Viele Eltern posten Fotos ihrer Kinder auf WhatsApp, Instagram, Facebook – und denken sich nichts dabei. Influencer veröffentlichen Kinderfotos gezielt, um Geld zu verdienen. Die Hamburger Soziologin und Politikwissenschaftlerin Sara Flieder kämpft dagegen an. Im Interview hat sie mir erzählt, was an Kinderfotos im Internet so gefährlich ist.
Warum ist es problematisch, Fotos von seinen Kindern im Internet zu posten, auf Instagram oder WhatsApp?
Weil man nie weiß, was damit passiert. Schon wenn man ein Foto in seinen WhatsApp-Status stellt, gibt man nicht nur die Rechte daran an den Meta-Konzern ab. Man verliert auch komplett die Kontrolle. Jeder kann einen Screenshot davon machen und es weiterleiten. Am Ende landet es vielleicht im Darknet und wird von Pädophilen heruntergeladen.
Heißt: Nacktfotos gehen gar nicht, oder?
Genau. Man sollte sowieso keine Bilder machen, auf denen die Kinder nackt oder halbnackt sind. Bilder in Badehose sind immer gefährlicher als welche, auf denen die Kinder komplett angezogen sind. Aber auch die sind ein Risiko. Jedes Bild kann bearbeitet und zweckentfremdet werden – und durch KI entstehen da ja gerade ganz neue Gefahren. Jetzt muss ein Pädophiler nicht mal mehr Photoshop beherrschen, um Kinderköpfe in irgendwelche Pornos reinzubasteln. Das kann jetzt jeder Laie.
Vielen ist das nicht bewusst, oder?
Das glaube ich auch. Nimm nur die WhatsApp-Elterngruppe einer Schulkasse, und stell dir vor, da stellt jemand ein Klassenfoto rein. Dann haben das sofort schon mal 26 Eltern. Die leiten es an die Omas und Opas weiter und die auch noch mal an ihre Freundin Silvia und ihren Freund Walter: „Guck mal, wie süß mein Enkel ist!“ Ruckzuck ist das Foto auf Tausenden Smartphones gespeichert. Viele Großeltern haben da gar kein Problembewusstsein. Die meinen es nur gut. Man muss ihnen immer wieder klarmachen, welche Gefahren da lauern.
Warum fehlt auch vielen Eltern die Sensibilität für dieses Thema?
Das frage ich mich manchmal auch. Für viele ist die Gefahr nur abstrakt. Sie wissen: Theoretisch können die Bilder im Darknet landen, theoretisch ist das nicht cool. Aber praktisch kriegen sie nicht mit, wenn es wirklich passiert. Denn sie sind ja selber nicht auf Pädophilenplattformen – hoffentlich. Ich glaube, Kinder werden nach wie vor viel zu wenig gesehen. Der Blick der ganzen Gesellschaft auf Kinder und auf ihre Rechte müsste sich ändern. So wie er sich schon bei vielen Themen geändert hat.
Welche meinst du?
Früher wurden doch lauter Sachen gemacht, die heute verpönt sind. Eltern haben ihre Kinder geschlagen. Eltern haben im Haus und im Auto geraucht, obwohl Kinder dabei waren. Sie haben ihre Kinder nicht angeschnallt und teilweise vier, fünf Kinder im Auto auf der Rückbank transportiert. Und sie haben sich nichts dabei gedacht. Denn es gab noch keine Aufklärungskampagnen dazu, und es galt gesellschaftlich als irgendwie okay.
Was treibt Eltern überhaupt dazu, Bilder von ihren Kindern im Internet zu posten?
Sie lieben ihre Kinder, sie sind stolz auf sie – und wenn sie Fotos von ihnen posten, kriegen sie natürlich viele Nachrichten: „Oh, wie süß deine Tochter ist! Wie toll eure Familie! Und wie schön euer Urlaub!“ Ich kann diesen Stolz verstehen und sogar den Impuls, die Fotos zu teilen. Aber ich frage mich auch: Wie würde ich mich selber fühlen, wenn jemand ungefragt ein Bild von mir ins Internet stellen würde – obwohl er wüsste, dass dieses Bild auf einer Pornoseite im Darknet landen kann? Da würde ich doch sagen: „Mach das mal nicht! Und warum fragst du nicht vorher?“ Und selbst wenn es nicht im Darknet landet, ist das Posten nicht okay.
Warum nicht?
Wenn Eltern Kinderfotos posten, frage ich mich: Würdest du dieses Bild auch bei dir im Supermarkt um die Ecke aufhängen? Würdest du es ausdrucken und bei dir in die Firma hängen? Wahrscheinlich nicht! Warum stellst du es dann ins Internet? Das ist doch für die Kinder total unangenehm.
Du engagierst dich seit Jahren für dieses Thema und kritisierst Family-Influencerinnen, die Fotos und Videos ihrer Kinder auf Instagram zeigen und damit Geld verdienen. Im November 2022 hast du eine Petition zum Schutz von Kinderrechten auf Instagram gestartet, die in kurzer Zeit über 50.000 Unterschriften erreicht hat. Welche Fotos stören dich bei den Influencern besonders?
Am schlimmsten finde ich alle Nacktfotos und sexualisierten Bilder. Ich habe schon Influencer-Kinder gesehen, die an einer ganzen Gurke lutschen. Oder dreijährige Mädchen, die im Badeanzug breitbeinig am Strand sitzen und ein Calippo-Eis in der Hand halten. Da sieht man doch auf den ersten Blick, dass das nicht geht. Zumal darunter Typen mit Pseudonymen wie Herbert83 kommentieren: „Süßes Mäuschen!“ Und das stört die Eltern nicht?
Unfassbar.
Ja, wirklich. Aber viele Influencer zeigen ihre Kinder auch in anderen Situationen, die auf Social Media nichts zu suchen haben. Sie posten Fotos von intimsten Momenten: wie die Kinder schlafen, wie die Eltern mit ihnen kuscheln und wie sie im Wohnzimmer mit ihnen herumtanzen. Oder wie sie fallen, von den Eltern geärgert werden, weinen, einen verschmierten Mund haben, auf der Toilette sitzen, in vermeintlich lustigen Positionen eingeschlafen sind. Manche breiten die kompletten Krankheitsgeschichten ihrer Kinder auf Instagram aus, sowohl von akuten als auch von chronischen Krankheiten. Sie berichten, dass das Kind gerade gekotzt hat. Und sie zeigen sogar Bilder von Krankenhausaufenthalten.
Welche Konsequenzen kann das für Kinder haben?
Über das Darknet haben wir schon gesprochen. Dazu kann Mobbing kommen. Denn mit jedem Foto, das Eltern von ihren Kindern posten, liefern sie anderen ja Futter. Als ich 12, 13 Jahre alt war, wäre ich im Boden versunken, wenn meine Mutter der Nachbarin erzählt hätte: „Meine Tochter kriegt bald ihre erste Periode, und so bereite ich sie jetzt darauf vor.“ Bei allen intimen und persönlichen Themen müssen die Kinder ab einem bestimmten Alter selbst entscheiden können, was sie öffentlich machen wollen – und nicht ihre Eltern. Krankheiten, Behinderungen, Schulprobleme, Wutausbrüche von pubertierenden Kindern – das geht alles keinen was an. Zumal alles, was man im Internet postet, für immer dort bleibt.
Wie bist du dazu gekommen, dich für dieses Thema zu engagieren?
Ich war Social-Media-Referentin bei einem Kinderhilfswerk. Da hatte ich Kontakt zu verschiedenen Influencern und habe schnell gemerkt: Einige sind fragwürdig. Dann bin ich selber schwanger geworden und fand den Content, den es zum Thema Familie so gibt, durchaus interessant. Aber bald hatte ich das Gefühl: Es wurde immer mehr und immer schlimmer. Und als Instagram die Storys eingeführt hat, wurde auf einmal das ganze Leben der Kinder live gezeigt. Und ich dachte: Ich kenne von diesen wildfremden Kindern sogar die Unterhosenschublade. Das darf nicht sein. Ich muss was tun.
In deiner Petition forderst du, Maßnahmen für gewerblich agierende Influencer gesetzlich festzulegen.
Ja, meine Forderungen sind: Keine halbnackten oder nackten Bilder von Kindern, keine Informationen über Namen und genauen Wohnort, keine Informationen über akute Krankheiten, Toilettengänge, Essverhalten. Keine Kinder für Werbung, es sei denn, es ist gesetzlich geregelt und kontrolliert wie bei öffentlichen Werbedrehs. Kein Zeigen der privaten Räume der Kinder. Keine Videos, in denen Kinder bloßgestellt werden. Diese Forderungen habe ich aber mittlerweile mit einem Rechtsgutachten zu einem Schutzkonzept ausgeweitet, zusammen mit dem Deutschen Kinderhilfswerk und Campact.
Was hast du mit deiner Kampagne bisher erreicht?
Ich habe mit mehreren Politikerinnen und Politikern gesprochen. Die haben das gut aufgenommen und wollen für eine Reform des Jugendarbeitsschutzgesetzes sorgen – denn wenn Kinder von Influencern für kommerzielle Zwecke gezeigt werden, ist das Kinderarbeit. Das ist schon mal gut, aber es löst noch nicht das große Privatsphärenproblem. Dafür bräuchte man noch viel weitreichendere Gesetze.
Welche würdest du dir wünschen?
Kinder unter sieben Jahren dürften gar nicht mehr auf kommerziellen Kanälen gezeigt werden. Das wäre für Familien-Influencerinnen das Aus – denn die kleinen Kinder sind ja die, die gut klicken. In Kalifornien gibt es jetzt gerade ein neues Gesetz, das besagt: Wo der Content zu mehr als 30 Prozent aus Kindern besteht, müssen 70 Prozent des Geldes an die Kinder gehen.
Wie reagieren Influencer auf deine Kritik?
Manche reden sich raus, weil sie wissen: Das gibt Geld, das klickt gut, also mache ich das. Andere sagen mir: „Du willst gar keine Kinder schützen. Du magst nur keine Influencer. Und du bist neidisch, weil du mit deinem Instagram-Kanal nicht so viele Follower hast wie ich.“
Und? Bist du mit deinen 7.500 Followern neidisch auf Leute mit größeren Accounts?
Nee, echt nicht! Ich bin ja mit meiner Kritik an Kinderfotos im Internet auch nicht allein. Alle Kinderrechtsorganisationen sagen das Gleiche. Das Bundeskriminalamt sagt das Gleiche. Unicef sagt das Gleiche. Wobei ich betonen möchte: Ich bin nicht perfekt. Ich habe auch schon mal Bilder gepostet, bei denen ich heute denke: Warum hast du das gemacht? Und die dann gelöscht. Man kann ja Fehler auch einsehen.
Ab wann sind Kinder alt genug, um zu entscheiden, ob es okay ist, wenn Eltern ein Foto von ihnen posten?
Das hängt vom Verwendungszweck ab. Influencer-Kinder, die Teil eines öffentlichen Kanals sind, sollten ab sieben Jahren mitentscheiden – und es müsste eine neutrale Person geben, die sie berät. Bei einer kleineren Reichweite, also etwa auf WhatsApp, kann man superfrüh anfangen, sie zu fragen. Kleine Kinder haben vielleicht noch keine Vorstellung davon, was im Internet mit Fotos passieren kann. Aber sie haben schnell ein gutes Gespür dafür, was sie möchten und was nicht. Dieses Gespür zu übergehen, finde ich richtig bitter. Wie sollen Kinder lernen, dass es nicht okay ist, später Nacktbilder von irgendwelchen Klassenkameraden zu verschicken, wenn man es bei ihnen selber ständig macht?
Manche Eltern posten Kinderfotos auf WhatsApp immerhin mit einem Sticker auf dem Gesicht, sodass man sie nicht erkennen kann.
Das ist schon mal gut. Aber Fotos transportieren oft trotzdem sensibelste Informationen: wie die Wohnung aussieht, welches Muster die Bettwäsche hat, in welche Kita das Kind geht. Viele posten auch, wann ein Kind Geburtstag hat. Mit der Kombination aus Namen und Geburtstag kann aber jeder bei Kinderärzten anrufen und Diagnosen abfragen. Oder bei einer Schule vor Schuljahresbeginn herausfinden, in welche Klasse ein Kind kommt. Das ist doch erschreckend.
Was würde Eltern, die unbedarft Kinderfotos posten, helfen zu verstehen, dass das keine gute Idee ist?
Ich glaube, Aufklärung hilft sehr. Natürlich gibt es Eltern, die unbeirrbar sind. Aber viele wachen dadurch auf. Ich merke das daran, wie viel positives Feedback ich auf meine Kampagne bekomme. Nach Vorträgen kommen Eltern total erschrocken zu mir und sagen: „Wow, krass! Ich hab da nicht drüber nachgedacht. Ich gehe nach Hause und lösche alles.“
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Andreas