Jahr für Jahr zeigt die Musical-AG des Gymnasiums Lohne Shows auf herausragendem Niveau. Am 24. Mai feiert sie die Premiere ihres neuen Stücks „Joseph and the amazing technicolor Dreamcoat“. Im Interview erzählt Regisseur Stefan Middendorf (43), wie er Jugendlichen beibringt, in eine Rolle zu schlüpfen – und wie ihm seine Vergangenheit dabei hilft.
Wenn euer neues Stück Premiere hat, wie geht es dir dann?
Ich bin dann total nervös.
Oha. Wann geht das los?
Beim Aufwachen an dem Tag, und die Nervosität wird dann stündlich schlimmer. Denn ich merke: Okay, jetzt muss sich beweisen, wie gut unsere Show ist und wie die Zuschauer sie finden. Ich bin dafür verantwortlich, wie es wird, aber ich kann auf der Bühne nichts mehr beeinflussen. Ich vertraue meinem Team total, aber trotzdem ist das hart: nur zuschauen zu können und diese Spannung ertragen zu müssen.
Worauf achtest du besonders, wenn du dann auf die Bühne schaust?
Wichtig ist mir, dass alle konzentriert sind und aufeinander achten, dass Tempo und Dynamik in die Szenen kommen und keine ungewollten Pausen entstehen. Und natürlich, dass die Momente, die sich bei den Proben als schwierig herausgestellt haben, funktionieren.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel wenn jemand von der Bühne runtergeht, sich ganz schnell umzieht und dann mit dem neuen Kostüm wieder auf die Bühne rauf muss. Oder wenn Bühnenteile sich bewegen und zu einer bestimmten Stelle am richtigen Ort stehen müssen. Oder wenn Tanzschritte kompliziert sind. Gerade bei der Premiere bete ich, dass alles klappt. Vor allem aber hoffe ich, dass die Leute auf der Bühne Spaß haben. Und dass sie ganz in ihren Rollen aufgehen.
Woran merkst du, dass das gelingt?
Das merke ich daran, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler die Distanz verlieren, sowohl zum Publikum als auch zu sich selbst. Da ist dann keine Bremse, keine unbewusste Hemmung mehr in ihnen. Sie kommen wirklich aus sich raus. Man erkennt sie als Privatperson gar nicht mehr so richtig hinter der Rolle. Ein bisschen glauben sie in dem Augenblick tatsächlich, dass sie die Person sind, die sie spielen.
Wie bringst du den Schauspielern bei, in ihrer Rolle aufzugehen?
Ich versuche, ihnen zu erklären, wie das funktioniert, und sie zu motivieren, sich in ihre Rolle und die Geschichte reinzufühlen. Aber letztlich kann man das nur bis zu einem gewissen Grad beibringen und lernen. Ob es gelingt oder nicht, ist auch eine Frage von Veranlagung. Nicht jeder Mensch, der Lust hat, auf eine Bühne zu gehen, zu tanzen und zu singen, hat automatisch auch die Veranlagung, so tief in eine Rolle einzutauchen.
Wie merkst du im Laufe des Probenjahres, dass das den Jugendlichen immer besser gelingt?
Manchen gelingt das schon am Anfang sehr gut, weil sie da ein besonderes Talent haben. Bei anderen entwickelt sich das im Laufe einer Produktion. Es freut mich sehr, diese Entwicklung mitzuerleben. Ich merke dann mehr und mehr: Ich nehme dieser Person ihre Rolle ab. Sie fühlt sich echt an. Ich habe zum Beispiel bei „Sister Act“ …
… dem Stück, das ihr im vergangenen Jahr mit überragendem Erfolg gespielt habt …
… einen miesen Gangster mit Machogehabe oder eine abgewrackte Nachtclubsängerin gesehen, die aus Versehen in einem Kloster feststeckt – und nicht mehr die Jugendlichen, die diese Rollen spielen. Ihr privates Verhalten war verschwunden. Ihre Art, zu sprechen und sich zu bewegen, war nicht mehr ihre, sondern die der Rolle. Wenn das gelingt, ist da keine Unsicherheit mehr, kein Moment, in dem der Jugendliche darüber nachdenkt, wie er weitermachen muss.
Wie verändert es Jugendliche, wenn es ihnen gelingt, auf der Bühne so in ihre Rolle einzutauchen?
Es gibt ihnen unglaublich viel Selbstbewusstsein und Mut und hilft ihnen, sich auch sonst im Leben etwas zu trauen, sich zu präsentieren, Schüchternheit und Unsicherheit abzulegen und unter Druck eine Leistung zu erbringen. Manche entwickeln durch dieses Eintauchen in andere Figuren sogar neue Empathie – weil sie lernen, sich in andere Menschen reinzudenken.
Kannst du dieses Reindenken unterstützen?
Wenn man es ernsthaft machen will, muss man an die Gefühle einer Figur ran. Wenn die Figur auf der Bühne gerade traurig ist, muss auch der Schauspieler irgendwie ein Gefühl von Traurigkeit herstellen.
Wie geht das?
Ich sage den Schauspielern: „Ihr habt vielleicht noch nie einen geliebten Menschen verloren, Gott sei Dank, aber ihr könnt euch sicher vorstellen, wie sich das anfühlt. Oder ihr habt schon mal jemanden gesehen, dem es so geht – wenigstens in einem Film oder einer Serie. Und dieses Gefühl müsst ihr im Bauch haben.“ Wenn das gelingt, muss man sich auch keine Zwiebel unter die Augen legen, damit man weint, sondern dann ist eine Traurigkeit da und vielleicht fließt sogar eine Träne, einfach so.
Vor zwei Jahren habt ihr Stephen Kings Schocker „Carrie“ gespielt, und in der dramatischen Schlussszene haben manche Schauspielerinnen wirklich geweint. Das hat mich sehr berührt.
Ja, wenn das gelingt, dann ist das toll. Aber wichtiger ist, was unabhängig davon alle aus dem Schauspielern in unserer AG mitnehmen – und wie sich ihr Bühnengehirn im Laufe des Probenprozesses entwickelt. Sie müssen ja wirklich viel lernen: Sie sollen eine Rolle verkörpern, sie sollen glaubhaft Teil einer zusammenfantasierten Handlung sein, aber gleichzeitig auch wissen, wo im Off ihre Requisiten liegen, wie sie da rankommen und wo die anschließend wieder hinmüssen. Sie müssen, während sie sich hinter der Bühne eine Hose ausziehen und eine andere Hose wieder anziehen, im schlimmsten Fall gleichzeitig singen. Sie müssen Tanzschritte machen und dabei glücklich aussehen – auch, wenn ihre Füße gerade mal nicht wissen, was sie da tun. Und sie müssen ihren Text im Kopf haben und gleichzeitig überlegen: Was ist jetzt der nächste Schritt? Das ist Hochleistungssport fürs Gehirn.
Vielen gelingt das auf fantastischem Niveau.
Das stimmt. Und je älter sie werden, desto höher wird der Anspruch. Am Ende erwarten die Leute von dir, dass du wie Carrie …
… die tragische Hauptfigur des Stephen-King-Musicals …
… an einer Kette an die Decke gezogen wirst und so tust, als wärst du gerade völlig durchgeknallt und würdest alle Leute umbringen, möglichst glaubhaft bitte. Und dass du dabei auch noch perfekt singst.
Was ist, wenn du mit den Jugendlichen für eure Shows übst, die größte Herausforderung?
Vor allem: das Singen, Tanzen und Schauspielern miteinander zu koordinieren. Das muss der Körper erst mal leisten. Ein großer Schritt ist auch, dass die Schüler sich trauen, sich vor 500 Zuschauern zum Affen zu machen. Also zum Beispiel sich in eine traurige Situation so reinzuschmeißen, dass sie es nicht unangenehm finden, wenn eine Träne fließt. Oder absurde Slapstick-Szenen zu spielen, zum Beispiel extrem angeekelt das Gesicht zu verziehen, ohne dass es ihnen unangenehm ist. Das ist für viele eine hohe Hürde.
Wie kriegst du sie über diese Hürde?
Indem ich ihnen klarmache, dass das, was sie als unangenehm empfinden, für die Zuschauer gar nicht unangenehm ist. Sondern dass die Zuschauer sogar genau das erwarten. Ich denke da an die Szene in „Sister Act“, in der drei Nonnen betrunken aus der Kneipe kommen und versuchen, sich ganz leise und unauffällig wieder ins Kloster zu schleichen. Sie machen dabei diese riesengroßen, tastenden Schritte, wie man sie aus Filmen kennt. Als sie diese Riesenschritte geübt haben, habe ich den Schauspielerinnen gesagt: „Füße hoch! Höher, höher, höher! Noch höher!“
Warum?
Erst, wenn sie die Füße bei jedem Schritt völlig übertrieben hochnehmen, sieht es so aus, dass die Leute anfangen zu kichern. Letztlich ist das Technik, und wenn die Jugendlichen diese Technik verstehen, hilft ihnen das, die Hürde zu nehmen. Sie müssen übrigens auch lernen, damit klarzukommen, dass man auf der Bühne ein ganz anderes Gefühl von Zeit und Raum hat.
Wie meinst du das?
Auf der Bühne hast du das Gefühl, du stehst unter extremer Beobachtung. Und das stimmt ja auch. Dadurch denkst du, wenn du eine Sekunde lang nichts sagst, du hast schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesprochen und alle warten jetzt auf dich. Dabei hat das Publikum noch nicht mal realisiert, dass da überhaupt eine Pause ist. Das hält man erst mal nicht aus.
Wie bringst du den Jugendlichen bei, es doch auszuhalten?
Oft mache ich ein Experiment. Ich sage: „Du hörst jetzt mal auf zu sprechen und guckst einfach nur und ich sage dir, wann du weitersprechen kannst.“ So, und dann gucken die Jugendlichen. Und ich lasse mir ganz viel Zeit – so viel, bis ich als Zuschauer das Gefühl habe, jetzt wirkt die Pause. Die Jugendlichen flippen dann aus und fragen: „Wann kann ich endlich weitermachen? Das ist doch unerträglich so!“
Du kennst die Schwierigkeiten der Schauspieler gut, weil du früher selbst in der Musical-AG mitgespielt hast. Wie sehr hilft dir das für die Arbeit als Regisseur?
Es hilft mir sehr. Denn dadurch habe ich die Möglichkeit, den Jugendlichen auch mal vorzuspielen, wie ich glaube, dass eine Szene sein muss. Das ist natürlich nicht ungefährlich, weil ich damit ein bestimmtes Bild vorgebe und die Gefahr besteht, dass jemand versucht, das nachzuspielen, statt es auf seine eigene Art und Weise zu lösen. Aber ich habe halt die Möglichkeit, etwas konkret zu zeigen, statt es mit vielen Worten zu erklären.
Wie war das damals für dich, auf der Bühne zu stehen?
Es war das Größte für mich. Es ist einfach ein tolles Gefühl, in eine Rolle und eine Geschichte einzutauchen und sich vorzustellen, dass sie real existiert. Und zu spüren, ich habe das Publikum ein Stück weit in der Hand. Ich kann beeinflussen, was die Zuschauer empfinden.
Woran hast du gemerkt, dass das gelingt?
An der Stimmung, an den Reaktionen. Ich erinnere mich an eine Szene in dem Musical „My Fair Lady“. Da habe ich den Professor Higgins gespielt und hatte einen witzigen Text zu sagen, der sich über mehrere Zwischenpointen aufgebaut hat. Bei jeder Zwischenpointe wurde ein bisschen mehr gelacht – und am Ende kam dann noch mal so ein richtiger Hammer. Da hatte ich dieses Gefühl: Jetzt sage ich das und dann lachen die. Ich wünsche meinen Leuten, dass sie in solchen Situationen irgendwann so frei sind, dass sie sie genießen. Dass sie da stehen und denken: Jetzt lachen die Leute gleich. Und heute warte ich noch eine Sekunde länger mit der Schlusspointe, weil ich das Gefühl habe, das kann ich mir leisten – und wenn ich sie dann bringe, flippen die Leute aus. In tragischen Szenen funktioniert das aber natürlich genauso.
An welche denkst du?
Ich bin ja auch mal ans Kreuz geschlagen worden, als Jesus im Musical „Jesus Christ Superstar“, und musste die legendären Bibelworte sprechen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Da war wirklich zu spüren, das bewegt die Leute. Ich kann beeinflussen, was sie fühlen. Sowas ist ein emotionales Aha-Erlebnis.
Was war deine Lieblingsrolle?
Auf jeden Fall die des Mozart in dem gleichnamigen Musical. Den habe ich schon als Ehemaliger gespielt bei einer Jubiläumsproduktion zum damals 15-jährigen Bestehen der Musical-AG. Das war eine große Herausforderung für mich. Der Mozart ist, wenn ich heute darauf zurückgucke, die Rolle, die mir am besten gelungen ist in all den Jahren. Da passte einfach alles. Bei anderen Aufnahmen denke ich, wenn ich mir die Aufnahmen nach 10, 20 Jahren nochmal anschaue, manchmal: Ach du liebe Zeit, so hat das geklungen!? Aber mit Mozart bin ich immer noch total zufrieden.
Bist du als Schauspieler und als Regisseur streng, mit dir und mit anderen?
Ja, schon. Ich bin nicht leicht zufrieden. Aber im Laufe der Zeit als Regisseur bin ich schon milder geworden, in meinem Urteil und in meinem Umgang mit den Leuten. Ich habe gelernt, auch mal zu sagen: „Es ist, wie es ist – das passt schon.“
Wie müsste die Premiere eures neuen Stücks „Joseph“ laufen, damit du am Ende zufrieden bist?
„Joseph“ ist ein Party-Musical, und das muss man spüren. Es soll eine Show sein, die Spannung und Tempo hat, die möglichst präzise und pannenfrei läuft – und die vor allem dafür sorgt, dass die Leute mitgehen und in Stimmung kommen. Das ist das Entscheidende.
Wenn du dir diese Show anguckst, juckt es dich dann manchmal, doch selbst noch mal mitzumachen?
Ja, dauernd! Gott sei Dank trete ich ja noch regelmäßig auf, nur eben auf kleineren Bühnen wie in der Lohner Kleinkunstbühne Chameleon. Aber hier auf der großen Bühne unseres Gymnasiums zu stehen, das ist eine ganz andere Nummer: vor 500 Zuschauern, mit dieser großartigen Technik, mit einem tollen Bühnenbild und vor allem mit einem fantastischen Orchester von 30, 40 Leuten, das live spielt und die Schauspieler trägt. Da entsteht eine ungeheure Energie. Diese Energie habe ich immer sehr genossen, die habe ich besonders aus dem Mozart-Jahr damals noch eindrücklich in Erinnerung.
Hilft dir diese Erinnerung heute, deine Schauspieler zu coachen?
Ja, denn ich weiß, wie sich das anfühlt, da zu stehen. Im vergangenen Jahr bei „Sister Act“ haben drei Darstellerinnen die Nonne Mary Robert gespielt, für die es das letzte Jahr in der Musical-AG war. Am Ende des Stücks hatten sie ein wunderschönes Solo, bei dem sie vorne in der Mitte der Bühne standen, im strahlenden Licht, vor 500 Zuschauern, begleitet von so einem Orchester. Ich habe ihnen gesagt: „Genießt diesen Moment! Vergesst ihn nie! Denn wahrscheinlich ist es das letzte Mal in eurem Leben, dass ihr so etwas erlebt.“
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Bis zum nächsten Mal: alles Gute!
Andreas