Kürzlich hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier einen bedenkenswerten Vorstoß gewagt. „Ich weiß, dass es nicht einfach werden wird, aber ich wünsche mir, dass wir eine Debatte über eine soziale Pflichtzeit führen“, sagte er. Es begann dann tatsächlich eine Debatte – und sie wurde schnell ziemlich heftig. „Skandal!“, riefen die einen. „Erst haben wir die Jungen in der Corona-Zeit vergessen – und jetzt sollen sie auch noch für die Alten buckeln? Sollen die doch selbst Pflichtdienst machen!“ Die anderen konterten: „Der Jugend von heute täte mehr Pflicht schon sehr gut. Die weiß doch gar nicht mehr, was das Wort bedeutet!“
In all dem Gegeneinander ist leider untergegangen, wieviel Miteinander in Steinmeiers Idee steckt – und wie positiv eine Pflichtzeit unser Land verändern könnte. Das Potenzial der Idee erkennt man, wenn man nicht misstrauisch draufschaut, sondern wohlwollend; wenn man nicht davon ausgeht, dass die Idee sich gegen jemanden richtet, sondern vielleicht für uns alle etwas bringen kann.
Seit es in Deutschland keinen Wehr- und Zivildienst mehr gibt, sind die gesellschaftlichen Orte, die für die Ernstfälle des Lebens verantwortlich sind, aus dem Blick geraten. Die Bereiche, in denen es um Leben und Tod geht: die Krankenhäuser, die Altenheime, die Bundeswehr. Mit diesen Bereichen kommen viele im Alltag, so lange alles gesund und friedlich ist, gar nicht in Berührung. Was zur Folge hat, dass die Probleme dort oft vergessen werden. Und dass es der Politik vergleichsweise leicht fällt, sie zu ignorieren.
Stoff für schlechte Witze
Wer heute nicht gerade einen Vater hat, der im Krankenhaus liegt, oder eine Oma, die im Altenheim wohnt, der kriegt kaum mit, was dort schiefläuft. Und bevor Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, hat kein Mensch sich in Deutschland für die Bundeswehr interessiert; sie war bestenfalls Stoff für schlechte Witze. Etwa als vor ein paar Jahren das Moor im Emsland nach Raketentests in Brand geriet und alle spotteten: „Konnte ja keiner ahnen, dass die Dinger funktionieren.“
Ein Pflichtdienst könnte helfen, dass wir die vergessenen Bereiche wieder sehen. Und verstehen, wie lebenswichtig sie sind. Und dass man sie nicht verkommen lassen darf. Jeder Mensch will kompetent versorgt werden, wenn er schwerkrank wird oder einen Unfall hat; jeder will im Alter liebevoll umsorgt werden und würdig leben; und jeder will, dass unser Land sich verteidigen kann, wenn ein wahnhafter Diktator wie Wladimir Putin meint, ohne jede Rechtfertigung freie Gesellschaften überfallen zu müssen.
Da muss sich was tun!
Der Pflichtdienst würde also unseren Blick weiten – keineswegs nur bei den jungen Menschen, die ihn machen. Der Pflichtdienst würde auch den Blick vieler anderer Menschen verändern. Denn wenn jedes Jahr viele tausend 18- und 19-Jährige sehen, wie es in Krankenhäusern, in Altenheimen oder bei der Bundeswehr zugeht, dann reden sie darüber, mit ihren Freundinnen, mit ihren Nachbarn, mit ihren Eltern. Und die erzählen es wieder weiter. Dadurch werden die Zustände dort zum Gesprächsthema. Und es kann viel leichter Druck auf die Politik entstehen. Weil plötzlich viel mehr Menschen sagen: Kann doch nicht sein, wie abgehetzt und unterbesetzt die Pflegekräfte in den Kliniken sind! Ist doch ein Skandal, wie viele demente Alte ein Nachtschichtmensch betreuen muss! Lächerlich, was bei der Bundeswehr alles nicht funktioniert! Da muss sich was tun!
Überhaupt könnte ein Pflichtdienst in vielen Köpfen etwas verändern. Er könnte Schülerinnen und Schülern nach dem Abitur eine Berufsperspektive eröffnen, die sie sonst nie kennengelernt hätten. Er könnte manch einem zeigen, wie wertvoll es sein kann, die eigene Komfortzone zu verlassen, fremde Milieus kennenzulernen und zu sehen, wie die Leute da auf die Welt schauen. Er könnte in der gesamten Gesellschaft den Gedanken stärken, dass es eine gute Idee ist, auch mal was fürs Land und die Allgemeinheit zu tun und nicht immer nur für sich selbst. Und er könnte daran erinnern, dass der tapfere Kampf der Ukrainer für ihre Freiheit ohne unfassbar viel Pflichtbewusstsein gar nicht denkbar wäre. Bewundern wir sie nicht dafür? Wären wir nicht manchmal heimlich gern so tapfer wie sie?
Das Jahr, das anders war
Natürlich ließe sich fragen, ob man all die positiven Effekte statt durch einen sozialen Pflichtdienst nicht auch dadurch erreichen könnte, dass man die Freiwilligendienste attraktiver macht – etwa durch eine bessere Bezahlung oder eine Anrechnung aufs Studium. Und klar, man darf bezweifeln, ob das aktuelle System die Pflichtdienstler überhaupt vernünftig betreuen könnte, wenn es schon mit sich selbst völlig überfordert ist.
Aber egal welchen Weg man bevorzugt: Mehr junge Menschen die Ernstfälle des Lebens kennenlernen zu lassen, würde unser Land zum Besseren verändern. Und so ein Dienst, das soll nicht verschwiegen werden, kann einfach auch ziemlich viel Spaß machen. Denen, die damals (etwa in der späten Bronzezeit) mit mir Zivildienst gemacht haben, hat’s jedenfalls gefallen. Wir waren jung, wir hatten die Schule hinter uns und das Studium oder die Ausbildung vor uns, und jetzt war da eben dieses eine Jahr, das so ganz anders war. Eine besondere Zeit. Nicht die schlechteste Wahl.
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Andreas
Lieber Andreas, wieder ein sehr guter Newsletter. In meinem Leben (71) habe viele freiwillige Dienste für die Mitmenschen sehr gerne geleistet: 2 Jahre Bundeswehr (18 Monate Wehrpflicht), 27 Jahre humanitär für unser Kinderheim in Litauen, 12 Jahre Wahlhelfer, 9 Jahre Schöffe am Amtsgericht, 8 Jahre Pfarreirat, 4 Jahre Kirchenausschuss, 1 Jahr Ortsbeauftragter Malteser, 5 Jahre Vorstandsarbeit in der Schützenbruderschaft. Ich möchte kein Jahr missen. Mein Lebensmotto: Barmherzigkeit macht Freude.