Vor kurzem waren meine Frau und ich nach viel zu langer Zeit mal wieder ein paar Tage in unserer alten Heimat. In Berlin. Wir sind durch die Stadtteile gelatscht, in denen wir damals gewohnt haben, haben Freunde getroffen und ein klitzekleines bisschen 08/15-Touriprogramm gemacht. Keine Sorge, ich werde Euch hier nicht mit Details langweilen. Ich möchte nur von drei Dingen erzählen, die uns in Berlin aufgefallen sind. Weil sie viel damit zu tun haben, wie wertvoll Veränderung sein kann.
Erste Auffälligkeit: Es sind unendlich viele Fahrradkuriere durch die Stadt geflitzt, viel mehr als vor elf Jahren, als wir noch dort gewohnt haben. In jedem Restaurant, in dem wir abends saßen, kamen im Minutentakt Kuriere rein, holten Essen ab, packten es ein – und düsten zu ihren Kunden. Auf dem Rad kommen sie dort also offenbar schneller, eleganter und günstiger zum Ziel als mit dem Auto.
Zweite Auffälligkeit: Öffentliche Verkehrsmittel machen, wenn ihr Netz in der Stadt gut ausgebaut ist, richtig Spaß. Klar, sie sind in Berlin manchmal ziemlich voll. Aber sie bringen einen ratzfatz überall hin, ohne Stau, Gehupe, Parkplatzsucherei. Natürlich wussten wir das noch von früher. Aber es war interessant, es jetzt noch mal mit dem Blick eines ländlich geprägten Touristen zu erleben. Bei uns, in unserer 30.000-Einwohner-Stadt Lohne, gilt das Auto oft noch als eine Art Heiligtum, und manche Leute hier meinen, das mit Bus und Bahn, das sei doch nur Öko-Spinnerei. In Berlin lässt sich erleben, wie entspannt ein autofreies Leben sein kann.
Blech, das rumsteht
Dritte Auffälligkeit: Irre, wieviel Platz Autos in einer Stadt verbrauchen. Die, die gerade fahren, klar. Aber vor allem auch die, die parken. So viel Blech, das 95 Prozent des Tages rumsteht und Flächen blockiert. Und es steht immer noch echt sehr viel rum, trotz der Busse, S-Bahnen, Trams.
Berlins Verkehr hat sich, so unsere subjektive Schnelldiagnose, in den vergangenen elf Jahren ein bisschen verändert. Heute fahren mehr Menschen Rad als damals, auch solche, die keine Pizza-, Nudel- und Sushiboten sind. Aber viele Autofahrer sind eben auch noch nicht umgestiegen. Berlin steckt, wie es aussieht, noch mittendrin in einer Entwicklung, in der andere Städte schon viel weiter sind.
Entscheidend gegen die Erderhitzung
Die Frage, wie Menschen sich in einer Stadt fortbewegen, ist keineswegs nur Geschmackssache. Straßenfahrzeuge haben im Jahr 2019 rund 18 Prozent des weltweiten Ausstoßes von CO2 produziert. Diesen Wert zu senken, ist also mitentscheidend dafür, ob es uns gelingt, die Erderhitzung einzudämmen und unser Überleben zu sichern.
Ich möchte mit diesem Text verdeutlichen, dass es gelingen kann, eine Stadt fahrradfreundlich zu machen – und damit grundlegend zu verändern. Wer das geschafft hat, lässt sich am besten ablesen am internationalen Copenhagenize-Index, der Städte nach ihrer Fahrradfreundlichkeit bewertet. Regelmäßig nehmen die Prüfer Großstädte mit mehr als 600.000 Einwohnern anhand von 13 Kriterien unter die Lupe. Sie wollen damit gute Beispiele bekannt machen und andere zur Nachahmung anstiften. Schauen wir uns an, was aus Sicht der Jury bei ihrer jüngsten Wahl im Jahr 2019 die besten Städte so erfolgreich machte.
Das Vorbild Kopenhagen
In Kopenhagen (Platz 1) fahren 62 Prozent der Einwohner mit dem Rad zur Schule oder zur Arbeit. Mehr als 40 Euro pro Einwohner investiert die Stadt in Fahrrad-Infrastruktur. Innerhalb von zehn Jahren ist die City mit zwölf neuen Fahrradbrücken verbunden worden.
Amsterdam (Platz 2) ist eine wachsende Stadt und versucht, das Radfahren auf den voller werdenden Straßen möglichst stressfrei zu machen – etwa indem es Fahrradwege verbreitert und eigene Fahrradspuren für langsame Radler einrichtet.
Utrecht (Platz 3) hat am Bahnhof 22.000 Fahrrad-Parkplätze und baut diese Kapazitäten sogar noch weiter aus.
Antwerpen (Platz 4) hat in der Innenstadt Tempo 30 eingeführt und will dieses Limit auf 95 Prozent aller Straßen zur Vorgabe machen.
Straßburg (Platz 5) hat seine Radwege modernisiert und Fahrradschnellstraßen bis in die Vororte hinein gebaut. Viele Lastenfahrräder sind unterwegs; damit transportieren nicht nur Eltern ihre Kinder, sondern auch Lieferanten ihre Ware.
Die Politik muss wollen
Die Liste ließe sich fortsetzen. Und wer sich die Kriterien anschaut, nach denen die Copenhagenize-Jury die Städte bewertet, der lernt noch genauer, wie eine Stadt sich zur Radler-Metropole verändern kann. Wichtig sind: Hochwertige, von Autos getrennte, gut geschützte Radwege, die die ganze Stadt perfekt vernetzen und gut ausgeschildert sind. Möglichst breite Radwege, damit auch Lastenfahrräder Platz haben. Immer und überall Vorrang für Radfahrer und Fußgänger vor Autofahrern. Strenge Tempolimits. Leicht nutzbare Leihfahrrad-Systeme. Imagekampagnen der Politik, die das Radfahren propagieren und Autofahrern bewusstmachen, dass sie auf Radfahrer achtzugeben haben. Viele Fahrradparkplätze, vor allem an Bahnhöfen. Bike-Sharing als Normalität. Politiker, die als Vorbilder selbst mit dem Rad zur Arbeit fahren.
Niemand sagt, dass so viel Veränderung zur fahrradfreundlichen Stadt von jetzt auf gleich geht. Aber all die Beispiele zeigen: Schritt für Schritt funktioniert diese Veränderung eben doch – wenn die Politik wirklich will und die konkreten Entscheidungen trifft, die dafür notwendig sind. Dann sind plötzlich viele Dinge möglich, die vorher unmöglich erschienen sind: Menschen denken um und verändern ihr Verhalten. Merken, welche Vorteile die Veränderung bringt. Begeistern auch andere. Und im Nu entsteht ein Trend.
Es geht auch im Kleinen
Natürlich ist der Umbau des Verkehrs in einer Stadt mühsam und erzeugt Widerstände. Aber er ist möglich. Die Autos haben ja die Städte auch nicht schon immer dominiert. Warum also sollten sie es bis in alle Ewigkeit tun?
Dass die Politik die Energiewende steuert, ist entscheidend wichtig – nicht nur im Verkehr. Sie muss es den Menschen leicht machen, ihren Lebensstil zu verändern – ob beim Reisen (vom Flugzeug in die Bahn), bei der Ernährung (von fleischlastig zu vegetarisch) oder beim Konsum (von viel zu weniger). Bisher tut sie das viel zu selten.
Die fahrradfreundlichen Erfolgsprojekte, die der Copenhagenize-Index rühmt, machen gerade deswegen Mut. Sie sind Vorbilder – und was in der Großstadt geht, geht auch im Kleinen. Vielleicht nicht so schnell, vielleicht anders, aber es geht. Kann es im ländlichen Raum für die Politik wirklich so schwer sein, den Fahrrädern Vorrang einzuräumen, wenn sogar die engen Metropolen es schaffen?
Wir gewinnen so viel
Es lohnt sich, nicht nur zu fragen, was wir vielleicht verlieren, wenn in unserer Stadt die Autos verschwinden und verstärkt durch Räder und öffentliche Verkehrsmittel ersetzt werden – sondern zu überlegen, was wir dadurch gewinnen. Dieser Gewinn ist riesig: bessere Luft, mehr Ruhe, mehr Platz. Platz, den man so viel sinnvoller nutzen kann als für rumstehende und rumfahrende Blechkisten – etwa für Parks, für Wohnungen, als Spielflächen für Kinder, als Raum zum Lachen, zum Atmen, zum Leben.
Nebenbei werden, wenn weniger Autofahrer gestresst durch die Straßen hetzen, auch weniger Vögel gezeigt. Dafür fliegen mehr am Himmel. Wo sie ja auch hingehören.
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Andreas
Chapeau für diesen Text - er verschönt mir diesen Sonntagmorgen und spricht mir aus der Seele - nun steig` ich auf mein Handbike und fahre erst mal los - geht doch :)