Einmal im Jahr geht’s in meinem Newsletter um die Musical-AG des Gymnasiums Lohne. Nicht, weil ich seit ein paar Monaten ehrenamtlich in ihrem Trägerverein mitwirken darf. Sondern weil sie herausragende Arbeit leistet und Stücke von bemerkenswerter Qualität auf die Bühne zaubert. Am 2. März feiert die Nachwuchsgruppe der AG Premiere mit „Alice“, die Musik macht ein 29-köpfiges Orchester. Dirigent Alexander Eik (38) hat mir im Interview erzählt, wie die Talente in seinem Team über die Jahre wachsen, jeder für sich und alle zusammen.
Was ist das für eine Musik, die Ihr bei „Alice“ spielt?
Das Stück wird vom Verlag für Profigruppen rausgegeben. Die Lieder haben vom Anspruch her fast schon Broadway-Charakter, und sie sind sehr facettenreich: Es gibt Märsche, es gibt Swing-Nummern – und es gibt eine Nummer, die im Sechs-Achtel-Takt dahergaloppiert und vom Tempo eine Riesenherausforderung ist.
Wie habt Ihr Euch diese Stücke erarbeitet – mit Schülerinnen und Schülern, die ja erst in der siebten bis neunten Klasse sind?
Vor den Sommerferien hatte ich meine Besetzung stehen. Dann habe ich mich ans Notationsprogramm gesetzt und überlegt, wem ich seine Stimme wie umschreiben muss, damit sie für ihn passt. Dann habe ich eine Mail rausgeschickt mit den ersten Noten – und gehofft, dass die Kinder in den Sommerferien zu Hause schon mal anfangen zu üben.
Und? Haben sie geübt?
Ja. Die Kinder, die schon im Vorjahr dabei gewesen sind, verschaffen sich immer zumindest einen Überblick. Und die Neuen, die wollen natürlich mithalten. Bei den ersten paar Proben sind alle immer sehr motiviert. Und wenn die Instrumente erst mal klingen, versuchen wir die ersten acht Takte zusammen und ich zähle laut mit, damit alle ein Gefühl dafür bekommen, wo wir gerade sind. Dann breche ich ab und wir schauen uns das stückweise noch mal an: Mal spielen nur die Klaviere mit dem Bass – dann dazu vielleicht die Gitarren. So tasten wir uns vor, und alles fügt sich Schritt für Schritt zusammen.
Wie gut müssen die Kinder sein, um bei Euch mitmachen zu dürfen?
Zwei Jahre Erfahrung am Instrument sollten sie schon mitbringen. Denn ich kann im Orchester keinen Instrumentalunterricht leisten. Und ich will die Kinder ja nicht überfordern, sondern fördern und unterstützen. Ich hatte mal eine Musikerin, die hat toll vorgespielt, aber sie konnte noch keine Vorzeichen spielen. Das ist in einem Musical-Orchester schwierig, denn ich kann ihr keine Noten schreiben, die immer in C-Dur sind. Das war mir zu riskant. Ihr fehlte noch ein Schritt, damit ich sagen konnte: Sie ist gut aufgehoben bei uns.
Zumal die Kinder bei Dir mit 29 Leuten in einem Orchester spielen. Das ist für viele ja krass ungewohnt.
Ja, denn die kommen in der Regel alle aus ihrem Einzel- oder Kleingruppenunterricht mit maximal vier, fünf Leuten. Und bei uns hören sie plötzlich ganz viele andere Instrumente um sich herum. Sie müssen mitkommen mit ihren Noten und vielleicht noch eine ungewohnte Tonart spielen. Das ist schon ein hoher Anspruch, das kann erst mal überfordern. Und wenn sie in einem Stück mal rauskommen und eine Chance haben wollen, wieder reinzukommen, müssen sie ja wissen: Sind wir jetzt noch in Takt fünf oder schon in Takt sechs? Im Einzelunterricht unterbricht man da und fängt an der Stelle wieder an. Bei 29 Leuten geht das nicht, da würden wir nie fertig. Sie müssen lernen, damit klarzukommen.
Wie bringst Du Leuten, die es noch nicht können, das Mitlesen bei?
Ich nutze in den Proben gern ein Mikrofon und zähle dann durch: Takt eins, zwo, drei, vier. Zwei, zwo, drei, vier. Drei, zwo, drei vier … So haben alle eine Orientierung. Das ist wie bei Word, wo vor dem bildlichen Auge immer ein Cursor mitläuft.
Und wenn Du bei einem Neuen merkst, der ist trotzdem überfordert, was machst Du dann?
Wir haben das große Glück, dass die Musiker aus unserer älteren Musical-Gruppe die Jüngeren oft unterstützen. An Probewochenenden übt zum Beispiel ein erfahrener, älterer Gitarrist ein paar Stunden allein mit einem Gitarristen aus meinem Orchester. Das ist super für die, weil sich jemand im kleinen, geschützten Raum Zeit für sie nimmt.
Und sie sind sicher stolz, wenn die Großen sich um sie kümmern, oder?
Absolut, ja. Die Kinder und Jugendlichen lernen bei uns nicht nur musikalisch und künstlerisch sehr viel, sondern sie lernen auch, wie Teamwork funktioniert und wie man Verantwortung übernimmt. Viele der Älteren bieten sehr gern ihre Hilfe an. Im Januar, bei unserer Probewoche im Dümmerheim, haben fünf von ihnen einen ganzen Samstag bei uns in der Probe mitgespielt. Da bin ich natürlich dankbar: weil sie eine Stimme noch selbstbewusster führen und sich die Jüngeren da dranhängen können und mitgezogen werden. Die Jüngeren haben total Spaß daran, mit den Älteren zu arbeiten. Auch, weil die mehr Pausen machen als ich.
Ist das so?
Auf jeden Fall. Ich mache bei Stimmproben immer so nach 60 bis 90 Minuten eine Pause. In der Regel gucken die Gruppen, die von älteren Schülern geleitet werden, immer schon nach 45 Minuten durch die Tür und sagen: „Wir sind fertig. Gibt’s hier noch Kuchen oder Süßigkeiten?“ Ist okay. Sollen sie machen.
Wie wichtig sind Eure Probewochenenden und die Woche im Dümmerheim dafür, dass Dein Orchester ein Team wird?
Enorm wichtig. Besonders die Tage im Dümmerheim sind unheimlich wertvoll. Da mischt sich vieles, oft gehen Siebtklässler mit Neuntklässlern aufs Zimmer. Und wir alle sind weg aus dem normalen Alltag. Niemand geht in der Zeit zum Handballtraining, niemand sieht seine vielleicht nervigen Geschwister. Alle sind auf einem Haufen und können sich ganz unserem gemeinsamen Projekt widmen.
Und abends auch noch viel Freizeit zusammen verbringen.
Genau. An einem Abend üben wir Partytänze, an einem schauen wir uns das Video von unserem letzten Musical-Projekt an. Und am letzten Abend machen wir eine Nachtwanderung oder ein Indoor-Chaos-Spiel, in gemischten Gruppen, was natürlich auch gut fürs Teambuilding ist. Am Ende dieser Tage sind die Kinder immer total müde, aber auch total glücklich.
Das höre ich auch von vielen.
Mir haben schon oft Eltern gesagt: „Seit mein Kind bei Euch in der Gruppe ist, übt es mehr, es kommt nach jeder Probe freudestrahlend durch die Haustür, ist total motiviert und freut sich, dass es dabei sein darf.“ Ich finde, das ist ein tolles Kompliment: dass wir es schaffen, die Kinder so zu begeistern.
Was trägt noch dazu bei, dass das Orchester im Laufe eines Jahres zum Team wächst?
Die Älteren nehmen die Jüngeren oft an die Hand. Ich finde immer toll, wenn sie am Probewochenende in der Mittagspause zusammen mit ihnen zum Dönerladen oder zum Pizzamann gehen. So wachsen die Kleinen schnell da rein. Was dabei auch hilft, ist: Anders als im Schauspiel arbeiten wir im Orchester ja fast die gesamte Probezeit im ganzen Team zusammen. Immer müssen die 29 Leute aufeinander achten und hören. So entwickeln sie ein Gespür füreinander, nicht nur musikalisch. Und dieses Gespür wächst.
Woran merkst Du noch, dass das Team zusammenwächst?
In den Jahrgängen entstehen durch die Musical-AG klassenübergreifende Cliquen. Und im Probenalltag übernehmen viele Kinder immer mehr Verantwortung, sie bauen die Mikrofone in der Aula auf, verkabeln Keyboards, kümmern sich um die Technik. Das geht irgendwann ganz automatisch. Die Leute in unserem Team stehen füreinander ein – das ist so ein bisschen wie in einer Familie.
Was ist Dir am Ende eines Jahres wichtiger: eine perfekte Orchesterleistung oder dass jeder Einzelne sich weiterentwickelt?
Mir ist wichtig, dass jeder mit seinen Möglichkeiten das beste Ergebnis abliefern kann. Natürlich ist es erstrebenswert und schön, wenn am Ende eine perfekte Aufführung ohne Fehler, ohne Unterbrechungen, ohne irgendeine Panne steht. Aber die meisten kleinen Fehlerchen merkt das Publikum ja eh nicht. Die Leute sind beeindruckt von dem, was sie sehen und hören – und die Eltern und Freunde sind mächtig stolz auf das, was die Schülerinnen und Schüler da leisten.
In den vergangenen Jahren waren viele Zuschauer von der Leistung des Orchesters schwer beeindruckt.
Freut mich, dass das so wahrgenommen wird! Das ist auch wirklich eine tolle Truppe. Und es ist stark, dass die in dem Alter schon so eindrucksvoll zusammenspielen. Wir selber aber merken natürlich schon, wenn irgendwo Fehlerchen sind.
Wie sehr ärgern die Dich?
Ich ärgere mich, wenn es Fehler an Stellen sind, die wir schon souverän und gut gespielt haben. Dann frage ich mich: Was war da jetzt los? Ich finde es schon wichtig, dass wir unser Programm so perfekt wie möglich abliefern. Meistens spreche ich Fehler dann beim Einspielen vor der nächsten Vorstellung an – und wir feilen noch ein bisschen daran.
Die Kinder sind ja von der siebten bis zur neunten Klasse in der Nachwuchsgruppe der Musical-AG. Wie entwickeln sie sich über diese drei Jahre?
Sie werden reifer, erfassen Stücke schneller und können ihre musikalischen Aufgaben immer besser umsetzen. Zumal sie ja auch von ihren Lehrern in der Musikschule ständig betreut werden. Wenn die Kinder weit genug sind und ich es ihnen zutraue, weise ich ihnen auch mal das eine oder andere Solo zu. Meistens bei den Acht- oder Neuntklässlern. Aber wir haben jetzt auch einen Trompeter im Orchester, der schon in der siebten Klasse wirklich hörenswert spielt. Was einige in dem Alter schon spielen, das finde ich bemerkenswert. Solche Leute sollen ruhig auch mal in den Vordergrund treten.
Wie ist das für die: zum ersten Mal ein Solo zu spielen?
Am Anfang aufregend. Ich merke das schon bei den Proben. Wenn ich zu Beginn des Schuljahres sage, Saxophon 2, spiel mir doch bitte die Takte einmal alleine vor, dann trauen sich einige erst nicht. Und ich muss sie schon ermutigen, aus sich rauszukommen und das vor den 28 anderen zu spielen.
Hilft das?
Ja, das hilft. Nach ein paar Wochen ist das kein Problem mehr. Und jetzt trauen sich alle. Klar passieren da vielleicht noch mal Fehlerchen, aber das ist kein Problem für sie. Und das ist für mich auch ein Zeichen von Entwicklung und Reifung. Mir ist wichtig, dass der Probenraum ein geschützter Raum ist. Da kann jeder bei seinem Solo auch mal danebenlangen, das ist völlig okay. Danach können wir immer noch entscheiden, ob derjenige sich damit wohlfühlt oder nicht.
Und wenn die Kinder beim Auftritt dann ihr Solo gemeistert haben?
Dann ist das schon eine Nummer. Da gibt’s durchaus das eine oder andere Augenzwinkern von mir, wenn das schön war – als kleine Anerkennung zwischendurch.
Nach der neunten Klasse wechseln die Kinder in die große Musical-AG. Wie ist das für Dich: sie gehen zu lassen?
Ich kann die ganz beruhigt ziehen lassen. Ich weiß ja, dass sie da auch tolle, motivierende Musik spielen – und dass sie sich noch weiterentwickeln, weil das Niveau da noch einen Tick höher ist und sie vor noch größere Herausforderungen gestellt werden. Genau das ist ja unsere Idee: dass sie von Jahr zu Jahr besser werden, erst bei mir, dann bei den Großen.
Am 2. März spielt Ihr mit Eurem Team die Premiere von „Alice“. Schon nervös?
Ich kann ganz gut schlafen vor der Premiere. Ich bin angespannt, aber riesiges Lampenfieber habe ich nicht.
Und Dein Orchester?
Die sind schon nervös. Ich merke das in der Anspielprobe daran, wie sie dann plappern und danach noch Fußball spielen gehen und sich abreagieren. So überspielen sie ihre Nervosität. Wenn’s losgeht, komme ich ja im Dunkeln rein in die Aula. Dann merke ich, wie angespannt sie da sitzen und sich umschauen: Sind alle da? Kriegen wir das hin? Die ersten Takte haben wir immer besonders gut einstudiert, dann gibt’s den ersten Applaus, und das löst schon mal den Knoten.
Wie geht es Dir, wenn Euer Auftritt super geklappt hat?
Vor zwei Jahren, bei der Premiere von „Captain Louie“ nach dem Lockdown, hatte ich am Ende eine zweiminütige Gänsehaut. Ich war so dankbar, dass wir das endlich wieder machen durften und dass alles so rund gelaufen ist. Das hat mich total gerührt. Diesmal wird’s bestimmt auch wieder ein schönes Erlebnis. Ich bin gespannt.
So, liebe Leute, zwei Bitten habe ich jetzt noch – und einen Tipp.
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Bis zum nächsten Mal: alles Gute!
Andreas