„Die sind plötzlich keine Kinder mehr“
Evelyn Sandmann-Schuh erzählt, wie Jugendliche im Tanzkurs reifen
Kürzlich waren wir beim Abtanzball unseres älteren Sohnes – und dachten: Krass, wie die Jugendlichen durch den Tanzkurs gewachsen sind. Krass, was die 14- und 15-jährigen Jungs und Mädchen in den paar Wochen gelernt haben, tänzerisch und menschlich. Also habe ich die Tanzlehrerin Evelyn Sandmann-Schuh (59) um ein Interview gebeten. Sie hat mir erzählt, wie das geht: dass ein Tanzkurs die Jugendlichen so verändert.
Wenn die Jugendlichen mit der Tanzschule anfangen, wie wirken sie dann auf Dich?
Sehr erwartungsvoll. Wir machen vor den Sommerferien immer ein Infotreffen, da erkläre ich ihnen, was sie im Tanzkurs erwartet. Die Jugendlichen sitzen dann da und schauen mich ganz groß an. Ich habe eigentlich in jeder Gruppe so einen kleinen Kasper dabei, der ein bisschen vorlaut ist. Zu dem sage ich immer: „Du bist jetzt schon mal mein Favorit zum Vortanzen in der ersten Stunde.“ Da habe ich die ersten Lacher schon mal sicher. Und alle freuen sich auf die erste Stunde, so nach dem Motto: Wollen wir mal gucken, was der so abliefert.
Welche Regeln gibst Du für den Tanzkurs vor?
Ich sage den Jugendlichen, sie sollen eine Viertelstunde vor dem Kurs da sein. Sie sollen nicht Kaugummi kauen beim Tanzen – denn das sieht nicht schön aus. Und sie sollen, wenn sie es zwischen Schule und Tanzkurs irgendwie schaffen, noch kurz unter die Dusche springen. Ich sage: „Seid mir nicht böse, wenn ich so direkt bin. Aber beim Tanzen kommt man sich sehr, sehr nahe. Und es gibt nichts Schlimmeres, als wenn man jemanden vor sich hat, der müffelt.“
Wirken die Ansagen?
Ja. Vor allem die mit dem Duschen, die wirkt unglaublich. In der ersten Tanzstunde riecht es wie in einer Parfümerie. Es riecht unfassbar. Meine Worte nehmen sich wirklich ganz, ganz viele zu Herzen – und dafür bin ich dankbar. Ich habe ja sehr viele Kurse am Tag, und auch ich finde das sehr angenehm, wenn meine Tanzpartner gut riechen.
Warum hören die Jugendlichen auf Dich?
Vielleicht liegt das an meiner Rolle. Ich bin ja für die keine Mama. Ich bin eher wie eine Vertrauenslehrerin.
Wie meinst Du das?
Ich bin jetzt 59 und gebe seit 41 Jahren Tanzkurse. Als ich damals damit angefangen habe, war ich viel dichter dran an den jungen Leuten. Da war ich mehr der Kumpel, die Freundin, auf Augenhöhe mit ihnen. Und über die Jahre bin ich mehr die geworden, bei der man Rat sucht und zu der man geht, wenn man ein Problem hat.
Mit welchen Problemen kommen die Jugendlichen denn?
Manchmal kommen zum Beispiel Mädchen, die erzählen, dass sie sich in der Schule schon geoutet haben und nicht mit einem Jungen tanzen möchten, sondern mit einem Mädchen. Das finde ich phänomenal, dass sie mit 14 zu mir kommen mit diesem Wunsch. Ich sage dann: „Das ist gar kein Problem für mich. Völlig in Ordnung.“ Andere kommen zu mir und sagen: „Ich kann das Kurshonorar nicht sofort bezahlen. Geht das auch später?“ Ich sag dann: „Mach Dir keinen Kopf. Und wenn Du es erst in der letzten Stunde bezahlst, ist es auch kein Problem.“ Oder, auch ein typisches Thema: Sie kommen zu mir, wenn sie sich von ihrem Abtanzballpartner getrennt haben und jetzt Stress in der Luft ist. Dann zitiere ich alle Beteiligten zusammen – und wir finden gemeinsam eine Lösung.
Und wie läuft dann die erste Tanzstunde?
Ich frage die Jugendlichen: „Habt Ihr schon mal auf einer Hochzeit oder Silberhochzeit mit jemandem getanzt?“ Dann erkläre ich ihnen, wie man jemanden auffordert: zielstrebig auf ein Mädchen oder einen Jungen zugehen, sie oder ihn anschauen, lächeln und fragen: „Wollen wir tanzen?“ Und ich mache ihnen klar, dass ich niemanden hören möchte, der sagt: „Mit dem will ich nicht, der ist mir nicht hübsch genug.“ Sowas gibt’s bei mir nicht, das gehört für mich zum Anstand dazu.
Und? Rennen sie dann gleich los und fordern jemanden auf?
In dem Moment, wo ich sage „Ihr könnt jetzt auffordern“, gucken alle erst mal groß. Einer muss dann anfangen.
Und? Fängt schnell einer an?
Ja, einer fängt immer an und gibt richtig Gas, weil er vielleicht schon eine Freundin in dem Kurs hat, mit der er unbedingt tanzen will. Dann kommt der zweite, der dritte, und dann rennen alle. Dann ist Rudelbildung und jeder versucht, sein Mädchen zu kriegen. Damit ist das Eis dann gebrochen.
Das ist der entscheidende Schritt?
Ja, weil das die allergrößte Hürde ist, die die Jungs in der ersten Stunde haben: hingehen, ein Mädchen ansprechen, es anfassen, mitnehmen und sich mit ihm hinstellen. Auch die Mädchen haben Berührungsängste. Und auch sie müssen lernen, die Jungs aufzufordern. Wenn die Paare dann an ihrem Platz auf der Tanzfläche stehen, erkläre ich ihnen die Tanzhaltung. Und dann tanzen wir los.
Wie entwickeln sich die Jugendlichen von Woche zu Woche?
In den ersten zwei Stunden sind sie noch sehr zaghaft, sehr vorsichtig, sehr ruhig. Dann loten einige natürlich auch meine Grenzen aus.
Inwiefern?
Im vergangenen Jahr hatte ich in einem Tanzkurs eine Gruppe von vier Jungs, das waren richtige Rabauken. Die haben ab der dritten Stunde permanent gestört und geschubst. Wie kleine Kinder. Da bin ich mal kurz laut geworden und habe gesagt: „Für heute dürft Ihr gehen. Wir brauchen Euch nicht mehr. Ihr dürft aber am Ende wiederkommen und Euch entschuldigen.“ Da haben sie mich groß angeguckt: „Wie?“ Im Saal ist es ganz leise geworden. Und sie sind gegangen. Am Ende der Stunde sind sie dann wirklich wiedergekommen und ich habe ihnen in einer Ecke, ohne dass die anderen das mithören, nochmal klargemacht, wie das bei mir funktioniert und wie nicht.
Was hast Du ihnen gesagt?
Dass ich nicht Kindergartenkinder unterrichte, sondern angehende Erwachsene – und dass ich von ihnen erwarte, dass sie sich auch so verhalten. Und dass es, wenn das nicht möglich ist, kein Problem für mich ist, wenn sie sich entscheiden, diesen Kurs nicht mitzumachen. Da haben sie sich alle nett entschuldigt. Ich darf solche Ansagen machen. Ich bin ja keine Lehrerin. Zu mir kommen alle freiwillig – anders als in die Schule. Und mir dürfen sie nicht auf der Nase rumtanzen.
Wie wirkt sich das auf die ganze Gruppe aus, wenn alle wissen: Hier gibt’s Regeln und auch mal eine Ansage?
Die Jugendlichen sind dadurch sehr umgänglich. Klar, wenn die einen super anstrengenden Vormittag in der Schule hinter sich haben, dann können sie sich nicht immer gut konzentrieren und sind auch mal lauter. Damit hab ich gar kein Problem. Wenn’s mir aber zu viel wird, dann sage ich: „Wenn ich was erkläre, bitte zuhören.“ Denn ich möchte ja, dass sie was können am Ende des Kurses. Und dass sie auch Werte fürs Leben mitnehmen.
Welche Werte meinst Du?
Die Jugendlichen sollen lernen, gut und höflich miteinander umzugehen und Respekt voreinander zu haben. Ich wünsche mir, dass sie durch den Tanzkurs tatsächlich ein bisschen erwachsener werden. Und dass sie auch für später, für ihr Berufsleben, etwas lernen: Toleranz, Teamfähigkeit, gute Umgangsformen. Ob das bei jedem klappt, das weiß ich nicht. Aber ich wünsche es mir wirklich von Herzen. Ich würde gerne noch mehr Benimmregeln in die Kurse mit einflechten. Das hört sich jetzt vielleicht blöd an, aber so ist es gar nicht gemeint. Ich mache halt das, was zeitlich geht.
Zum Beispiel?
Ich sage den Jugendlichen: „Man stellt beim Abtanzball seine Partnerin oder seinen Partner bei den Eltern vor.“ Und: „Man lässt ein Mädchen nach dem Tanz nicht einfach stehen, dreht sich um und geht. Man nimmt das Mädchen an die Hand, bringt es zum Platz, sagt Danke – und setzt sich dann erst hin.“ Oder: „Wenn man beim Abtanzball zum Tanzen auffordert, schließt man sein Jackett vorher richtig. Und man zieht das Mädchen nicht irgendwie am langen Arm hinter sich her, sondern man geht nett zusammen auf die Tanzfläche – und auch nett wieder runter. Man bleibt auch mal gepflegt am Tisch sitzen und rennt nicht immer wie wild hin und her. Und man trinkt seine Cola nicht im Stehen aus der Flasche, sondern man nimmt sich ein Glas dazu.“ Das sind so Regeln, die mir wichtig sind – und die zu Hause vielleicht nicht mehr alle lernen.
Wie schnell lernen die Jugendlichen im Kurs eigentlich das Tanzen?
Einige haben das superschnell drauf und tanzen jeden neuen Tanz gleich ganz geschmeidig. Andere tun sich da erst noch ein bisschen schwer. Da muss ich dann helfen. Und alle brauchen ständig neuen Input. Den Grundschritt Discofox kann ich maximal fünf Minuten üben lassen, dann will das keiner mehr. Immer das Gleiche, das finden die langweilig. Es muss ständig etwas Neues kommen. Früher hat mein Vater, der auch Tanzlehrer war, sich mit dem langsamen Walzer eine Dreiviertelstunde aufgehalten. Heute würde es da längst unruhig. Ich muss schneller umswitchen.
Wir haben beim Abtanzball den Eindruck gehabt, dass viele Jugendliche in den paar Wochen Tanzkurs unheimlich gereift und ein großes Stück erwachsener geworden sind. Beobachtest Du diese Entwicklung auch?
Ja. Ich merke von Stunde zu Stunde mehr, wie sie zusammenwachsen und eine Gemeinschaft werden. Sie helfen sich gegenseitig. Sie bleiben nicht nur in ihrem kleinen Dunstkreis, sondern knüpfen auch neue Kontakte und bilden andere Gruppen – was ich sehr schön finde. Und die Jungs unterhalten sich untereinander: „Was ziehst Du denn zum Abtanzball an? Ich hab mir jetzt das und das gekauft mit meiner Mama.“ „Aha, und ich das.“ „Und ich das.“ Die sind plötzlich keine Kinder mehr. Die sprechen über ganz neue Themen und beschäftigen sich mit ganz neuen Fragen.
Viele Jungs, denen Klamotten und Frisur vorher egal waren, achten durch den Tanzkurs plötzlich drauf.
Ja, die Jungs kommen oft wie aus dem Ei gepellt zur Tanzstunde – vielleicht auch, weil sie im Kurs ein tolles Mädchen entdeckt haben, das auf einer anderen Schule ist und das sie beeindrucken wollen. Auch die Mädchen kommen teilweise richtig schick zum Kurs, ganz fein.
Wenn der Abtanzball naht, wie aufgeregt sind die Jugendlichen dann?
Sie gehen mit ganz vielen Erwartungen in diesen Abend. Sie müssen sich so viel merken und sind supernervös. Ich sage ihnen: „Macht Euch nicht verrückt!“ Beim Ball bin ich ganz oft bei den Schülern, erkläre ihnen, was als Nächstes passiert, und sage bei den Tänzen übers Mikro durch, wer jetzt was zu tun hat. Das brauchen sie. Dadurch gebe ich ihnen Sicherheit.
Was ist Dir beim Abtanzball noch wichtig?
Wichtig ist mir, dass die Jugendlichen den Unterschied kennenlernen zwischen einer Party zu Hause oder in der Disko – und einem Abtanzball. Einem Ball, bei dem es tatsächlich ganz andere Regeln gibt. Ich versuche ihnen zu vermitteln, dass sie da die Gastgeber sind. Und dass sie dafür sorgen müssen, dass ihre Gäste sich wohlfühlen und einen schönen Abend haben – in diesem Fall die Eltern.
Was heißt das konkret?
Für mich heißt das: Sie sollen ruhig auch mal zu den Eltern gehen und einen Moment mit ihnen sprechen. Sie sollen sie beim Ehrentanz nicht das erste und letzte Mal auffordern, sondern auch später noch mal. Sie sollen einfach schauen, dass es den Eltern gutgeht. Wenn die Eltern Spaß an dem Abend haben, dann wird der Abend auch ein Erfolg werden. Aber wenn man selber als Gastgeber nichts dafür tut und erwartet, dass alle anderen etwas tun, dann funktioniert das nicht.
Wie reagieren die Jugendlichen, wenn Du ihnen das sagst? Das ist ja vermutlich für manche eine eher ungewohnte Perspektive.
Das ist so, ja. Einige fragen: „Ja, aber müssen wir denn den ganzen Abend mit unseren Eltern tanzen?“ Dann sage ich: „Nein, natürlich nicht. Aber es ist toll, wenn Du Deinen Papa auch noch ein zweites Mal aufforderst und ihn auch mal lobst und sagst: Papa, das macht richtig Spaß mit Dir.“ Dann freut der sich den ganzen Abend. Und die Mama kann man auch ruhig ein zweites Mal in den Arm nehmen. Von selbst machen die Jugendlichen das in dem Alter ja meistens nicht mehr. Wenn die Jungs es beim Ehrentanz dann doch tun, freuen die Mütter sich immer so sehr! Und die Papas bei den Töchtern genauso. Mein Eindruck ist, dieser Abend schweißt die Familien nochmal stärker zusammen.
Den Eindruck haben wir auch, ja. Der Tanzkurs, der verändert was bei den Jugendlichen.
Absolut. Die haben danach auch mehr Selbstvertrauen.
Wenn Du beim Abtanzball merkst, wie sehr viele von ihnen in der Zeit gereift sind, was denkst Du dann?
Ich bin dann schon ein bisschen stolz, wenn ich merke, der Tanzkurs hat was bewirkt und der Abtanzball ist richtig schön. Auch dieser Abschluss ist mir wirklich wichtig: Ich möchte, dass die jungen Leute einen Abend erleben, der wunderschön ist und an den sie auch nach 40 Jahren noch gern zurückdenken. Ich möchte, dass sie eine tolle Erinnerung mitnehmen an eine tolle Zeit.
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Andreas