Anna Grobelny hat mit ihrem Team ein Wunder vollbracht. Innerhalb von sieben Jahren hat sie den Hip Hop in Lohne massentauglich gemacht. Ihr Tanzverein Stage 7 hat 700 Mitglieder, einige ihrer Crews haben Weltmeistertitel gewonnen. Im Interview hat mir die 35 Jahre alte Vereinsleiterin und Trainerin erzählt, was sie am Hip Hop liebt, wie sie nach Perfektion strebt und in welchen Momenten sie immer Gänsehaut bekommt.
Wie bist Du zum Hip Hop gekommen?
Mit 15 hab ich meine erste Hip Hop-Choreo gemacht, inspiriert von all den Videoclips, die ich jahrelang auf Viva und MTV gesuchtet habe. Das gab’s ja damals noch.
Vorher hattest Du gar nicht getanzt?
Doch, ich hatte schon zehn Jahre Ballett, Latein und Standard gemacht. Aber da habe ich gemerkt: Okay, wenn Du die Grundschritte draufhast, sind das einfach nur immer wieder neue Aneinanderreihungen derselben Elemente. In den Videoclips waren andere Moves, die ich vorher noch nie gesehen hatte. Also hab ich gedacht: Was ist, wenn ich mal versuche, in die Richtung was zu choreografieren? So fing meine Hip-Hop-Karriere an.
Was hat Dich am Hip Hop so fasziniert?
Dass alles möglich ist. Es gibt nicht den einen Grundschritt. Es gibt nicht die eine Drehung, die genau so aussehen muss. Es geht nur darum: Wer hat die zündende Idee? Wer berührt? Wer schafft es, die Musik zum Leben zu erwecken? Es kann in alle Richtungen gehen, und jedes Mal, wenn ich eine neue Show für eine Gruppe entwickle, kann’s halt top oder flop sein. Irgendwie macht mir das auch Angst.
Wie gehst Du mit der Angst um?
Die Angst spornt mich an. Je verrückter ich eine Idee finde, desto mehr reizt sie mich. Und ich habe das Glück, dass meine Schüler – egal wie bekloppt sie mich manchmal finden – mir immer folgen und sagen: „Okay, irgendwas hat sie sich dabei gedacht. Wir probieren’s erst einmal.“ Oft wird eine Idee durch die Schüler sogar noch cooler, noch schöner, noch krasser. Sie bauen Drehungen, Würfe und Gesichtsausdrücke ein, die ich gar nicht im Kopf hatte. Sie treiben meine Idee in eine Richtung, bei der ich denke: „Oh, eigentlich wollte ich das anders haben, aber so, wie Ihr es gerade macht, gefällt mir das.“
Warum ist Dir das wichtig, dass Deine Schüler Deine Ideen verändern und weiterentwickeln dürfen?
Ich hatte das Glück, von sehr guten und professionellen Tanzlehrern ausgebildet zu werden. Aber ich durfte nie mitgestalten. Das fand ich schade, weil ich schon von klein auf vor Ideen übergesprudelt bin. Oft hab ich gedacht: „Fragt mich doch einfach mal!“ In diese Position wollte ich meine Schüler nie bringen. Ich möchte ihren Freigeist und ihr Feuer nicht kaputtstampfen. Deswegen höre ich mir jede Idee an, die sie haben. Und wenn mal was ganz Verqueres kommt, sage ich halt: „Nee, Engel, Du bist voll daneben, aber ich liebe Dich trotzdem.“
Woran merkst Du, wann eine Idee genug verändert ist?
Ich bin sehr perfektionistisch und meine Schüler mittlerweile auch. Ich könnte immer weiter feilen und säubern und verbessern. Aber irgendwann steht halt die nächste Meisterschaft vor der Tür. Erst danach wird dann wieder weiter gefeilt, gesäubert, verbessert. Bei der vierten, fünften Meisterschaft haben wir dann ein Video, das wirklich rund und stimmig ist und mit dem ich zufrieden bin.
Du hast sehr hohe Ansprüche, oder?
Ja. Auch bei den Videos unserer Tänze, mit denen wir große Titel geholt haben, denke ich oft: Ah, wie unsauber war denn diese Stelle! Aber das ist völlig in Ordnung. Es ist ja Sport! Wie es im Laufen immer eine bessere Zeit geben wird, wird es auch im Tanzen bei 18 Mädels eine Hand geben, die nicht perfekt da war, wo alle anderen waren.
Damit alles passt, müssen alle perfekt im Rhythmus sein. Wie hast Du in diesen Rhythmus reingefunden, als Du mit Hip Hop angefangen hast?
Der war schon immer in mir drin. Meine Eltern haben gesagt: „Bevor Du gehen konntest, hast Du getanzt.“ Ich finde jeden Tanzstil toll, nicht nur Hip Hop. Ich schaue mir Musicals, Jazz und klassische Ballettstücke an, ich fahre auf Rock-Konzerte, Techno-Festivals und zu Cirque du Soleil. Weil mich Rhythmus einfach fasziniert. Und weil es mich begeistert, wenn das, was ich höre, und das, was ich sehe, eine Synergie ergibt.
Was genau macht Rhythmus mit Dir?
Rhythmus treibt mich an, mich zu bewegen und kreativ zu werden. Also das, was ich höre, zu interpretieren, etwas Neues daraus zu erschaffen, es Leuten beizubringen und sie zu fordern. Für mich ist Rhythmus pures Glück.
Woran merkst Du, ob Du und andere perfekt im Rhythmus sind?
Daran, dass alle Arme und alle Füße sich zur selben Zeit in dieselbe Richtung bewegen. Dass alle jede Bewegung intensiv tanzen und leben. Dann spüre ich: Jetzt sind wir alle voll da. Beim Training können wir das schön im Spiegel beobachten. Da gibt’s Momente, da ist jede Bewegung so perfekt gezogen, 20 Leute zur selben Zeit unten, 20 Leute zur selben Zeit oben, und jeder sieht das und man kommt hoch und denkt: Wir sind gerade eine Einheit, geformt vom Rhythmus und von der Musik.
Was ist das dann für ein Gefühl?
Es ist eine Explosion von tausend Gefühlen. Ich könnte dann platzen vor Stolz. Und vor Dankbarkeit. Denn es ist ja unnormal, was die Körper und Gehirne einer Crew in den zweieinhalb Minuten leisten, die ein Lied dauert. Sie tanzen ja nicht nur, sie rollen, sie nehmen andere auf die Schulter und werfen sie hoch. Wenn sie perfekt performt haben, dann kommen sie nach dem Auftritt ganz glücklich zu mir und sagen: „Anna, es hat geklappt! Es war genau, wie Du es Dir vorgestellt hast!“ Und wir alle wissen, es hat im Training auch hundertmal nicht geklappt. Das sieht nur keiner. Alle denken: Ach, Stage 7, die können das halt! Aber dieses Können, das kommt nicht von irgendwo her. Wir arbeiten hart dafür.
Perfekt werden zu wollen, macht ja auch Druck. Wie gehen Deine Tänzerinnen und Tänzer damit um?
Ich sage ihnen immer wieder: „Wenn Ihr mit diesem Druck nicht klarkommt, dann geht nicht in eine Crew, die bei Meisterschaften tanzt. Sondern macht einfach bei unseren Kursen mit.“ Da kannst Du Dich dem Rhythmus hingeben und einen Schritt auch mal anders machen als die anderen. Da ist man Fehlern gegenüber viel toleranter. Bei den Meisterschaften ist die Toleranz zu einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr da.
Hören die Leute auf Deinen Rat?
Die meisten schon. Bei uns in den Kursen tanzen viele Tänzer, die definitiv meisterschaftstauglich sind, die aber für sich entschieden haben: Ich bin nicht so ehrgeizig, dass ich diesem Druck standhalten möchte. Da sage ich: „Respekt! Ich könnte das nicht. Ich brauche immer Leistung und Wettbewerb, ich bin so gepolt.“
Was ist notwendig, um Perfektion zu erreichen?
Je weiter unsere Crews sind, desto weniger muss ich den Rhythmus erklären. Ich spiele das Lied ab, ich tanze die Choreo vor und jeder weiß, was gemeint ist. Je jünger die Tänzer sind, desto öfter sage ich: „Okay, ihr Süßen, alle mal hinsetzen.“ Und dann klatsche ich was mit und übertreibe die Bewegungen, damit sie sehen: „Ah, da muss ich hinhören! Und wenn ich diesen Rhythmus höre, muss mein Körper diese Bewegung abspulen.“ Am Anfang ist es reines Training, dann kommen irgendwann Gefühl und Interpretation dazu. Und wenn dann alle das Lied gleich hören, gleich fühlen und gleich interpretieren, dann hat man es geschafft. Ich liebe es, wenn der Rhythmus uns so verbindet – sogar über die Grenzen der Crews hinweg.
Wann zum Beispiel?
Wir haben ein gemeinsames Warm-up für alle Gruppen von Stage 7 entwickelt. Wenn wir bei Meisterschaften sind und uns damit aufwärmen, wenn dann 90 Köpfe gleichzeitig hoch- und runtergehen, alle sind im Takt, alle sind im Rhythmus und alles sieht so exakt aus, dann denke ich mir: Wow! Die sehen fast aus wie Soldaten, die perfekt aufeinander abgestimmt sind. Oder wenn wir mit einer großen Gruppe beim Lohner Stadtfest auftreten und 600 Arme gleichzeitig hoch und runtergehen, nach links und nach rechts winken – da kriege ich jedes Mal Gänsehaut. Da könnte ich heulen. Das ist ein gewaltiges Gefühl, wenn der Rhythmus alle von Stage 7 so vereint – egal, ob sie Meisterschaftstänzerinnen oder Kursteilnehmer sind, jung oder alt, schmal oder stabil.
Was bewirkt das gerade für Kinder und Jugendliche, die etwas übergewichtig sind und in anderen Sportarten vielleicht keine Chance hätten: dass sie Teil dieser Einheit sind?
Es hilft ihnen sehr, dass sie wissen: Im Hip Hop ist es völlig egal, wie Du aussiehst, wo Du herkommst, wer Du bist, an wen Du glaubst, wen Du liebst. Weil Hip Hop keine Standards setzt. Ich kann verstehen, dass beim Ballett eine grazile Figur verlangt wird oder eine gewisse Form der Füße. Sowas gibt es im Hip Hop nicht. Wenn Du von dem, was Du tust, überzeugt bist und das mit viel Selbstbewusstsein krass rüberbringst, wirst Du gefeiert. Weil Du zu dem stehst, wie Du bist. Und wenn Du ein schräger Typ bist, wirst Du für Deine Schrägheit umso mehr gefeiert.
Ihr seid kunterbunt gemischt, oder?
Absolut, ja. Wir haben Schüler, die anderen Schülern kurz übersetzen müssen, was wir Trainer da gerade erzählen – weil sie kein Deutsch sprechen. Dann geht die Musik an, und die Sprache spielt keine Rolle mehr. Denn alle tanzen das Gleiche. Und alle sind miteinander verbunden – ganz egal, was sie sonst im Leben trennt.
Was verändert das für die Jugendlichen: dass sie das wissen?
Sie sind viel mutiger. Sie entfalten sich. Sie wissen auch, dass sie hier Fehler machen dürfen, ohne kritisiert zu werden. Sie erzählen mir oft, dass sie hier das Gefühl haben, sie selbst sein zu dürfen. Das überträgt sich auf ihr ganzes Leben. Sie sagen: „Auf einmal habe ich nicht mehr die Angst, bei einem Referat vorne zu stehen, weil ich weiß, ich bin cool, genauso, wie ich bin – denn Anna hat das gesagt.“
Du machst jetzt seit 20 Jahren Hip Hop. Wie hat die Beschäftigung mit dieser Musik und mit dem Rhythmus Dich geprägt?
Sie ist ein Segen und ein Fluch.
Fangen wir mit dem Fluch an.
Wenn ich Musik höre, kann ich sie nicht mehr einfach so genießen, leider. Ich sehe sofort Tänze vor mir: Effekte, Bilder, Bewegungen. Ich kann das nicht ausschalten. Wobei das auch sein Gutes hat: So finde ich leichter neue Lieder, die zu uns passen könnten.
Diese Lieder zu finden, ist vermutlich nicht leicht, oder?
Das stimmt. Denn ich habe einen hohen Anspruch an die Lieder. Wenn wir uns mit einer Gruppe für ein Lied entscheiden, dann hören wir dieses Lied ein halbes Jahr lang rauf und runter – und performen es noch ein halbes Jahr lang auf den Bühnen, so, als würden wir es zum ersten Mal tun. Immer wieder muss ich die Liebe zu diesem Song, die ich beim allerersten Moment empfunden habe, aufleben lassen. Sonst kotze ich, wenn ich ihn zum tausendsten Mal höre, irgendwann in die Ecke.
Klingt herausfordernd.
Ist auch wirklich schwierig. Mit einem Lied arbeiten wir Tag für Tag, Woche für Woche, manchmal nächtelang. Und am Anfang brauche ich erst mal zwischen zwei und sieben Stunden, um 20 Sekunden von einem Lied zu choreografieren. Um mir also auszudenken, was da passiert, welche Schritte, welche Bewegungen, welche Effekte. Zum Glück bin ich immer noch voller Eifer und Feuer dabei. Ein Lied kann mich immer noch so faszinieren, dass ich losheulen und schreien könnte: „Ja, Mann, ich will jetzt sofort damit anfangen!“ Aber dieses Feuer dann ein Jahr lang zu halten, das erfordert Disziplin.
Bist Du streng zu Dir selbst?
Ja, schon. Ich bin zwar entspannter geworden in den 20 Jahren, aber ich setze an mich selbst immer noch hohe Maßstäbe. Ich weiß aber auch, dass das ein schmaler Grat ist, denn wenn ich zu perfektionistisch bin, kann ich nicht kreativ sein. Ich muss mir auch Fehler erlauben, sonst bremse ich mich aus.
Das war jetzt das Thema Fluch. Was ist der Segen?
Ohne meine Liebe zum Tanz und zum Rhythmus würde dieses ganze Tanzhaus gar nicht stehen. Sie ist das Fundament für unsere Gemeinschaft und für unsere Erfolge. Als ich damals meine erste Gruppe namens Selected gegründet habe, hätte ich nie im Leben gedacht, dass da noch 700 andere Menschen folgen werden – mir und meiner Leidenschaft. Was für ein Traum!
Du pausierst jetzt anderthalb Jahre bei Stage 7, weil Du Dein zweites Kind bekommen hast. Wird Dir diese Veränderung schwerfallen?
Ja, sie wird mir schwerfallen. Aber ich werde in dieser Zeit nicht nur zwei wundervolle Kinder großziehen, sondern auch eigene tänzerische Ziele in Angriff nehmen, für die ich im täglichen Business keine Zeit habe. Da ist es ja so, dass ich ständig abliefere, abliefere, abliefere – und immer zum Output gezwungen bin. Was mir fehlt, ist Input.
Den willst Du Dir jetzt holen?
Ja. Ich werde versuchen, mich intensiv mit Tanzen und Rhythmus zu beschäftigen, ohne Druck und ohne Crews, die darauf warten, dass ich eine Bomben-Meisterschaftschoreo abliefere. Ich will wieder so richtig back to the roots kommen. Aber: Ja, es wird mir sehr, sehr schwerfallen, hier im Tanzhaus nicht immer mit rumzurühren. Vor allem wird es mir schwerfallen, nicht ständig meine Meisterschaftscrews zu besuchen und zu schauen, wie meine Ersatztrainer mit ihnen vorankommen. Da die Kontrolle abzugeben, macht mir eine Heidenangst. Aber ich möchte es auch wirklich nicht. Ich möchte, dass die sich ohne mich austoben und ausprobieren. Und wenn alles gut klappt, verschafft es mir ja vielleicht die eine oder andere Freiheit mehr, wenn ich wieder zurückkomme.
Was genau willst Du dann über Rhythmus gelernt haben?
Ich will lernen, variantenreicher zu arbeiten. Damit ich noch mehr Überraschungen in meine Choreos einbauen kann. Ich weiß nicht, wie viele Jahre ich noch Trainerin auf Spitzenniveau sein kann. Klar, ich kann noch 40 Jahre lang kleine Kinder mit Ententanz bespaßen. Aber diese Formationen, die hier die ganzen Titel einfahren und Weltmeister sind, die sind mit Instagram aufgewachsen und wissen ganz genau, wie überall auf der Welt getanzt wird. Das ist ein hoher Anspruch. Da muss man immer mit der Zeit gehen. Deswegen will ich in der Zeit zu Hause noch besser werden.
Und Du meinst, Du wirst die Zeit dafür haben, mit einem Baby und einem Dreijährigem?
In meiner Wunschwelt zumindest ist die Zeit dafür da.
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Bis zum nächsten Mal: alles Gute!
Andreas