Die meisten von uns müssen sich früher oder später mit dem Thema Demenz auseinandersetzen – weil sie selbst, ihr Partner, ihre Freunde oder Eltern an Demenz erkranken. Viele sind damit überfordert. Marie-Luise Bertels (37), Geschäftsführende Gesellschafterin der Zerhusen und Blömer Gruppe, berät Privatleute und Pflegeeinrichtungen im Umgang mit Demenz. Im Interview hat sie mir erklärt, wie Angehörige einen anderen Blick auf das Verhalten der Erkrankten lernen können – und wie das allen das Leben erleichtert.
Was macht es vielen Angehörigen so schwer, mit Menschen mit Demenz umzugehen?
Die meisten sind völlig überfordert. Vielen fehlt ganz viel Wissen – und damit Verständnis für die Erkrankten. Manche wissen noch nicht mal, dass Demenz eine Krankheit ist. Sie denken, es sei einfach eine Alterserscheinung. Und die Angehörigen bringen natürlich ihre persönlichen Emotionen mit: Enttäuschung, Traurigkeit, Wut. Weil sie den Menschen, der an Demenz leidet, ja anders kennen, als er jetzt ist.
Und diese Emotionen führen oft zu Konflikten?
Genau. Wenn ein Mensch mit Demenz zum Beispiel etwas sagt, was nicht real ist und einfach nicht stimmt, dann haben viele Angehörige den Impuls, dagegen anzugehen und ihn zu korrigieren. Dabei ist es ganz wichtig, das Gesagte zu akzeptieren.
Hast Du ein Beispiel dafür?
Nehmen wir an, eine Frau mit Demenz sagt: „Ich muss jetzt los. Ich muss die Kinder von der Schule abholen.“ Dann antwortet ihr Mann häufig: „Du musst die Kinder nicht von der Schule holen. Die sind doch schon längst erwachsen und wohnen in Berlin und Hamburg.“ Diese Reaktion kann ich gut verstehen. Denn der Mann hat ja ein Bedürfnis nach Realität, nach einer normalen Kommunikation. Er ist vielleicht sauer, weil er schon vorher mit seiner Frau diskutiert hat und wegen ihrer Erkrankung ohnehin sehr angespannt und gestresst ist. Aber wenn er häufig so reagiert, führt das dazu, dass seine Frau sich immer mehr zurückzieht und immer weniger sagt – und irgendwann vielleicht ganz verstummt. Weil sie den Eindruck bekommt: Ich bin blöd und alles, was ich sage, ist falsch.
Wie kann der Mann besser reagieren?
Er muss erst mal herausfinden, was für ein Gefühl seine Frau hat, wenn sie sagt, sie müsse die Kinder abholen. Wahrscheinlich ist das Gefühl Sorge. Sie sorgt sich um die Kinder, sie will sich um sie kümmern.
Wie kann der Mann damit umgehen?
Er muss dieses Gefühl, also die Sorge, ansprechen, um seiner Frau zu zeigen, dass er es auf seinen Schultern mitträgt. Dadurch wird die Sorge automatisch kleiner. Im nächsten Schritt muss er das Gefühl dann ernstnehmen – und ein bisschen ablenken und verallgemeinern. Zum Beispiel so: „Gerda, Du sorgst Dich um Deine Kinder! Wir holen die Kinder ja immer ab. Ich weiß noch, wie toll Du das früher schon gemacht hast.“ Und: „Wie viele Mütter da immer vor der Schule stehen, um ihre Kinder abzuholen!“ Er sollte auch versuchen, ihre Identität zu bestärken, indem er sagt: „Mensch, Du warst immer so eine tolle Mutter. Deine Kinder konnten sich jederzeit auf Dich verlassen.“
Und dann ist alles wieder gut?
Nicht unbedingt. Es kann sein, dass die Frau in diesem Moment sehr glücklich und erleichtert ist – und zehn Minuten später wieder sagt: „Ich muss los, die Kinder abholen.“ Dann geht dasselbe wieder von vorne los. Und es ist fraglich, ob die Strategie, die der Angehörige eben probiert hat, auch diesmal funktioniert. Es gibt kein Handbuch, das mir genau sagt: In dieser Situation mache ich dies, in jener Situation mache ich das. Demenz ist superindividuell. Was heute funktioniert, kann morgen schiefgehen. Ich muss dann einfach die Strategie wechseln.
Was ist dabei entscheidend?
Wichtig ist immer, sich in den Menschen mit Demenz hineinzuversetzen: Wie fühlt er sich gerade? Was bringt ihn dazu, sich so zu verhalten? In unserer Pflegeeinrichtung sagen wir: „Wir laufen in den Schuhen des Erkrankten.“
Hast Du noch ein Beispiel dafür, warum das so wichtig ist?
Stell Dir vor, Du begegnest auf dem Stoppelmarkt …
… einem riesigen Volksfest hier bei uns in Vechta …
… einer jungen Mutter, die völlig panisch ist, weil sie ihr Kind verloren hat. Was machst Du dann?
Ich denke, ich gehe auf sie zu und frage, wie ich helfen kann. Ich frage, wie das Kind aussieht und wo sie es zuletzt gesehen hat.
Genau. Du nimmst die Mutter also völlig ernst. Wenn eine Frau mit Demenz aber sagt: „Ich hab mein Kind verloren“, nehmen viele Menschen sie gar nicht ernst. Pflegekräfte, die sich mit der Krankheit nicht auskennen, sagen: „Oh, Frau Meyer, es ist alles gut. Setzen Sie sich. Beruhigen Sie sich mal. Trinken Sie mal einen Kaffee mit mir!“ Stell Dir mal vor, Du würdest das zu der Frau auf dem Stoppelmarkt sagen. Die würde Dir ihre Handtasche übern Kopf ziehen.
Ja, klar!
Die Frau mit Demenz ist gedanklich aber gerade wahrscheinlich auch real auf dem Stoppelmarkt und sucht ihr Kind. Ich muss mich in sie hineinfühlen und ernstnehmen, was sie sagt. Für Angehörige ist das noch viel schwieriger als für Pflegekräfte, weil sie keine professionelle Distanz haben. Sie ärgern sich viel mehr darüber und verlieren viel schneller die Geduld. Sie sind mit dem Thema ja Tag und Nacht konfrontiert – und würden vielleicht auch gern mal an sich denken.
Wie kann ich als Angehöriger lernen, mehr Geduld zu haben?
Ratsam ist, sich andere Angehörige zu suchen, die das Gleiche durchmachen. Und Veranstaltungen zu besuchen zum Thema Demenz, um mehr Wissen aufzubauen. Wir bieten solche Infotreffen an, und da spüre ich: Die Kommunikation unter den Angehörigen ist das Wichtigste für sie. Damit sie merken: Ich bin mit meinen Sorgen und Nöten nicht allein. Und ich kann lernen, mit dieser schweren Situation besser umzugehen und sie etwas leichter zu nehmen …
… auch wenn das immer eine Herausforderung bleibt.
Absolut! Angehörige können ab einem gewissen Stadium der Demenz ja auch keine vernünftige Unterhaltung mehr mit dem Erkrankten führen. Das heißt: Sie waren vielleicht seit 50 Jahren ein Zusammenleben mit diesem Menschen gewohnt – und stehen plötzlich allein da. Die Angehörigen gehen einen wirklich harten Weg. Sie durchleben die Krankheit mit und entwickeln durch die hohe Belastung häufig eigene Krankheiten, psychische und auch körperliche.
Angenommen, Angehörige schaffen es, das Verhalten und die Gefühle ihres Partners mit Demenz zu verstehen und zu lesen. Was verändert das für sie und für ihn?
Das erleichtert so vieles. Manche Angehörige sagen zum Beispiel: „Mein Mann isst den ganzen Tag nur Schokolade. Ich verstehe nicht: Was soll das? Er wird immer dicker.“ Wenn der Angehörige aber weiß, dass Menschen mit Demenz ihren Geschmack verändern und häufig Süßes bevorzugen, dann verstehen sie auch, warum er plötzlich mehr auf Süßes steht. Oder wenn ein Mensch mit Demenz nicht mehr isst – dann hilft es zu wissen, woran das liegen könnte.
Woran denn?
Stell Dir vor, der Angehörige hat einen weißen Tisch mit einem weißen Teller und es gibt weiße Spargelcremesuppe. Der Mensch mit Demenz sitzt davor und isst nicht. Das kann daran liegen, dass er die Suppe gar nicht sieht und erkennt. Weil das Augenlicht im Alter sowieso getrübt wird – und in der Demenz oft auch noch die Tiefenwahrnehmung verlorengeht. Die Teller bei uns in der Pflegeeinrichtung haben deshalb rote Ränder – damit die Menschen mit Demenz den Kontrast besser wahrnehmen und die Suppe leichter erkennen können.
Hast Du noch ein Beispiel, was es verändert, wenn ich einen Menschen mit Demenz gut lesen kann?
Klar. Wenn mein Mann an Demenz leidet und ich ihn frage „Möchtest Du Reis oder Kartoffeln?“, dann sagt er in der Regel das, was ich zuletzt gesagt habe.
Also: Kartoffeln …
… obwohl er vielleicht lieber Reis möchte. Aber er kann sich nicht mehr an das Wort erinnern. Er ist damit völlig überfordert. Also koche ich Kartoffeln für ihn. Aber er isst die nicht. Weil er sie nicht will. Dann werde ich sauer. Und dann wird er sauer. Und dann sind alle unglücklich.
Wie könnte ich es besser machen?
Wenn ich weiß, dass diese Frage meinen Mann überfordert, dann stelle ich sie so erst gar nicht. Sondern ich gehe vielleicht mit der Kartoffel- und der Reispackung zu ihm und lasse ihn in Ruhe entscheiden. Das bringt viel mehr Harmonie in den Alltag und verhindert Konflikte. Und es verhindert, dass ich all die Konfliktsituationen irgendwann nicht mehr händeln kann, zum Arzt gehe und mir für meinen Mann sedierende Medikamente verschreiben lasse.
Und was verändert es für meinen Angehörigen mit Demenz, wenn ich ihn gut verstehe?
Es gibt ihm ein gutes Gefühl. Das Gefühl, gleichberechtigt zu sein.
Dieses Gefühl will ja jeder Mensch gern haben.
Genau. Und jeder Mensch will auch gebraucht werden und eine Aufgabe haben, sonst fühlt er sich nicht mehr als Teil der Gesellschaft. Wenn ich es nun aber als Angehörige mit einem Menschen mit Demenz gut meine und ihm alles abnehme und ihm keine Aufgabe mehr gebe, dann führt das zu Konflikten. Natürlich kann ich ihm nicht die ganze Küche überlassen. Aber vielleicht hat er immer schon gern den Rasen gemäht – dann kann er das auch heute noch. Oder vielleicht hat sie immer Kartoffeln geschält – dann kann sie das auch in der Demenz noch. Solche Bewegungsabläufe verlernt man zuletzt. Ist doch egal, ob das alles perfekt ist. Hauptsache, die Menschen spüren: Ich habe eine Aufgabe. Ich trage dazu bei, dass hier alles funktioniert.
Was ist die Botschaft, die ich Menschen mit Demenz vermitteln sollte?
Du bist wertvoll! Du wirst gebraucht. Weil’s Dich gibt, geht’s mir gut. Es ist so wichtig, Menschen mit Demenz ein gutes Gefühl zu geben – aber natürlich hat jeder Mensch andere Bedürfnisse. Es gibt nicht das eine Konzept, das für jeden funktioniert. Wir arbeiten seit vielen Jahren mit der Silviahemmet-Philosophie. Sie hilft uns sehr, weil sie uns einen roten Faden gibt. Aber bei jedem Menschen müssen wir schauen: Wie passt der rote Faden zu ihm? Was können wir tun, um seine Lebensqualität so gut wie möglich zu erhöhen?
Wie kann ich Bedürfnisse als Angehöriger besonders gut herausfinden?
Indem ich den Menschen mit Demenz beobachte und mir seine Reaktionen anschaue – die verbalen und die nonverbalen. Ganz typisch ist zum Beispiel der Satz: „Ich will nach Hause.“ Er bedeutet nicht, dass der Mensch zu dem Zuhause will, wo er die letzten 40 Jahre gewohnt hat. Sondern er bedeutet: „Ich möchte mich jetzt wohlfühlen. Hier fühle ich mich nicht wohl. Hier gehöre ich gerade nicht hin. Hier habe ich keine Aufgabe.“ Dieses Bedürfnis muss ich erkennen.
Was könnte ich dann tun?
Wir hatten mal einen Bewohner, der hat immer nach dem Abendessen gesagt, er wolle nach Hause. Dann ist er aufgestanden, hat sich seine Jacke geschnappt, ist in den Garten und wollte los. Und wir mussten ihn immer wieder einsammeln, was viel Zeit und Kraft gekostet hat.
Was habt Ihr gemacht, um das Problem zu lösen?
Wir haben mit seinen Angehörigen gesprochen – und sein ganzes Leben rekonstruiert. Dabei haben wir herausgefunden, dass er früher, als er noch gearbeitet hat, immer nach dem Abendessen die Post sortiert hat. Deshalb hatte er auch jetzt das Bedürfnis, die Post zu sortieren. Er konnte aber nur sagen: „Ich will nach Hause.“ Hätte er einmal gesagt, er will die Post sortieren, wäre die Lösung ja einfach gewesen. So haben wir vieles probiert, aber nichts hat funktioniert.
Aber jetzt kanntet Ihr die Lösung.
Ja. Wir haben ihm einen Schreibtisch hingestellt und Postsachen daraufgelegt. Dann haben wir ihn nach dem Essen zum Schreibtisch begleitet – und das Thema war gegessen. Er hat nie wieder gesagt, dass er nach Hause will. Das zeigt wieder, wie wichtig es ist, das Verhalten und die Aussagen von Menschen mit Demenz zu entschlüsseln.
Man muss also oft auch herausfinden, aus welcher Phase des Lebens ein Bedürfnis kommen kann?
Ja, man muss Biografiewissen haben, die Angehörigen einbinden – und natürlich auch den Betroffenen selber. Dann kann man am ehesten verstehen: In welcher Lebensphase befindet er sich gerade? Warum genau verhält er sich so? Was meint er damit? Und was könnte ich jetzt tun, damit er sich wohlfühlt und seine Lebensqualität trotz seiner Einschränkungen möglichst hoch ist?
Wenn ein Angehöriger und ein Mensch mit Demenz das richtig gut hinkriegen, können sie dann bis zum Schluss richtig glücklich sein?
Ja, absolut. Natürlich ist da ganz viel Traurigkeit und Schmerz. Aber es gibt auch ganz viele tolle und glückliche Momente. Und die kann man mitnehmen und genießen. Es ist ja immer an Dir, wie Du diese Momente interpretierst. Es kann sein, dass Dein Mann, der nie so wirklich der Nähetyp war, in der Demenz plötzlich ganz viel Nähe mit Dir haben will. Also lernst Du ihn nochmal von einer ganz anderen Seite kennen und hast eine ganz besondere, tolle Zeit mit ihm. Pflege wird viel zu oft reduziert auf Waschen und Toilettengänge. Aber das Schöne, was Du wiederkriegst von den Menschen, das ist so intensiv – weil Menschen mit Demenz oft so emotional sind.
Wie meinst Du das?
Das kann man ein bisschen mit Kindern vergleichen: Klar ist es mit Kindern oft anstrengend, aber wenn sie dann lachen, ist alles wieder gut. Ich weiß nicht, ob man als Angehöriger jeden Tag die Kraft hat, das zu sehen. Und natürlich gibt es auch sehr herausfordernde Demenzformen, wo das wirklich schwierig ist. Aber es gibt auch Hoffnung, dass man das gut händeln kann. Und es lohnt sich, die schönen Momente immer wieder zu entdecken.
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Bis zum nächsten Mal: alles Gute!
Andreas
PS: Informationen zur Pflege und Betreuung von demenziell veränderten Menschen findet Ihr hier: www.demenzakademie.de