In der vergangenen Woche konnte man den Eindruck gewinnen, Joshua Kimmich sei der medizinisch beschlagenste Sportler der Welt. Viele Medien jedenfalls nahmen seine dramatisch uninformierte Privatmeinung zu Corona-Impfungen so wichtig, dass sie tagelang Geschichten daraus strickten. Eine kleine Auswahl:
Kimmichs Aussagen im Faktencheck
Experten kontern Aussagen von Kimmich zu Covid-19-Impfungen
Lauterbach kritisiert Kimmich
Lafontaine verteidigt Bayern-Star – und beleidigt Lauterbach
Bundesregierung hofft auf Umdenken bei Kimmich
Stiko-Chef Mertens weist Corona-Impfbedenken von Kimmich zurück
Spätestens als die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel den Fußballer als „Vorbild“ lobte, war die Schlagzeilenschlacht nur noch gaga. Aber die Schlacht hat halt Aufmerksamkeit erzeugt, und genau das ist das Problem in einer zunehmend hysterischen Medienwelt: Dumm klickt gut. Je prominenter jemand ist und je schriller er sich zu einem gerade populären Thema äußert, desto größer wird seine Geschichte gemacht. Ob er Ahnung von dem Thema hat, ob seine Aussage einen Hauch von Sinn oder Relevanz hat und ob sie etwas voranbringt – all das scheint eher nebensächlich zu sein.
Impfexperte Prof. Dr. Kimmich
Durch die überdimensionierte Berichterstattung über den Fall Kimmich entsteht der falsche Eindruck, es gebe hier eine ernstzunehmende Debatte. Aber: Nein, die gibt es nicht. Es gibt nur einen Profifußballer, der zwar einen maximal privilegierten Zugang zu seriösen Quellen bezüglich Corona hat – aber trotzdem einfach Unsinn erzählt. Er begründet seine Impfskepsis allen Ernstes mit bisher fehlenden Langzeitstudien. Dass es die bei einer so neuen Krankheit noch nicht geben kann, versteht jeder Grundschüler; dass Nebenwirkungen nach Impfungen generell nicht erst Monate später auftreten, ist auch längst bekannt.
Die Meinung des Kickers Kimmich aber wirkt durch die Flut von Nachrichten dennoch wichtig. Beim oberflächlichen Lesen gelangt man leicht zu dem Fehlschluss, da stünden sich zwei ähnlich kluge Impfexperten mit ähnlich fundierten Meinungen gegenüber: Hier der Stiko-Chef Prof. Dr. Mertens, dort der Bayern-Chefspieler Prof. Dr. Kimmich.
In Wahrheit liegt die Expertise der beiden natürlich Welten auseinander. Und wie absurd es ist, Kimmichs Gerede Raum zu geben, lässt sich an einem kleinen Gedankenexperiment zeigen. Stellt Euch mal vor, der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission würde sich zum hübsch blamablen 0:5 des FC Bayern bei Borussia Mönchengladbach im DFB-Pokal äußern.
Welche Schlagzeilen das gäbe:
Mertens rügt Bayerns Chaos-Abwehr!
Stiko-Chef: Autsch – dieses 0:5 pikst!
Kahn kontert Mertens-Attacke!
Bundesregierung vermittelt im großen Bayern-Stiko-Streit!
Würdet Ihr für Texte mit solchen Überschriften freiwillig Lebenszeit opfern?
Hat das Sinn – oder kann das weg?
Ich möchte für einen veränderten Blick auf all die Nachrichten werben, die uns täglich auf so vielen Kanälen erreichen. Für einen kritischeren, gelasseneren, manchmal auch spöttischeren Blick. Oft reicht schon die Frage: Hat das Sinn – oder kann das weg? In Zweifelsfällen helfen seriöse Faktenchecks wie die von Correctiv. Ansonsten dürfen wir öfter auch mal einen Aufreger grußlos vorbeiziehen lassen. Schadet meistens nicht. Nebenbei gewinnt, wer weniger Belangloses liest, Zeit für Sinnvolles, Kluges, Schönes. Kicken mit den Kindern, Weintrinken mit Freunden, ein gutes Buch.
Aber das Problem, für das der Fall Kimmich steht, ist nicht nur privat. Es betrifft die ganze Gesellschaft – und alle großen Themen: Nachrichtenlärm wie der um den Fußballer raubt Aufmerksamkeit für wirklich relevante Fragen. In der Corona-Krise etwa für Fragen wie: Was sagen Fachleute zu den Impfungen für 5- bis 11-Jährige, die es bald geben soll? Wie könnte man Risikogruppen flächendeckend bewusstmachen, dass sie jetzt eine Drittimpfung brauchen? Wie sinnvoll ist es, dass in vielen Schulen weiterhin Masken getragen werden müssen?
Und der Nachrichtenlärm wird lauter. In einer immer schnelleren Medienwelt, auf immer mehr Kanälen, werden immer mehr steile Thesen in die Welt gesetzt werden. Da wird es wichtiger zu prüfen, welche Kompetenz ein Thesensetzer hat. Prominenz sagt nichts darüber aus, ein x-beliebiger Doktortitel nichts, ein Professorentitel nichts. Das ließ sich in der Corona-Zeit beobachten, als Experten aller möglichen Fachrichtungen zu jedem virologischen Detail befragt wurden – auch wenn sie Soziologen, Lehrerverbandsvertreter oder Schauspieler waren.
Soziale Netzwerke fördern Desinformation
In den wilden Debatten, angefeuert durch Facebook und Youtube, geht leicht unter, was wichtig ist und was nicht. Was Fakten sind und was Meinungen. Die jüngsten Enthüllungen der Facebook Papers zeigen, wie soziale Netzwerke Erregung vergrößern, die Lösung von Problemen verhindern, Desinformation fördern und letztlich Populisten stärken.
Der libanesische Essayist Nassim Nicholas Taleb weist in seinem herrlich arroganten und unfassbar klugen Buch „Antifragilität“ darauf hin, dass zu viele Nachrichten wie Junkfood sind – und schädliche Nebenwirkungen haben: Sie stressen uns, irritieren uns und verleiten uns dazu, zu heftig zu reagieren. Taleb schreibt: „Am besten wäre es, ausschließlich auf die sehr großen Umstände zu achten, nie auf die kleinen.“
Und für Debatten auf Stammtischniveau braucht man eh nicht das Internet leer zu lesen. Die führt man, wenn man Spaß haben will, am besten selbst.
Das war’s für heute von mir – nur eine Bitte habe ich noch: Empfehlt meinen Newsletter weiter, wenn er Euch gefallen hat. Geht ganz einfach, mit diesem Link:
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Dieser Text kam ausnahmsweise schon nach einer Woche – das Thema war einfach zu schön, um es zu ignorieren. Mein nächster Text über Veränderung kommt nun wieder wie gewohnt in zwei Wochen.
Bis dahin: alles Gute!
Andreas