich mich irgendwann, warum ich das eigentlich mache. Aber wenn ich oben ankomme, werde ich für alles entschädigt. Und wie oft hat man auch im Leben Momente, wo es anstrengend oder unangenehm wird, zum Beispiel im Job, und man würde eigentlich lieber aufgeben. Aber wenn man sich durchboxt, ist man am Ende glücklich und stolz und wieder ein Stück über sich hinausgewachsen.
Du klingst ziemlich entschlossen. Das habe ich auch schon gedacht, als ich gesehen habe, wie das Buch heißt, das Du geschrieben hast: „Vom Glück, Pech zu haben“ – krasser Titel.
Ich empfinde das aber wirklich so. Ich weiß jetzt: Oft kann man Dinge nicht in dem Moment verstehen, in dem sie passieren. Aber mit ein bisschen Abstand kann man sagen: „Hey, war nicht einfach. Aber man kann aus allem lernen.“ Das habe ich auch im Sport oft erlebt, wenn irgendwelche Katastrophen passiert sind.
An welche denkst Du da?
Zum Beispiel bin ich 2016 in Rio de Janeiro, bei meinen zweiten Paralympics, disqualifiziert worden. Die Begründung war, ich sei zu lange im Windschatten meiner Konkurrentin Megan Giglia aus England gefahren. Und das ausgerechnet auf der Bahn, in der Verfolgung, meiner absoluten Paradedisziplin, wo jeder dachte, ich hole Silber oder Gold. Natürlich ist da erst mal eine Welt für mich zusammengebrochen.
Und dann?
Mein Team und ich hätten den Kopf in den Sand stecken können. Denn es war total blöd gelaufen und es hat sich so ungerecht angefühlt in dem Moment. Aber wir haben weitergemacht und daraus gelernt und zwei Jahre später sind wir belohnt worden: Ich bin auf der gleichen Bahn Weltmeisterin geworden, gegen die gleiche Gegnerin. Das war für mich ein Beispiel dafür, wie wichtig es ist, nicht aufzugeben. Ich glaube wirklich: Die Fähigkeit, in jeder Veränderung eine Chance zu sehen, auch wenn sie unangenehm ist, ist ganz entscheidend, um gut durchs Leben zu kommen.
Fällt es Dir nicht auch irgendwann mal schwer, so entschlossen zu sein?
Ich habe das Glück, dass es mir in meiner Komfortzone ziemlich schnell wieder langweilig wird. Dann pushe ich mich aus der Komfortzone heraus.
Wie machst Du das konkret?
Ich suche mir immer wieder neue Aufgaben und Ziele, auch außerhalb des Sports. Aufgaben, an denen ich wachsen möchte. Vorträge und Moderationen sind zum Beispiel jedes Mal wieder eine Herausforderung für mich. Vor einiger Zeit habe ich für SAP ein Event zum Thema E-Mobilität moderiert. Per se nicht mein Steckenpferd. Also habe ich mich da zwei Monate komplett eingearbeitet – und hab dann den ganzen Tag zwischen lauter Cracks diese Veranstaltung moderiert und war voll im Thema. Genau das finde ich spannend: wenn ich mir solche neuen Impulse setze – und merke, wie sie mich weiterbringen.
Du versuchst in Coachings und Vorträgen, Menschen zu ermutigen, neue Wege zu gehen. Warum, glaubst Du, tun sich viele Menschen erst mal schwer mit Veränderung?
Das liegt ganz einfach daran, dass wir Angst haben zu scheitern. Angst, uns zu blamieren. Angst, was andere Menschen sagen könnten. Angst vor uns selber. Wir machen uns gerne kleiner, als wir sind. Wir malen uns aus, was alles schiefgehen könnte, statt einfach zu fragen: Und was ist, wenn’s klappt? Unsere Ängste halten uns zu oft zurück.
Sie halten uns in der Komfortzone, die uns Sicherheit verspricht?
Genau. Wenn wir aber in der Komfortzone bleiben, dann können wir nicht unser volles Potenzial ausschöpfen. Da steckt noch so viel mehr in uns, wenn wir uns nur trauen.
So vergeben wir Chancen, oder?
Absolut, ja! Und deshalb sollten wir uns immer wieder Ziele und Herausforderungen suchen, die außerhalb unserer Komfortzone liegen. Wir Leistungssportler machen das übrigens mit Absicht. Wir haben einen Coach, der uns immer wieder aus dieser Komfortzone heraus pusht. Sonst könnten wir nicht so performen. Außerhalb der Komfortzone passieren viele tolle Dinge: Weltrekorde, großartige Projekte, Neuheiten, die man entwickelt. Oder Situationen, in denen man sich über sich hinauswächst. Jeder hat eine andere Komfortzone ...
... der eine geht ungern an seine körperlichen Grenzen, die zweite redet nicht gern vor Menschen, der dritte mag keine Entscheidungen treffen ...
... und das Interessante ist: Je öfter man sich zwingt, aus der Komfortzone rauszugehen, desto leichter tut man sich damit – und desto leichter nimmt man eine neue Herausforderung an und kann man auch mit Rückschlägen umgehen. Wir sollten uns öfter einfach trauen. Das Spannende ist doch: Wir haben immer Angst vor etwas – aber nie nach etwas.
Wie meinst Du das?
So schlimm eine Situation ist – wenn wir sie durchgestanden haben, haben wir keine Angst mehr davor. Denn wir haben gelernt, wie wir damit umgehen können.
Wenn Du den Menschen in Vorträgen und Coachings Deine Geschichte erzählst, was verändert das in ihnen?
Meine Geschichte berührt die Menschen. Manche haben Tränen in den Augen, wenn ich von dem Unfall erzähle. Und sie halten die Luft an, wenn sie hören, wie meine Eltern mit den Ärzten die Entscheidung für die Amputation meines Beins getroffen und mir damit mein Leben gerettet haben. Viele kommen nach dem Vortrag zu mir und sagen, dass meine Geschichte für sie ein Anstoß ist, sich selber einen Tritt in den Hintern zu geben und an sich zu glauben und Großes zu träumen.
Was genau gibt ihnen den Anstoß?
Sie sehen: Da ist ein kleines Mädchen seinen Weg gegangen – auch wenn er nicht immer einfach war. Ich erzähle sehr ehrlich, auch von Verzweiflung und Ängsten und allem, was nicht funktioniert hat. Ich sage nicht: „Ich war schon immer die Supersportlerin, bei mir lief immer alles Bombe und so bin ich halt Weltmeisterin geworden.“ Damit könnte keiner was anfangen.
Und es stimmt ja auch nicht.
Nein, wirklich nicht. Ganz im Gegenteil: Früher bin ich im Sportunterricht als Letzte gewählt worden. Und trotzdem habe ich es geschafft, die Beste der Welt zu werden. In meinen Vorträgen zeige ich den Weg dahin, mit all seinen Schwierigkeiten.
Was war noch wichtig, um die Schwierigkeiten zu überwinden?
Ich musste dazu auch die Glaubenssätze ablegen, die ich als Kind mitbekommen habe. Ich bin aufgewachsen mit dem Credo: Du kannst froh sein, wenn Du ein Leben lang laufen kannst – und an Sport ist gar nicht zu denken. Nach und nach habe ich gelernt, wie falsch dieser Satz ist. Ich habe gemerkt: Hey, Sport kann mein Leben sein. Ich schaffe das, auch mit anderthalb Beinen. Ich glaube, auch deshalb berührt meine Geschichte die Menschen. Sie sehen: Hey, es ist so, so viel mehr möglich, als wir denken. Wenn wir uns nur trauen. Und wenn wir es wagen, an uns zu glauben.
Wann hast Du das mal erfahren: dass auch das vermeintlich Unmögliche möglich ist?
Ich habe mir nie vorstellen können, dass ich die Einer-Verfolgung mal unter vier Minuten schaffe. Diese Marke war wie eine Schallmauer für mich. Bei den Paralympics 2021 in Tokio habe ich diese Schallmauer dann geknackt. Ich bin in der Quali 3:57 Minuten gefahren und im Halbfinale 3:55 Minuten. Weil ich es gewagt habe, daran zu glauben, obwohl ich immer wieder Zweifel hatte.
Warum hattest Du diese Zweifel?
Ich hatte eine sehr durchwachsene Vorbereitung gehabt, mit vielen Verletzungen. Ich hatte auch mit Entzündungen im Stumpf zu kämpfen. Ehrlicherweise eine sehr schwierige Zeit, in der ich alle Kraft aufwenden musste, um weiter an mein Ziel zu glauben und um eben nicht aufzugeben. Und dann hatte ich auch noch einen superschweren Sturz am letzten Tag des letzten Trainingslagers. Drei Tage, bevor es losgehen sollte nach Tokio. Ich wusste in dem Moment nicht, ob ich überhaupt noch fliegen kann.
Aber dann ging es doch.
Ja. Ich sah zwar ein bisschen ramponiert aus, aber ich konnte antreten. Also habe ich mir gesagt: „Du hast hier gerade so ein Glück gehabt. Jetzt nutze die Chance!“
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Andreas