Kennt Ihr die Geschichte vom Truthahn? Der libanesische Autor Nassim Nicholas Taleb erzählt sie in seinem großartigen Buch „Antifragilität“. Die Geschichte ist witzig, klug und bitter, und sie geht so: Ein Truthahn wird tausend Tage lang von einem Metzger gefüttert. Jeden Tag verkündet der Truthahn seinem Analystenstab „mit wachsender statistischer Zuversicht“, dass Metzger Truthähnen wohlgesonnen sind. Mit jedem Tag ist er sich sicherer – und vertraut fester darauf, dass sein Leben weiter einen ruhigen Gang geht und völlig vorhersehbar ist.
Der Metzger füttert den Truthahn immer weiter. Dann aber kommt Thanksgiving – der Tag, an dem es plötzlich gar nicht mehr schön ist, ein Truthahn zu sein. Ausgerechnet in dem Moment, in dem er sich doch am sichersten war, dass der Metzger Truthähne ganz bestimmt mag, wird er geschlachtet. Für den Truthahn ist sein Tod aufgrund der Erfahrungen, die er in seinem Leben gemacht hat, ein höchst unwahrscheinliches Ereignis.
Sagen will Taleb uns mit der Geschichte: Werdet bloß keine Truthähne! Haltet die Tatsache, dass es für eine Gefahr keinen Beweis gibt, nicht für den Beweis, dass diese Gefahr nicht existiert! Schließt von dem, was Ihr in der Vergangenheit erfahren habt, nicht auf die Zukunft!
Die Schwarzen Schwäne
Diese Mahnung ist heute aktueller als je zuvor. Unsere Welt ist voller Ungewissheiten – und immer häufiger passieren Katastrophen, die alle überraschen. Nicht nur die Laien, auch die Experten. Wer zum Beispiel hat die Weltfinanzkrise 2008 kommen sehen? Wer hätte gedacht, dass das Coronavirus große Teile der Welt gleichzeitig lahmlegen würde? Wer hat das Ahrtal darauf vorbereitet, dass ganze Dörfer von einer Flut hinweggerissen werden könnten? Und wer hätte geglaubt, dass der russische Diktator Wladimir Putin einen massenmörderischen Vernichtungskrieg mitten in Europa beginnen würde, gezielte Angriffe auf Kinderkrankenhäuser, Geburtskliniken und flüchtende Zivilisten inklusive?
Der Autor Taleb nennt Ereignisse, die extrem unwahrscheinlich sind, fast alle erstaunen und extreme Auswirkungen haben, Schwarze Schwäne. Und er unterscheidet zwischen echten und unechten Schwarzen Schwänen.
Ein echter Schwarzer Schwan wäre zum Beispiel, dass von jetzt auf gleich ein gigantischer Meteorit auf die Erde kracht und ganz Europa vernichtet – also ein Ereignis, bei dem sämtliche bekannten Fakten keinen Rückschluss auf dieses Risiko zugelassen haben und den Verantwortlichen nicht bewusst sein konnte, dass es eintreten könnte.
Wir mögen Sicherheit so gern
Unechte Schwarze Schwäne hingegen sind die Finanzkrise, die Pandemie, die Flut im Ahrtal und Putins Krieg. Viele Wissenschaftler hatten gewarnt, dass diese Ereignisse kommen könnten. Und die Verantwortlichen hätten das Risiko bei genauer Analyse aller Fakten erkennen können. Aber sie haben es dennoch ignoriert. Sie haben die Wahrscheinlichkeit falsch eingeschätzt – was verheerende Folgen hatte. Leider scheinen viele Entscheidungsträger nicht besonders lernfähig zu sein. „Wir verstehen Risiken immer erst, nachdem eine Katastrophe stattgefunden hat, machen aber immer wieder denselben Fehler“, schreibt Taleb.
Die Gewissheit, dass die Zukunft ungewiss ist wie noch nie, schmerzt – speziell uns Deutsche, die wir Sicherheit doch so gern mögen. Wir haben gelernt, dass man sich gegen alle Risiken des Lebens versichern kann. Wir haben von unseren Großeltern und Eltern gehört, ihre Kinder sollten es mal besser haben als sie. Wir sind davon ausgegangen, dass es immer weiter aufwärts gehen wird. Dass wir nie Mangel leiden werden. Dass Frieden und Wohlstand, Freiheit und Demokratie bei uns eine Selbstverständlichkeit sind. Dass wir von hier garantiert nie werden fliehen müssen.
Und jetzt? Zerbröseln all die Sicherheiten. Mit jedem Extremereignis ein bisschen mehr – und erst recht, wenn die Verantwortlichen die Risiken falsch einschätzen. Wir ahnen, dass die Ungewissheit noch viel größer werden wird – schon weil die gigantischen Auswirkungen der menschengemachten Erderhitzung und des menschengemachten Artensterbens gerade erst beginnen. Und weil die meisten Krisen sich gegenseitig verstärken.
Tipps für unsere Kinder
Nur mal so als Ausblick: Was könnte es für Deutschland bedeuten, wenn der Nahe Osten wegen immer heftigerer Hitzewellen unbewohnbar wird, aus Afrika wegen Hungersnöten Millionen Menschen nach Europa fliehen, auch uns Dürren und Überflutungen plagen – und nebenbei die nächste Pandemie kommt? Oder, noch kurzfristiger: Was wäre, wenn Putin in seinem Wahn tatsächlich die Nato angreift – oder in Deutschland wegen eines Cyberangriffs wochenlang der Strom ausfällt?
Ich will ein paar Anstöße geben, wie wir damit umgehen können, dass die einst so einfach, übersichtlich und beherrschbar erscheinende Welt heute so schrecklich ungewiss ist. Zuallererst hilft vielleicht: anzuerkennen, dass es diese fundamentale Veränderung gibt. „Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Extremereignisse sind zunehmend unvorhersagbar“, schreibt Taleb. Seine Begründung: Durch die Globalisierung ist alles mit allem vernetzt – und schädliche Entwicklungen breiten sich rasend schnell aus. Zudem nimmt die weltweite Komplexität zu, und die Sehnsucht nach maximaler Effizienz führt dazu, dass Entscheidungsträger zu hohe Risiken in Kauf nehmen und viele Systeme sehr zerbrechlich sind.
Das Beste, was wir uns und unseren Kindern beibringen können, ist vermutlich, mit diesen Ungewissheiten und mit unvorhersehbaren Veränderungen leben zu lernen. Mit Veränderungen, von denen wir alle noch nicht wissen, wie sie aussehen werden. In seinem Buch erklärt Taleb, der Finanzmathematiker und Risikoforscher, was wir tun können, damit sie uns nicht allzu heftig aus der Bahn werfen. Er gibt im Wesentlichen zwei Tipps.
Weniger ist mehr
Tipp Nummer eins: Weniger ist mehr. Taleb rät, weniger Geld auszugeben, sich von Dingen zu befreien, bescheidener zu leben. Denn: Wer nichts zu verlieren hat, kann nur gewinnen. Was das für uns heute heißen könnte, weiß jede und jeder für sich selbst am besten. Im ersten Schritt vielleicht: zu sehen, welch nie dagewesenen Luxus wir in Deutschland mittlerweile für normal halten – mit unseren oft großen Einfamilienhäusern, zwei Autos und drei Urlauben im Jahr; zu überlegen, worauf wir zuerst verzichten würden, wenn härtere Zeiten kämen; und den Kindern beizubringen und vorzuleben, dass für ein glückliches Leben nicht in erster Linie Wohlstand und äußere Umstände entscheidend sind, sondern Beziehungen, Freundschaften, innere Haltung. Das würde die Kinder robuster machen gegenüber den Veränderungen, die sie unweigerlich erleben werden. Es würde verhindern, dass sie zum Truthahn werden.
Tipp Nummer zwei: die Hantelstrategie. Sie kombiniert, so erklärt Taleb, extreme Risikoscheu mit extremer Risikobereitschaft – und macht uns so stabiler. Sein Gedanke dabei ist: defensiv absolut sicher stehen und gleichzeitig krasse Dinge wagen, die überproportionale Chancen mit sich bringen können – statt in einem lauen Mittelmaß zu bleiben. Wenn es dann an der einen Seite der Hantel ein Problem gibt, hat man immer noch die andere.
Was die Hantelstrategie heißen könnte? Zum Beispiel: In der Freizeit 90 Prozent unserer Zeit mit Freunden und Familie verbringen – und 10 Prozent mit neuen Leuten und zufällig ausgewählten Events. Vielleicht finden wir da die Liebe unseres Lebens. Oder: Bei der Arbeit 90 Prozent der Zeit mit den üblichen Pflichten verbringen – und 10 Prozent damit, Netzwerke zu knüpfen und uns neue Kenntnisse anzueignen. Das könnte wertvoll sein für eine Beförderung oder den nächsten Job. Oder: In 90 Prozent der Zeit das Gewohnte essen, um fit und gesund zu bleiben – und in 10 Prozent etwas Neues probieren. Das verleiht dem Leben Würze.
Immer schon eine Illusion
Die Beispiele klingen vielleicht erst mal seltsam. Weil uns Deutschen die Idee, auch mal extrem ins Risiko zu gehen, ziemlich fremd ist. Wir haben von klein auf gelernt, dass unsere Zukunft planbar ist – und dieser Glaubenssatz steckt tief in uns drin.
Aber mal ehrlich: War Gewissheit im Kleinen, im persönlichen Umfeld nicht immer schon eine Illusion? Schon immer konnten jeden Tag die Kinder vom Auto überfahren werden, der Partner an Krebs erkranken, der Arbeitgeber pleite gehen – und unser Leben von heute auf morgen dramatisch verändern. Jetzt kommen die Ungewissheiten im Großen, die weltweiten Themen dazu. Da wäre es doch ein Anfang, mal über die Thesen von Taleb nachzudenken. Denn wie der Truthahn enden wollen wir doch alle nicht.
PS: Der ziemlich kluge Taleb empfiehlt übrigens, keine Tageszeitung zu lesen. Aber von Newslettern schreibt er nichts. Also: Teilt diesen Text und empfehlt ihn weiter!
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Bis dahin: alles Gute!
Andreas