Der Andrang bei den Tafeln in Deutschland wächst und wächst. Die Ehrenamtlichen dort machen enorm wertvolle Arbeit in einer schwierigen Zeit. Norbert Fink, der Vorsitzende der Tafel in Lohne, ist einer von ihnen. Im Interview hat er mir erzählt, was sein Engagement bewirkt – bei den Kunden und bei ihm selbst.
Sie engagieren sich seit 2007 bei der Lohner Tafel. Was hat Sie damals bewogen, da mitzumachen?
Ich war 35 Jahre beim Otto-Versand gewesen, und auf einmal hieß es: Wir brauchen viele Leute nicht mehr. Also wurden sie in Altersteilzeit geschickt. Ich auch. Da habe ich einen Kollegen gefragt: „Mensch, was machst Du denn jetzt?“ Er sagte: „Ich geh zur Tafel.“ Ich kannte das damals gar nicht. Dann hat er mir davon erzählt, es hat mich interessiert und ich habe mich hier in Lohne vorgestellt. Seitdem bin ich da.
Damals war der Andrang noch viel geringer als heute, oder?
Das können Sie wohl sagen. Wir hatten damals 40 bis 50 Kunden. Heute haben wir 1935 registrierte Kunden.
Eine gewaltige Veränderung.
Absolut, ja. Und die Entwicklung in der Vergangenheit ist für mich noch nicht mal das Schlimmste. Mehr Angst macht mir die Gegenwart. Wir nehmen schon seit zwei Monaten keine Neukunden mehr auf – weil wir einfach nicht mehr können. Wir haben in der Woche zehn bis zwölf Anfragen, die müssen wir alle ablehnen. Es gibt also hier bei uns in Lohne Bedürftige, denen wir nicht helfen können.
Wie kommt das?
Es kommen zurzeit wieder mehr Flüchtlinge aus der Ukraine. Wir haben mittlerweile rund 400 Familien, die vor dem russischen Angriff geflohen sind. Wenn es den Krieg nicht gäbe, wären diese Menschen nicht hier.
So kommen Sie an Ihre Grenzen?
Ja. Wir können personell nicht mehr. Wir können lebensmittelmäßig nicht mehr. Und wir können auch räumlich nicht mehr. Unsere Tafel ist ausgelegt auf 600 Familien in der Woche – dann ist Schluss. Unser Kühlhaus zum Beispiel, das hat einfach Grenzen. Wir nutzen ja jetzt schon unsere beiden Lkws als zusätzliche Kühlung. Die laufen mit Starkstrom; ich mag mir gar nicht vorstellen, wie die nächste Rechnung aussieht. Und all unsere Kapazitäten werden ja nicht mehr, nur weil wir jetzt Flüchtlinge aus der Ukraine haben. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Die armen Menschen, die vor dem Krieg geflohen sind, können überhaupt nichts für unsere Probleme. Nur sind diese Probleme halt einfach da.
Befürchten Sie, dass durch die rasant steigenden Energiepreise bald noch mehr Menschen Hilfe von der Tafel brauchen?
Ja, das befürchte ich. Die Energiepreise sind ja wirklich enorm. Gerade deshalb hoffe ich, dass bald einige unserer ukrainischen Flüchtlinge Arbeit bekommen und dann nicht mehr zu uns kommen müssen – sodass wir dann wieder andere Kunden aufnehmen können. Unsere Hauptklientel sind ja eigentlich Rentner und Alleinerziehende. Jetzt kommen halt die Flüchtlinge dazu.
Wie reagieren die Menschen, die Sie zurzeit ablehnen müssen?
Sehr verärgert, das können Sie sich ja vorstellen. Vor kurzem hab ich erst eine anonyme Mail gekriegt. Da schrieb einer, bei unserer Tafel kämen Leute vorgefahren, die hätten einen nagelneuen Mercedes, und einer sei sogar mit einem 911er-Porsche gekommen – und er als Deutscher würde keine Ware bekommen. Die üblichen Sprüche also. Voller Neid auf Ausländer, fast schon rechtsradikal.
Wie gehen Sie mit solchen Mails um?
Da reagieren wir gar nicht drauf. So jemandem zu schreiben, das ist für mich vertane Zeit.
Zumal Sie vermutlich genug Sinnvolleres zu tun haben.
Das stimmt. Als ich damals bei der Tafel angefangen habe, wollte ich einmal in der Woche drei, vier Stunden Lebensmittel fahren – und heute arbeite ich da jede Woche 30 bis 40 Stunden.
Mannomann, das ist allerhand!
Ja. Wir fangen morgens um halb sieben an. Teilen Lebensmittel aus, fahren zu Scheckübergaben von Spendern und zu Lebensmittelherstellern, um Ware abzuholen. Dann müssen noch die Autos gewaschen werden, Büroarbeit gemacht werden und und und.
Was verändern Sie und Ihr Team durch Ihr Engagement für Ihre Kunden?
Ich glaube, satt geworden wären die alle auch ohne uns. Was ich mir aber so ein bisschen einbilde, ist: Kunden, die Kinder haben, können durch unsere Arbeit ihren Kindern auch mal was kaufen mit dem Geld, das sie nicht für Lebensmittel ausgeben mussten. Sie können mit ihnen mal ins Kino gehen oder zum Eisessen – und ihnen schöne Erlebnisse schenken, für die sonst kein Geld da war. Und alte Leute, die nun mal nur eine kleine Rente kriegen, können sich auch ein bisschen was mehr leisten. Was wir bewirken, ist, dass die Armut nicht mehr so drastisch ist.
Erzählen Ihre Kunden manchmal, was die Tafel bei ihnen konkret verändert hat?
Na klar! Wir haben eine Kundin, die kenne ich schon, seit ich bei der Tafel bin. Sie ist geschieden und hat drei Kinder. Und sie hat mir oft erzählt, dass sie das Geld, das sie durch die Tafel einspart, in ihre Kinder investiert. Jetzt haben alle drei Abitur gemacht und zwei von ihnen studieren.
Macht Sie das stolz?
Stolz will ich nicht sagen. Aber es befriedigt doch. Wenn ich so etwas höre, denke ich mir: „Siehste, ist doch nicht umsonst, was wir da machen!“
Wann denken Sie das noch?
Alle paar Monate, wenn ein Fahrer krank ist, fahre ich auch mal eine Tour. Rentnerinnen, die über 80 sind, bringen wir die Ware nach Hause. Bei diesen Touren denke ich auch: „Das ist gut und wichtig, was wir da tun.“ Denn diese Leute haben fast gar nichts, die sind wirklich arm, wir bringen denen einen Korb Lebensmittel und die freuen sich wie Schneekönige.
Woran merken Sie das?
Die warten schon auf uns. Und dann bedanken sie sich: „Mensch, gut, dass Ihr wieder da seid! Danke, danke, danke!“ Die sind wirklich wahnsinnig dankbar. Das ist bei allen unseren Kunden so. Es gehen kaum welche raus, ohne Danke zu sagen. Das ist auch eine Anerkennung für uns. Die Leute könnten ja auch so rausgehen – und würden beim nächsten Mal trotzdem wieder was kriegen.
Die soziale Not und die Zahl der Bedürftigen wachsen trotz Ihres Engagements. Frustriert Sie das?
Natürlich frustriert mich das. Aber wir müssen damit leben und tun, was wir können. Und jetzt ist nun mal Krieg in der Ukraine, dann müssen wir erst recht was tun.
Wie hat Ihr Engagement Sie selbst verändert?
Ich habe einen viel besseren Blick für soziale Themen bekommen. Ich weiß heute Sachen, die ich früher nicht wusste und die mich auch gar nicht interessiert haben. Zum Beispiel weiß ich heute, was es für einen Menschen bedeutet, Hartz IV zu bekommen. Als ich selbst noch gearbeitet habe, habe ich manchmal gedacht: „Naja, die sind einfach nur zu faul.“
Und heute?
Heute sehe ich das anders – und weiß, dass das so pauschal nicht stimmt. Wir haben bei uns ja auch Hartz-IV-Empfänger, die im Zusatzjob für zwei Euro die Stunde ein bisschen was dazuverdienen. Die sind alle über 60, und die nimmt kein Mensch mehr auf dem Arbeitsmarkt. Mit Faulheit hat das nichts zu tun.
Was haben Sie noch gelernt durch die Arbeit bei der Tafel?
Ich habe gemerkt, wie sehr die Tafel hier im Kreis Vechta verankert ist und anerkannt wird. Die Unterstützung ist groß. Man hilft uns, wo man kann. Wir haben das große Glück, dass wir hier große Lebensmittel-Hersteller wie Wernsing und Wiesenhof haben. Da können wir anrufen und fragen: „Habt Ihr nicht noch was für uns?“ Dann spenden die uns Lebensmittel.
In anderen Regionen Deutschlands sieht das weitaus bescheidener aus, oder?
Ja, wir hier im Kreis Vechta stehen für Tafelverhältnisse wirklich noch vergleichsweise gut da. Und nachdem wir neulich einen Aufruf hier in der Oldenburgischen Volkszeitung hatten, dass es uns schlecht geht und dass wir nicht mehr weiterwissen, da kamen wahnsinnig viele Spenden. Es kamen 10.000-Euro-Spenden. Aber es kamen auch ganz viele über 20 Euro, 30 Euro, 40 Euro. Teilweise kamen die Spenden sogar von Menschen, die früher mal Kunden bei uns gewesen waren.
Ernsthaft?
Ja, ich habe ihre Namen auf der Spendenquittung wiedererkannt und dachte: Ups, die kennst Du doch! Über diese Spenden habe ich mich besonders gefreut. Sie haben mir gezeigt: Wir kriegen nicht nur Geld von Leuten, die richtig viel haben – sondern auch von welchen, die sagen: „Mensch, ich hab selbst nicht so viel, aber die Tafel, die erkenne ich an. Die machen da was Vernünftiges, da gebe ich auch was.“ Solche Spenden motivieren meine Kollegen und mich sehr.
Was müsste sich verändern, damit Sie sagen, die Tafel brauchen wir nicht mehr?
Es müsste die Arbeitslosigkeit zurückgehen, es müssten weniger Flüchtlinge kommen. Die Tafel ist ja damals gegründet worden, um sich möglichst bald selbst wieder überflüssig zu machen. Mein Wunsch wäre natürlich, wir könnten die Tafel morgen zumachen. Aber davon sind wir himmelweit entfernt.
Wie lange wollen Sie noch mithelfen?
Ich bin jetzt 75, ich mache das vielleicht noch nächstes Jahr und dann werde ich aufhören. Aber nicht, weil ich das nicht mehr will. Sondern weil es körperlich in meinem Alter ja nicht mehr einfacher wird. Und weil ich finde, man sollte irgendwann jüngere Leute ranlassen.
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Bis dahin: alles Gute!
Andreas