„Die Zeit meines Lebens“
Jonathan Grotmann erzählt, wie ihn der Bachelor of Being verändert hat
Viele junge Menschen brauchen nach Schule oder Studium eine Auszeit, um sich zu orientieren. Sie machen ein freiwilliges soziales Jahr, arbeiten als Au-Pair oder gehen auf Weltreise. Jonathan Grotmann hat beim Bachelor of Being mitgemacht. Klingt verkopft, ist aber eine Zeit voller Herz und Gefühl. Im Interview hat der 23-Jährige mir erzählt, wie die fünf Monate seinen Blick auf die Welt verändert haben – und auch auf sich selbst.
Wie bist Du darauf gekommen, am Bachelor of Being teilzunehmen?
Ich bin im Internet zufällig über eine Anzeige gestolpert. Ich hatte sie mir kaum durchgelesen, da wusste ich intuitiv schon: Das ruft mich. Da muss ich hin.
Was genau hat Dich gereizt?
Ich war damals fertig mit meinem Bachelorstudium Architektur. Mir war klar: Architektur macht mir Spaß, das kann ich mir beruflich vorstellen. Aber es gibt da eben auch noch eine andere Leidenschaft in meinem Leben: die Psychologie, die Auseinandersetzung mit mir selber, mit anderen, mit der Welt. Der Bachelor of Being hat mir genau das versprochen, was ich gesucht habe. Und natürlich war da auch die Aussicht, fünf Monate zusammen mit anderen Leuten im gleichen Alter zu verbringen – ein ziemlicher Traum.
Ihr habt mit 25 Leuten zwischen 18 und 25 Jahren von Oktober bis März auf einem Bauernhof in der Nähe von Kassel gelebt. Wie war das, als Du da angekommen bist?
Großartig. Die ersten Monate waren gefühlt, als hätten wir alle Drogen genommen.
Oha! Inwiefern?
Es dauerte drei, vier Tage, dann lagen wir eigentlich die meiste Zeit in Kuschelhaufen im Gemeinschaftsraum rum. Immer, wenn ich in diesen Raum gekommen bin, war ich total überwältigt von einem Gefühl von Liebe. Da waren Menschen, mit denen ich normalerweise in meinem Alltag nicht unbedingt zu tun gehabt hätte – und trotzdem hatte ich plötzlich so viel Zuneigung für jeden Einzelnen von ihnen. Es gab auch kaum sowas wie die Grüppchenbildung, die man sonst so kennt. Ich weiß, das klingt fast schon absurd-romantisch, aber es war wirklich so. Und das war neu für mich.
Ihr habt aber ja nicht nur den ganzen Tag gekuschelt.
Nein, natürlich nicht. Die eine Hälfte der Woche war fest angeleitetes Programm und die andere Hälfte frei. Im Programm ging es um persönliche Themen wie: Wer bin ich und was prägt mich? Wo will ich hin? Wie kann ich helfen, die Welt zu gestalten? Aber es ging auch um gesellschaftliche Themen wie: Wie geht Menschlichkeit? Wo kommen all die Krisen her und was haben wir damit zu tun? Welche Visionen gibt es für die Welt von morgen?
Klingt ziemlich theoretisch.
War aber auch total praktisch, wir haben viele Übungen gemacht. Für mich waren die Einheiten, in denen wir unsere Gefühle erforscht haben, besonders bedeutsam und intensiv. Wir haben über Trauer, Angst, Freude und Wut gesprochen – und sie gemeinsam ausgelebt. Und wir haben gelernt, aus all diesen Gefühlen auch eine Kraft ziehen zu können.
Wie ging das?
Wir haben zum Beispiel überlegt: Mit welchen anderen Teilnehmenden habe ich Situationen, in denen ich in eine Wut reinkomme? Und wie könnte ich ihnen das auf eine Art mitteilen, die ein Geschenk für sie ist?
Wie soll das gehen?
Ich könnte ja auf Dich zugehen und Dir sagen: „Hey, in dem Moment ist das und das zwischen uns passiert und das hat mich wütend gemacht. Ich weiß, ich hätte auch etwas anders machen können. Aber ich wollte mal sagen, so und so habe ich darauf reagiert.“ Dann verstehst Du besser, wie ich ticke – und kannst reflektieren: Ah, okay, so reagiert jemand auf mein Verhalten. Vielleicht ist da ein Schatten von mir, den ich mir mal angucken sollte. Schattenarbeit war sowieso eins der großen Themen für mich in dieser Zeit.
Wie meinst Du das?
Ich bin Seiten von mir begegnet, die andere Menschen verletzen können, aber auch mich selbst. Und ich habe in dieser Gruppe einen Ort gefunden, an dem das sein darf, an dem das angeguckt werden kann und plötzlich gar nicht mehr sein muss, weil ich geliebt, gesehen, akzeptiert werde. Das war eine extrem heilsame Erfahrung für mich.
Welche Schattenseiten von Dir waren das, die Du kennengelernt hast?
Ich bin auf eine Art narzisstisch geprägt. Es fällt mir relativ schwer, andere Menschen zu schätzen und sein zu lassen, wie sie sind – und mir nicht zu wünschen, dass sie so sind, dass sie mir meine Bedürfnisse erfüllen. Ich kann es schwer haben, wenn andere besser sind als ich. Und ich brauche es, mich von anderen abzuheben. Jetzt weiß ich: All das hat viel mit der Familie zu tun, in der ich aufgewachsen bin. Meine Mutter war von negativen Gefühlen insgeheim überfordert, und als Kind habe ich unbewusst darauf reagiert und diese Gefühle verdrängt, um ihr nicht zur Last zu fallen.
Wie bist Du mit diesen Erkenntnissen umgegangen?
Tatsächlich war es schon ein sehr, sehr wichtiger Schritt, diese Schattenseiten zu erkennen. Wenn ich mich jetzt dabei ertappe, dass ich wieder so bin, dann kann ich liebevoll zu mir selber sagen: Ah ja, da ist es wieder. Und wenn ich das erkenne und auch merke, warum ich mich so verhalte und dass eigentlich eine Verletzung dahintersteckt, ist es schon so gut wie weg.
In welchen Momenten musstest Du am weitesten aus Deiner Komfortzone raus?
Das Thema Gefühle war für mich wirklich intensiv. Ich hatte vorher keinen guten Zugang zu meiner Gefühlswelt. Da zum ersten Mal richtig draufzuschauen, war durchaus überfordernd. Ich habe sowohl Trauer erlebt und häufig geweint als auch meine Wut kennengelernt und die Kraft, die in ihr steckt. Dafür waren die Beziehungen zu den Menschen dort besonders wichtig, in denen ich mit diesen Gefühlen in Kontakt gekommen bin.
Als ich zum ersten Mal vom Bachelor of Being gehört habe, klang das für mich total verkopft. Aber was Du erzählst, klingt gar nicht nach Kopf, sondern ganz viel nach Herz und Gefühl.
Absolut, ja. Das war die Zeit meines Lebens. Da war so eine Lebendigkeit! Ich hatte vorher schon mit Menschen tiefgründige Gespräche geführt und spannende Freundschaften und Liebesbeziehungen gehabt. Aber die Art, wie wir da aufeinandergetroffen sind, war noch mal viel intensiver. Wir haben erlebt: Wie geht Beziehung? Wie geht Gefühle fühlen? Was sind Themen aus meiner Biografie, die mich prägen? Wie wollen wir zusammenleben? Und das alles eben nicht theoretisch, sondern komplett in der Praxis. Das war überwältigend.
Was habt Ihr in der freien Zeit gemacht?
Da konnten wir selbst etwas organisieren. Wir als Teilnehmende konnten in Anleiterrollen schlüpfen. Eine Teilnehmerin war zum Beispiel Tänzerin und hat Tanzunterricht angeboten – und plötzlich haben sich zehn Leute gefunden, die darauf Bock gehabt und Paartanz gelernt haben. Wir haben auch Sport gemacht, Theater gespielt, einen Chor gegründet, Diskussionsrunden, Lesezirkel. Und wir waren jeden Tag Eisbaden. Eine wichtige Erfahrung.
Und über welche gesellschaftlichen Fragen habt Ihr beim Bachelor of Being gesprochen?
Ein Schwerpunkt war das Thema: Wir in der Welt. Darin haben wir diskutiert, wie die großen Krisen der Welt miteinander verbunden sind – die ökologischen wie auch die sozialen und die Kriege wie der in der Ukraine. Und wir haben überlegt, warum wir diese Krisen so oft verdrängen und nur gucken, wie wir selber durchkommen. Wir haben dann im ersten Schritt versucht, einmal die Gefühle zuzulassen, die hochkommen, wenn man mal wirklich an sich ranlässt, was alles gerade schiefläuft auf der Welt. Wir haben aber auch gelernt: Wie geht Engagement? Wo müssen Regierungen helfen, die Krisen zu bewältigen? Und wie können kleine Organisationen im Lokalen wirksam werden und so großen Einfluss haben?
Wie haben diese Diskussionen Deinen Blick auf Deine beruflichen Wünsche verändert?
Nach dem Bachelor of Being war klar: Was auch immer ich in meiner Berufslaufbahn tun werde, muss auf jeden Fall den Werten von Menschlichkeit, Nachhaltigkeit, Wohl für alle unterstehen. Das ist für mich nicht mehr verhandelbar. Eine reine Karriere kann ich mir nicht mehr vorstellen. Und die Zeit war ein Beweis dafür, dass das Psychologische definitiv eine wichtige Rolle in meinem Leben spielen muss – weil ich dafür einfach am meisten Leidenschaft habe.
Was hieß das konkret?
Mein Vater ist Architekt und Projektentwickler. Er hat eine Firma, und mein ursprünglicher Plan war, irgendwann dort einzusteigen und die Firma auf lange Sicht zu übernehmen. Mittlerweile zögere und zweifle ich da. Klar, die Aussicht auf diese Firma ist ein unglaubliches Privileg und das beste Sprungbrett in die Karrierewelt, und das steht mir einfach so zu Verfügung. Aber ich frage mich jetzt auch: Ist das wirklich meins?
Und? Ist es Deins?
Ich zeichne gern und mache gern Kunst. Es ist mir wichtig, dem Erbe meines Vaters gerecht zu werden. Und ich glaube, dass es durchaus zu mir gehört, Führung zu übernehmen, Entscheidungen zu treffen, Unternehmer zu sein. Aber es ist eben nicht alles. Mir fehlt bei der Architektur das Psychologische. Jetzt suche ich Wege, wie beides Platz finden kann in meinem Leben.
Wie machst Du das?
Ich habe nach dem Bachelor of Being erst mal bei meinem Vater mitgearbeitet. Das war gut. Gleichzeitig war aber auch klar: Das reicht mir nicht. Ich brauche mehr. Also habe ich angefangen, Workshops zu geben zu Themen wie beim Bachelor of Being. Und ich habe in Berlin eine Ausbildung zur Transformationsbegleitung gemacht. Auf dem Papier ist das eine Business-Coaching-Ausbildung, in der Praxis lernen wir da aber viele psychologisch orientierte Methoden, die ein möglichst breites Verständnis davon geben sollen, wie Transformation auf allen Ebenen passiert – individuell, aber auch in Teams, in Organisationen und in der Gesellschaft.
Deine Suche ist also noch nicht am Ende.
Genau. Ich verlasse die einfachen, vorgeschriebenen Pfade, die gerade Bahn: Architekturstudium, Bachelor, Master, vielleicht in ein, zwei anderen Büros arbeiten und dann durchstarten bei meinem Vater. Zurzeit nehme ich als Pädagogische Assistenz beim dritten Durchgang des Bachelor of Being teil. Und die Frage, was am Ende aus all dem wird, die kann ich noch nicht beantworten. Aber dass sich Architektur und Psychologie verweben sollen, das ist für mich relativ klar.
Wie könnte das aussehen?
Ein simpler Weg wäre, zeitweise beides nebeneinander her zu machen. Aber es gibt noch eine andere Idee. Die Firma meines Vaters macht ja nicht nur Architektur, sondern auch Projektentwicklung: Gebäude kaufen, sanieren, vermieten. Und da steht jetzt ein Projekt an in Brandenburg: Ein altes Industrieareal soll umgebaut werden zu einer Art Seminarzentrum, wo wir Projekte wie den Bachelor of Being verwirklichen wollen. Ein Zentrum, in dem Gemeinschaftsleben und Lernen über längere Zeit möglich ist. An diesem Projekt werde ich mitarbeiten, und dabei kann ich meine beiden Leidenschaften verknüpfen: Ich kann durch Architektur einen Raum schaffen, in dem in ein paar Jahren genau das passieren soll, was mir auch wichtig ist.
Wie ist es, den Bachelor of Being jetzt in einer neuen Rolle zu erleben – nicht als Teilnehmer, sondern als Betreuer?
Es fühlt sich für mich total richtig an. Weil ich vieles von dem weitergeben kann, was ich damals gelernt habe, was mich bewegt und beeinflusst hat. Und weil ich zugucken kann, wie die neue Generation genau die bereichernden Erfahrungen machen kann, die ich damals auch gemacht habe. Manchmal ist es ein bisschen schwer, als Gleichaltriger vom Rande zuzuschauen, wie die anderen total intensive Erfahrungen haben, sich verlieben, eine gute Zeit miteinander haben. Als Teamer möchte ich da eine gewisse professionelle Distanz wahren. Aber es ist mir auch wichtig, nahbar zu sein und den Teilnehmenden auch in einer Anleiterrolle menschlich und verletzlich zu begegnen.
Wenn jetzt jemand sagt, so ganz hab ich das mit dem Bachelor of Being immer noch nicht verstanden – wie würdest Du ihm erklären, was Du da fürs Leben gelernt hast?
Hmm, das jetzt in einem Satz …
Zwei, drei gehen auch.
Okay. Ich habe gelernt: Wenn man einmal anfängt, sich selber besser kennenzulernen, hört man damit so schnell nicht wieder auf. Es ist nicht immer einfach, aber es macht das Leben reicher und lebendiger. Und es ist extrem wichtig, sich Menschen zu suchen, die einen wirklich sehen, mit denen man sich frei fühlen kann, bei denen man nicht etwas Bestimmtes darstellen muss, um cool zu sein. Verletzlich zu sein, ist superwichtig.
Was noch?
Mit sich selber gnädig sein zu können, ist eine wichtige Voraussetzung für Heilung. Und es ist wichtig, einen Lebensweg zu gehen, bei dem man das Gefühl hat: Ja, das entspricht mir, das erfüllt mich, da kann ich immer weiter lernen, Spaß haben – und was Gutes für die Welt tun.
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Andreas