Kürzlich ging es hier darum, was es verändern kann, an Themen nah ranzuzoomen – oder weit weg. Also: die Details zu betrachten – oder das große Ganze. Heute möchte ich den Gedanken vertiefen, was der Blick aus der Nähe bewirkt.
Ich habe das Glück, einen Beruf ausüben zu dürfen, in dem ich mit sehr beeindruckenden Menschen in Kontakt komme. Mit Menschen, denen ich sonst wahrscheinlich nie nahegekommen wäre. Kürzlich habe ich ein Interview mit Volodymyr Hruza, dem griechisch-katholischen Weihbischof der Erzdiözese Lwiw, geführt, dessen Land gerade unter dem Vernichtungskrieg leidet, den der russische Diktator Wladimir Putin angeordnet hat. Dann habe ich das Buch „Zusammenhalten“ von Jörg Meyrer, Pfarrer aus dem Ahrtal, über die Flutkatastrophe aus dem Juli vergangenen Jahres gelesen. Die Sätze, die Hruza gesagt und Meyrer geschrieben hat, haben etwas in mir verändert.
Hruza antwortet auf die Frage, wie er als Christ auf die russischen Angreifer blicke und was er jetzt, in diesem Angriffskrieg, über Jesu Gebot der Feindesliebe denke: „Als Christen lieben wir alle Menschen, auch unsere Feinde. Aber dies ist ein Krieg des Bösen. Hier sind satanische, dämonische Mächte am Werk. Wie können die Angreifer kleine Kinder umbringen und Frauen vergewaltigen? Wie können sie wehrlose Zivilisten erschießen? Was für eine Gefahr soll denn von ihnen ausgehen? Ja, wir lieben alle Menschen, aber wenn sie unchristliche, unwürdige, unmenschliche Dinge tun, dann muss man dem auch ein Ende setzen.“
„Wir wissen, wofür wir leiden“
Meyrer schreibt: „In der Flutnacht haben 134 Menschen ihr Leben verloren. Jedes einzelne Schicksal ist zutiefst erschütternd. Jedes ist so einzig. So traurig. So viel Kampf.“ Und: „Gegen die Gewalt dieser Flutwelle war menschliche Kraft ein Nichts.“
Hruza berichtet, er habe beim Begräbnis eines gefallenen Soldaten mit seinen Angehörigen gesprochen. Sie hätten gesagt: „Ja, wir leiden, aber wir wissen, wofür wir leiden.“ Menschen, sagt Hruza, könnten wirklich sehr viel ertragen, wenn sie wissen, wofür: „Die Menschen in der Ukraine kämpfen für ihre Freiheit und ihre Zukunft, sie verteidigen ihr Land. Und sie sind sehr einig und solidarisch miteinander. Viele einfache Leute aus unseren Pfarrgemeinden kommen und kochen für Flüchtlinge. Und fragen, wie sie sonst noch helfen können. Die Flüchtlinge helfen auch selbst mit.“ Eine Frau, die in der Ostukraine bombardiert worden und nach Lwiw geflüchtet war, sei in ein Geschäft gegangen, habe alle Osterbrote gekauft, die da waren, und für bedürftige Menschen gespendet: „Sie hatte selbst nicht viel, sie hatte alles verloren. Aber sie wollte etwas geben.“
„Das Wunder der Helfer“
Meyrer schwärmt von der Solidarität nach der Flut: „Es sind unzählige Fremde da, die einfach mit anpacken. Ein Zusammenhalten, wie wir es vorher nie kannten. Das Wunder der Helfer. Das Licht in der schwarz-braunen Dunkelheit. Die Engel in der Schlamm-Hölle – wie viele sind davon zu Freunden geworden.“ Und: „Wer den Glauben an unsere Gesellschaft verloren hat, der muss ins Ahrtal kommen!“
Mich beeindruckt ihre Offenheit, ihre Klarheit, ihre Haltung. Sie sagen, was ist. Sie zeigen, wie wir es schaffen können, auch mit furchtbaren Veränderungen klarzukommen. Und was Mut und Entschlossenheit bewegen können. Sie beweisen, dass radikale Probleme auch radikale Lösungen erfordern. Sie leiden, aber sie geben nicht auf. Sie suchen Verbündete, sehen das Gute im Schlechten, sind für andere da.
Was es verändert, Menschen wie dem Weihbischof Hruza aus Lwiw und dem Pfarrer Meyrer aus dem Ahrtal zuzuhören? Es schmerzt. Es schockiert. Es treibt einem Tränen in die Augen. Weil der Horror, von dem sie erzählen, gefühlt so weit weg ist von unserem ruhigen, geordneten Leben – und in Wahrheit doch so nah dran. Von meinem Wohnort bis nach Lwiw sind’s gerade mal 1300 Kilometer, von hier bis ins Ahrtal noch nicht mal 300 Kilometer.
Unser Leben kann blitzartig kippen
Ihre Worte machen einem klar, wie blitzartig unser Leben aus den geliebten, gewohnten, ruhigen Bahnen kippen kann. Was heute selbstverständlich erscheint, könnte morgen alles infrage gestellt sein. Wir sollten also genießen, was ist.
Die Worte von Meyrer und Hruza machen anschaulich, wie grundlegend die beiden größten Krisen unserer Zeit das Leben der Menschen bedrohen: die Erderhitzung und der Krieg. Rational wissen wir alle das natürlich, aber emotional ist es uns oft irgendwie fern – weil wir nicht selbst betroffen sind. Unsere Stadt ist nicht von einer Flutwelle in Stücke gerissen worden, unser Nachbar ist nicht in seinem eigenen Haus ertrunken. Unsere Kinder sind nicht von russischen Soldaten erschossen, unsere Frauen nicht von ihnen vergewaltigt, unsere Städte nicht von ihnen in Schutt und Asche gebombt worden.
Wie könnten wir helfen?
Aber früher oder später wird die Erderhitzung die Menschen an jedem Ort der Welt in ihrer Existenz bedrohen. Und ob und wann Putin in seinem Wahn glaubt, auch Deutschland angreifen zu müssen, weiß niemand.
Wer den Betroffenen großer Krisen zuhört, Menschen wie Hruza und Meyrer, der ahnt: Wir müssen buchstäblich alles tun, um unsere Welt zu verteidigen. Und wir stehen vor großen Fragen: Was könnten wir tun, um den Leidenden von heute zu helfen? Und: Wie könnten wir helfen, die Krisen, die sie bedrohen, in den Griff zu kriegen? Mag sein, dass die Antworten darauf nicht einfach sind. Aber die Fragen sind nun mal da. Und das verändert etwas.
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Andreas