„Es hilft mir zu weinen“
Wie sich Ruth Gerbracht nach dem Suizid ihres Sohnes zurück ins Leben kämpft
Im Januar 2024 hat Ruth Gerbracht, meine frühere Journalistenkollegin vom Weser-Kurier, einen furchtbaren Schicksalsschlag erlitten: Ihr Sohn Paul hat im Alter von 31 Jahren Suizid begangen. Wie leben sie und ihr Mann Jörg heute damit? Was gibt ihnen Kraft? Worauf hoffen sie? Ruth hat sich diesen Fragen gestellt, weil sie anderen Betroffenen Mut machen will. Für ihr Vertrauen danke ich ihr sehr.
Paul ist jetzt seit über einem Jahr tot. Wie geht’s dir?
Der Kopf sitzt oben. Es gibt Tage, wo es besser läuft. Aber es gibt auch Tage, wo mir alles schwerfällt. Manchmal weine ich drei Tage nicht. Und dann überrollt es mich wieder. Jörg und ich versuchen, schöne Sachen zu machen, um auch genügend Kraft für die Trauer zu schöpfen.
Was zum Beispiel?
Wir fahren öfter mal ein Wochenende an die Ostsee. Oder gehen mit einem befreundeten Paar auf eine Boulebahn. Oder fahren nach Hamburg ins Theater. Es ist für uns sehr wichtig, dass wir zu zweit sind. Alleine wäre das alles schwer aushaltbar.
Was hilft dir noch?
Mein Ehrenamt. Ich engagiere mich bei den Seniorpartners in School. Wir machen Mediation für Grundschulkinder. Wenn es Streit gegeben hat, sprechen wir mit ihnen und überlegen gemeinsam, wie sie künftig Konflikte lösen können, ohne sich zu beschimpfen, zu beleidigen oder zu verletzen. Und wir bilden andere Leute zu Mediatoren aus. Das macht Spaß. Und es gibt mir Stabilität.
Woran merkst du, dass ein Tag für dich ein guter ist?
Ein guter Tag ist, wenn ich kleine positive Dinge erlebe. Wenn ich freundlichen Menschen begegne. Wenn die Kassiererin im Supermarkt mich anlächelt. Wenn die Vögel zwitschern. Ich merke, ich bin durch Pauls Tod sehr dünnhäutig geworden.
Magst du von ihm erzählen?
Paul war ein Sunnyboy. Wenn er in einen Raum kam, hat er die Leute mit seinem unglaublichen Lachen und seinem Humor gleich für sich eingenommen. Er war so witzig, Kalauer waren sein Ding! Ich hab oft zu ihm gesagt: „Mein Gott, du bist ein zweiter Pastewka.“ Aber er hatte immer auch eine andere Seite. Er hatte Zweifel an sich, an der Welt, an allem. Später habe ich oft gedacht: Er war ein bisschen wie ein trauriger Clown.
Er hatte schon länger Probleme?
Ja. Er konnte sich schwer abgrenzen von negativen Dingen, er hat sie fast aufgesogen. Er hat daran gelitten, wenn Leute übereinander lästern, sich bekämpfen und unfreundlich sind. Wenn Menschen aggressiv waren. Oder wenn ein Freund Probleme hatte. Aber dass das mal so eskalieren würde, hätte ich nicht gedacht.
Wo lebte er?
Er hat seit knapp zehn Jahren in Köln gelebt. Hat dort seine Ausbildung absolviert und dann zwei Jahre als Grafiker und Mediengestalter gearbeitet. Dann wollte er was Sinnvolleres tun, hat gekündigt und als Assistenz bei einer körperlich schwerbehinderten jungen Frau angefangen. Und dann kam Corona. Er musste unglaublich aufpassen, dass er nicht erkrankt und sie nicht ansteckt. Das hat ihn belastet. Aber auch die Kontaktlosigkeit während Corona machte ihm zu schaffen.
War er damals schon in Behandlung?
Er hatte ab und an ein Gespräch mit einem Traumatologen. Er brauchte nur mal einen Schubser, dann lief das eigentlich ganz gut. Irgendwie hab ich immer gedacht, das wurschtelt sich alles. Aber 2022 hat er erzählt, dass es ihm nicht gut geht. Seine Freundin und er wollten aus Köln wegziehen, mehr ins Grüne. Doch vorher wollten sie noch eine große Asien-Reise machen. Sie hatten ihre Jobs und ihre Wohnung zum 31.12.2022 gekündigt. Im Januar 23 sollte es losgehen. Aber vorher kam schon der Knall.
Was passierte?
Ende November 2022 rief er uns an, war völlig verzweifelt und sagte: „Ich kann nicht mehr.“ Jörg hat ihn aus Köln abgeholt. Paul war zusammengeklappt. Wir sind abends gleich mit ihm in die Psychiatrie in Bremen-Ost gefahren. Er hat dann schnell einen Platz in einer psychosomatischen Klinik bekommen, acht Wochen war er da. Als er entlassen wurde, kam er ganz gut klar. Aber dann hat er angefangen, seine Medikamente nicht mehr zu nehmen. Er sagte, sie täten ihm nicht gut: „Dann bin ich wie ein Zombie.“ Und er tat sich schwer, einen Psychotherapeuten zu finden, der zu ihm passt. Er hat mehrere ausprobiert. Wir haben schon gar keine mehr gesucht, die die Kasse zahlt. Wir haben gesagt: Egal, wir zahlen das selbst – Hauptsache, er findet jemanden, der ihm hilft.
Und dann?
Es ging ihm immer schlechter. Er hatte zu Freunden nur noch über WhatsApp Kontakt, nicht mehr persönlich. Wobei es auch gute Momente gab. Wir haben viel zusammen gespielt und gelacht, er hat mir sogar noch Skat beigebracht. Anfang Dezember 2023 sagte er, er hätte eine neue Therapeutin im Internet entdeckt, mit der habe er einen Termin im Januar. Da hab ich gedacht: Wie schön, dann geht’s ja vorwärts!
Aber das stimmte nicht?
Nein. Am 19. Januar hatte Paul Geburtstag, 31 ist er geworden, da haben wir noch ein bisschen gefeiert. Das Wochenende vom 27. und 28. wollten wir mit Freunden in die Lüneburger Heide fahren, und er war hier alleine zu Hause. Wir haben gedacht: Das geht schon. Am Freitagabend haben wir uns von ihm verabschiedet, am Samstag sind wir ganz früh gefahren. Am Sonntagabend um 19 Uhr kamen wir zurück. Es war alles dunkel, sein Auto war weg. Irgendwas stimmte nicht. Wir sind hoch, in sein Zimmer unterm Dach. Da war alles aufgeräumt. Das Bett war gemacht. Und auf dem Schreibtisch lagen vier Abschiedsbriefe.
Vier?
Ja. Einer an uns, einer an seine Freundin und jeweils einer an zwei gute Freunde von ihm. Er hat geschrieben, dass er nicht mehr kann und dass er glaubt, ihm könne keiner helfen. Er hat sich bedankt, dass er bei uns bleiben konnte. Und er hat sich entschuldigt, dass er uns angelogen hat.
Angelogen?
Er hatte irgendwann im Oktober erzählt: „Wundert euch nicht, da kommen zwei Gasflaschen an, die braucht ein Freund für sein Studium. Der Freund ist im Urlaub und die kommen zu uns.“ In dem Brief schrieb er nun, dass die zwei Flaschen nicht für den Freund waren, sondern für ihn. Weil er da schon beschlossen hatte, sich das Leben zu nehmen. Wir haben dann am Sonntagabend die Polizei gerufen. Ich hab versucht, Paul auf seinem Handy anzurufen, der Ruf ging durch. Die Polizei hat alle Freunde angerufen, von denen wir eine Nummer hatten. Keiner wusste, wo er war. Gegen elf Uhr abends gingen die Polizisten und sagten, sie würden sich melden. Irgendwie war uns da ja schon klar, was wohl passiert war.
Und dann?
Morgens um sechs klingelte es, da stand die Polizei mit einem Seelsorger. Sie hatten ihn gefunden. Er war mit dem Auto hier ins Blockland gefahren, wohl schon am Samstag – und hat diese Gasflaschen im Auto aufgedreht. Durch das Handy konnte die Polizei ihn orten.
Wie waren die Tage danach?
Wie im Nebel. Weinen, Schmerz, wir konnten es nicht glauben. Ich hab mich natürlich gefragt: Warum? Er hatte doch einen Termin bei der neuen Therapeutin! In seinem Brief hat er geschrieben, dass er das gesagt hat, um uns zu beruhigen. Er hat alles nur gemacht, um uns zu beruhigen. Ich habe in den vergangenen Monaten viel darüber gelesen, dass schwer depressive Menschen sich praktisch damit euphorisieren, wenn sie den Entschluss gefasst haben, Suizid zu begehen. Weil sie endlich die Kraft gefunden haben, eine Entscheidung zu treffen. Und das ist genau die Phase, wo sie den Angehörigen suggerieren: Es geht aufwärts!
Ist das nicht absolut typisch: dass Menschen in der letzten Phase vor dem Suizid ganz ruhig und eher wieder stabil wirken und dadurch ihre Angehörigen keine Chance haben zu bemerken, was los ist?
Ja. Ich habe ganz viele Interviews gelesen und gehört mit Teresa Enke …
… der Frau des früheren deutschen Fußball-Nationaltorwarts Robert Enke, der an schweren Depressionen gelitten und 2009 Suizid begangen hat …
… denn ich wollte das verstehen können. Und ich hab mich natürlich gefragt: Wieso konntest du das nicht verhindern? Aber je mehr ich gelesen habe, auch neueste Forschungsberichte, desto klarer wurde mir: Ich muss mich nicht schuldig fühlen. Wir hatten keine Chance. Menschen mit Suizidabsicht sind perfekt darin, ihre Angehörigen zu täuschen. Und auch Paul hat diese Rolle perfekt gespielt.
Was für eine schreckliche Krankheit, diese Depressionen.
Ja. Vor ein paar Monaten hat eine Bekannte, die auch unter schwersten Depressionen gelitten hat, mir gesagt: „Du kannst dir nicht vorstellen, was da los ist im Kopf. Das frisst dich auf.“ Und ein befreundeter Arzt hat mir mal gesagt: „Du kannst mit Krebs und Depressionen leben, aber auch daran sterben. Beides ist in beiden Fällen möglich.“ Das hilft mir ein bisschen, weil es mir klarmacht: Paul hätte gerne weitergelebt, aber er konnte seinen Zustand nicht mehr aushalten.
Kannst du beschreiben, wie du dich nach Pauls Tod Schritt für Schritt ins Leben zurückgekämpft hast?
Die ersten Tage waren total unwirklich. Ich weiß noch, wie wir beim Bestatter saßen und ich dachte: Was mache ich hier? Das hat doch gar nichts mit mir zu tun! Ich kam mir vor wie im Film. Dann hab ich erst mal nur funktioniert, wir mussten ja so viel regeln und machen und tun. Freunde haben für uns gekocht, das war wirklich toll. Zur Beerdigung sind sehr viele Menschen gekommen, das hat uns beiden Kraft gegeben. Und wir haben wunderbare, einfühlsame Briefe bekommen. Aber auch die vielen stummen Umarmungen haben uns gestützt. Aber dann, nach der Trauerfeier, war auf einmal Stille. Und ich hab angefangen, alles über das Thema Suizid zu lesen.
Seid ihr oft auf den Friedhof gegangen?
Ja, fast jeden Tag. Wir brauchten das. Auch heute noch. Da waren so viele Fragen, vor allem: Warum wir? Heute stelle ich mir die Frage nicht mehr. Sie macht keinen Sinn. Jetzt liegt Pauls Tod über ein Jahr zurück und ich kann jetzt eher akzeptieren, dass er tatsächlich nie wiederkommt. Das lindert den Schmerz nicht, aber die Ungläubigkeit ist gewichen. Wobei ich glaube, dass mir diese Ungläubigkeit in den ersten Monaten geholfen hat, das Ganze überhaupt zu überstehen. Trauer kostet unendlich viel Kraft, psychisch wie physisch.
Wie merkst du das?
Ich habe Phasen, da muss ich mich zu allem aufraffen – sogar zu einfachen Dingen wie kochen oder Sport machen. Ich bin froh, dass ich in Rente bin und nicht mehr arbeiten muss. So kann ich Phasen der Trauer und der Müdigkeit zulassen, mich zurückziehen, viel schlafen. Und dann geht’s wieder. Wir beide vermeiden auch große Gesellschaften, haben keine Lust und keine Kraft für Smalltalk.
Wie war das erste Weihnachten ohne Paul?
Wir können das nicht mehr hier zu Hause feiern, mit Baum und allem. Also sind wir über Weihnachten weggefahren, nach Juist, Freunde von uns waren auch da. So waren wir nicht alleine und in einer ganz anderen Umgebung. Das hat uns gutgetan.
Und wie war Pauls erster Geburtstag nach seinem Tod?
Wir hatten Angst, wie das wohl wird. Wir haben dann mit Pauls Freunden aus Köln und Bremen hier bei uns einen Brunch gemacht und uns erinnert. Es war total fröhlich und gut. Schließlich waren wir auf dem Friedhof und haben auch geweint. Und danach habe ich gedacht: Das war wie eine Selbsthilfegruppe – denn diese jungen Menschen waren ja auch fassungslos. Die müssen auch lernen, damit umzugehen. Und jetzt konnten sie gemeinsam mit uns trauern. So finden wir Stück für Stück wieder rein ins Leben – aber verändert.
Was hilft euch noch dabei?
Zuallererst, dass wir uns beide haben und stützen können. Es gab ja mal ein Leben ohne Paul; dann durften wir 30 Jahre das Leben mit ihm genießen. Und jetzt gibt’s wieder ein Leben ohne ihn. Und das zu meistern, ist jetzt unsere Aufgabe, was schwierig ist, da wir ihn unendlich vermissen.
Hilft dir der Glaube?
Vor kurzem habe ich ein Buch gelesen über einen Vater, der auch sein Kind verloren hat und bei dem es nur um die Frage geht: Warum lässt Gott das zu? Ich denke nicht so, ich bin da eher versöhnlich. Manchmal gehe ich in die Mittagsandacht in den Bremer Dom, die dauert eine Viertelstunde. Früher war ich da nie. Jetzt finde ich sie sehr tröstlich. Ich merke, sie hilft mir zu akzeptieren, dass wir jetzt versuchen müssen, unser Leben ohne Paul gut zu leben.
So schwer das ist.
Ja. Es war ein tolles Leben mit ihm, weil er ein wunderbarer Mensch war. Dafür sind wir unendlich dankbar, auch für die vielen Erinnerungen mit ihm. Paul ist immer bei uns, das wird sich auch nicht ändern. Ich hab mal gelesen, und das fand ich sehr passend: Wenn du deine Eltern verlierst, verlierst du die Vergangenheit. Wenn du deinen Partner verlierst, verlierst du die Gegenwart. Und wenn du dein Kind verlierst, verlierst du die Zukunft.
Das klingt nachvollziehbar, aber auch hart.
Das stimmt, und natürlich ist da die Frage: Hat das Leben für uns jetzt eigentlich noch Sinn? Aber ich denke: Ja! Denn wir leben noch. Und wir leben gerne. Auch wenn’s jetzt schwerer ist. Und wir haben junge Leute um uns herum, das ist ganz wichtig für uns. Eine Nichte, die ein Jahr älter als Paul ist, kommt oft zu uns. Und ich habe ein wunderbares Patenkind, Nikki, er ist zwölf. Wenn er bei uns ist, redet er oft über Paul – so herrlich unverkrampft. Er sagt zum Beispiel: „Paul fand doch Star Wars auch immer so gut!“ Das ist toll, und es hilft mir auch, weil wir so am Leben der nächsten Generation doch noch irgendwie teilnehmen können – auch wenn der eigene Sohn jetzt fehlt.
Wie gehen eure Freunde und Bekannte damit um, dass Paul tot ist?
Die meisten Freunde gehen sehr gut und empathisch mit dem Thema um, Paul wird in Gesprächen nicht ausgespart. Für uns ist es wichtig, auch weiterhin über ihn zu sprechen. Es gibt aber auch zwei langjährige Freunde, die schon seine Krankheit nicht nachvollziehen konnten – und ihm jetzt die Schuld geben, dass sich unser Leben verändert hat. Das kann ich nicht akzeptieren. Paul ist nicht schuld an irgendwas! Er hat sich das Leben genommen und sich selbst damit das Schlimmste angetan.
Sprechen viele Freunde euch von sich aus auf das Thema an?
Ich hab eine Freundin, die fragt immer, wie ich klarkomme. Es gibt andere, mit denen sitzen wir einen ganzen Abend zusammen, lachen und reden über was ganz anderes – aber ich weiß, wenn mich dann plötzlich irgendwas triggert, kann ich auch weinen. Und es ist okay.
Seit August besuchst du eine Selbsthilfegruppe der Organisation „Angehörige um Suizid“. Wie sehr hilft dir das?
Wir treffen uns einmal im Monat, zwei Stunden lang. Lauter Leute, die einen Angehörigen durch Suizid verloren haben. Am Anfang erzählt jeder, wie’s ihm geht. Danach sprechen wir über ein Thema. Zum Beispiel: Ein Schritt in die Zukunft. Oder: Rückfall. Oder: der Freundeskreis. Was gut ist: Ich kann da was loswerden, ohne dass ich mich erklären muss. Denn alle wissen sofort, wie es mir geht und was ich gefühlt habe.
Geht Jörg mit zu den Treffen?
Nein. Jörg hat Sorge, dass er das Leid der anderen nicht auch noch ertragen kann – weil er ebenso dazu neigt, sich alles aufzuladen. Er ist da ein bisschen wie Paul. Aber ich erzähle ihm natürlich aus der Gruppe, und er fragt auch immer.
Was gibt dir noch Trost, Hoffnung und Zuversicht in schweren Momenten?
Zum einen sage ich mir immer wieder, dass wir eine tolle Zeit zusammen hatten. 30 Jahre. Die kann mir keiner nehmen. Das tröstet mich, und das trägt. Wenn’s mal gar nicht geht, hab ich eine Freundin, die kann ich anrufen. Wir gehen auch gerne und oft zum Friedhof. Unweit von Pauls Grab steht eine Bank. Im Sommer sitze ich gerne länger dort. Der Friedhof ist ein schöner Park, hier in der Natur kommt man zur Ruhe. Also, ich komme immer wieder raus aus dem Loch. Und manchmal denke ich: Solange ich immer wieder rauskomme, kann ich die Trauer zulassen. Sie ist schon in Ordnung. Trauer ist der Preis, den wir für Liebe zahlen. Es hilft mir auch zu weinen. Mir geht’s danach immer besser. Und ich hab jetzt nicht mehr so viel Angst vor dem Tod.
Inwiefern?
Bei meinen Eltern war der Tod kein Thema. Das Motto war eher: Wir leben ewig. Mich hat das geprägt. Jetzt auf dem Friedhof denke ich: Da ist ein Grab, wo Jörg und ich auch irgendwann drin liegen. Bei Paul. Das tröstet mich. Und der Tod macht mir jetzt nicht mehr so viel Angst. Er ist so nah gekommen. Ich weiß, dass er zum Leben gehört. Hätte ich früher nicht gedacht. Und es ist okay.
Wenn du auf dem Friedhof bist, redest du dann still oder laut mit Paul?
Ich rede manchmal mit ihm. Ab und zu sage ich schon mal: „Mensch, Paul, wir waren gerade wieder am Meer. Da hättest du mal dabei sein sollen!“ In Gedanken bin ich viel bei ihm. Mehr als zu der Zeit, als er in Köln gewohnt hat. Da denkt man ja nicht ständig an sein Kind. In den drei, vier Monaten nach seinem Tod habe ich Briefe an Paul geschrieben, in ein Buch: wie’s mir geht, was mich bedrückt. Aber irgendwann hab ich gedacht: Och, nee, das kannst du ihm jetzt nicht alles aufladen. Ich wollte auch nicht in so ein Selbstmitleid kommen. Da hilft mir das Reden mit anderen mehr.
Was würdest du dir wünschen, wie es dir in einem Jahr geht?
Tja. Dass vielleicht der Schmerz ein bisschen weniger wird. Dass er mich nicht mehr ganz so heftig überrollt. Und dass die schönen Erinnerungen an Paul aber bleiben. Mir sind diese Erinnerungen sehr wichtig. Ich höre zum Beispiel immer noch ab und zu Sprachnachrichten von ihm auf dem Handy an, irgendwas völlig Belangloses. Jörg fragt: Wie kannst du das ertragen? Aber mir hilft es. Weil ich so das Gefühl habe, seine Stimme nicht zu verlieren.
Hat euch dieses Interview gefallen? Dann teilt es in allen sozialen Netzwerken. Empfehlt es in eurem WhatsApp-Status, auf Instagram, Facebook und LinkedIn. Geht ganz einfach – mit diesem Link:
Seid ihr neu hier und habt meinen Newsletter noch nicht abonniert? Dann tragt hier eure Mailadresse ein – und ihr bekommt automatisch alle zwei Wochen kostenlos meinen neuesten Text. Immer über die Frage, wie Veränderung eine Chance sein kann:
Bis zum nächsten Mal: alles Gute!
Andreas
Wo finde ich Hilfe, wenn ich denke, dass mein Partner, meine Freundin, mein Angehöriger suizidgefährdet ist?
Telefonische Hilfe: 0800-1110111 und 0800-1110222
Wege zur Online-Seelsorge: www.telefonseelsorge.de
Hilfen und Beratungsstellen in jeder Region: www.suizidprophylaxe.de