Sollte er sich trauen? Sollte er öffentlich machen, dass er homosexuell ist? Der Fußballprofi Thomas Hitzlsperger zögerte. Zu ungewiss erschien ihm, was sein Coming-out verändern würde. Was, wenn ein paar Spieler in seiner Mannschaft gesagt hätten: Ich zieh mich neben dem nicht mehr um – und duschen geh ich neben ihm erst recht nicht mehr? Was, wenn die schwulenfeindlichen Sprüche, die er in der Kabine seit Jahren hörte, nun noch lauter würden? Was, wenn er im ersten Spiel danach, in dem alle besonders auf ihn schauen, blockieren und versagen würde? „Du stehst auf dem Platz und kannst nicht mal mehr den Ball stoppen – das war für mich die schlimmste Vorstellung“, gibt Hitzlsperger zu.
Dieser Satz ist einer von vielen Sätzen in seinem Buch „Mutproben“, die im Kopf nachhallen. Einer der Sätze, die man so schnell nicht vergisst. Hitzlsperger hat das Buch mit Holger Gertz von der Süddeutschen Zeitung geschrieben, einem der besten, feinfühligsten Reporter, die es in Deutschland gibt. Dieses wunderbare Buch zeigt, was Mut verändern kann – aber auch, wie zäh und mühsam Veränderung oft ist. Wer etwas wagt, wird nicht zwangsläufig als Held gefeiert, und schon gar nicht sofort. Aber immer inspiriert er andere – auch viele, von denen er das womöglich nie erfährt.
Im Sommer 2011 erzählte Hitzlsperger dem ZEIT-Redakteur Moritz Müller-Wirth von seinen Plänen, sein Schwulsein öffentlich zu machen. Doch erst im März 2014, mehr als zweieinhalb Jahre später, erschien sein Coming-out-Interview in der ZEIT, geführt von Müller-Wirth und der Publizistin Carolin Emcke. Ein Rechtsanwalt, Experte in Medienrecht, hatte ihm geraten: „Machen Sie das nicht. Machen Sie, was Sie wollen, Herr Hitzlsperger, aber reden Sie nicht darüber. Das halten Sie nicht aus.“ Nach dem Ende seiner Profikarriere aber traute Hitzlsperger sich dann doch.
Die Stärke der Schwäche
Sein Buch ist stark, weil er darin Schwäche zeigt. Es ist mutig, weil er seine Ängste offenbart. Es ist groß, weil er die Momente nicht verschweigt, in denen er sich klein gefühlt hat, trotz seines Ruhms.
Das Buch ist ein schönes Beispiel dafür, wie wertvoll es ist, die Perspektive zu verändern – und ganz anders auf ein Thema zu schauen als sonst. Und es zeigt, was ein Einblick in eine Welt bewirkt, die wir zu kennen glauben, von der wir aber in Wirklichkeit kaum etwas wissen. Innen sieht es meistens anders aus, als man von außen denkt.
Hitzlsperger schreibt nicht nur über seine Sorgen vor den Auswirkungen des Coming-out, sondern auch über die Gedanken, die ihn sonst in seinem Profileben belastet haben. Zum Beispiel über den Druck, den er gespürt hat. „Die Angst, nicht genug geben zu können, war bei mir immer größer als das Gefühl: Ich kann hier der König des Spieltags werden. König des Spieltags wird man schließlich nur selten. Aber einen Fehler machen, der zum Gegentor führt – das kann immer passieren, in jedem Spiel“, schreibt Hitzlsperger.
Die Macht der Fans
„Die Zuschauer können einen tragen, aber sie können auch Angst machen. Sie haben Macht, denn sie sind es, die das, was der Spieler leistet, durch ihre Reaktion unmittelbar bewerten, noch in der Situation, in der es geschieht.“ Durch die sozialen Medien, in die viele ihre Wut, ihren Hass, ihre Verachtung kübeln, gewinnt jede Kritik noch mehr Wucht. Ein Fußballer habe „bei jedem Spiel die Aussicht auf Triumph oder Katastrophe“, schreibt Hitzlsperger. Er sei permanent im Grenzbereich unterwegs: „Das zehrt. Nicht nur körperlich.“
Im Fußballbetrieb sei „so viel Gepose dabei“, schreibt Hitzlsperger. „Wären die Spieler ehrlich, würden sie zugeben, dass sie die Noten in der Zeitung verschlingen, und wären die Trainer ehrlich, würden sie gestehen, dass sie den ganzen Tag auf die Tabelle schauen und von der Tabelle träumen, nachts, wenn sie wach liegen.“ Aber Ehrlichkeit bedeute, den Mut zu haben, etwas zuzugeben: „Das passt nur nicht ins Fußballgeschäft, wo es oft um täuschen und tarnen geht und wo jeder sich einredet, ein Riese zu sein, denn als Riese kann man sich am besten halten.“ Profifußball sei eine extreme Variante unserer Leistungsgesellschaft. Schwäche zeigen geht da nicht.
Hitzlsperger berichtet, wie er erst beim VfB Stuttgart aussortiert worden ist und dann bei Lazio Rom schon wieder: „Ich genügte den Bedürfnissen nicht, ich wurde so wenig gebraucht, dass der Trainer es sich erlauben konnte, kaum ein Wort mit mir zu reden.“ Er gibt zu: „Mich hat diese Situation aus der Balance gebracht, dieses Nicht-gebraucht-Werden mit nicht mal dreißig Jahren. Ich habe gemerkt, wie tief das reingeht. Wenn jede Niederlage Wunden hinterlässt – und keiner zweifelt doch daran, dass jede Niederlage genau das tut –, dann war ich ein Verwundeter.“
Die Schattenseiten des Geschäfts
Er schreibt über Fußballer, die an Depressionen leiden, etwa über den Torwart Robert Enke, der Suizid begangen hat. Er schreibt, es seien nicht die Mechanismen des Profifußballs, die einen Menschen in die Depression treiben. Aber womöglich verhinderten diese Mechanismen, dass ein erkrankter Fußballer eine Therapie in der Klinik macht – weil er dann ja allen erklären müsste, wo er so lange gewesen ist.
Hitzlspergers Buch ist ein Lichtblick, weil es die Schattenseiten des umschwärmten Milliardengeschäfts Profifußball beschreibt. Und weil es dabei nie klagend klingt, immer klug und konstruktiv. Die Schüsse des Fußballers Hitzlsperger waren ein Hammer: hart, krachend, brachial. Sie brachten ihm den Spitznamen „Hitz The Hammer“ ein. Sein Buch ist eher wie ein durchdachter Pass: Es ist ein Anfang, bringt etwas in Bewegung, eröffnet Chancen und Perspektiven – aber draus machen müssen andere was.
Hitzlsperger ist ein Vorbild für alle, die überlegen, ob sie sich was trauen wollen. Er beschreibt auch die Risiken und Nebenwirkungen, die ein Wagnis haben kann. Aber er zeigt, warum es sich letztlich lohnt, trotz allem.
Die Reaktion der Eltern
Er erzählt, dass es ihm auch vor seinen Eltern nicht leichtgefallen ist, zu erzählen, dass er schwul ist. Er wusste nicht, wie seine Eltern reagieren würden: „Ich wusste aber, wie man in Forstinning und Ebersberg über Schwule auch schon mal redet. Mal so gesagt: In ein oberbayerisches, katholisch geprägtes Paradies passten sie nicht unbedingt rein.“ In seiner Kindheit sei alles in der Balance gewesen. Und nun? „Ich musste damit rechnen, nicht mehr alles in der Balance halten zu können, das war neu, davor hatte ich Angst.“
Als er sich offenbarte, habe sein Vater „dann ein paar Sätze losgelassen, die nicht so cool waren, aber ich war auf alles vorbereitet“, erzählt Hitzlsperger. „Meine Mama war, wie Mütter so sind, einfühlsamer.“ Danach habe er mit seinen Eltern nie mehr über diesen Abend geredet: „Aber ich habe trotzdem ein gutes Verhältnis zu ihnen. Wir sind uns nicht verloren gegangen.“
Und was hat sein Coming-out im Fußball bewirkt? Was hat sich in den zehn Jahren seitdem verändert? Hitzlsperger schreibt, zumindest bei den Profis, im Licht der Kameras, würde über schwulenfeindliche Äußerungen heute nicht mehr so leicht hinweggegangen wie damals. Und in seiner Zeit im Vorstand des VfB Stuttgart habe er nie das Gefühl gehabt, dass er als Homosexueller angefeindet wird – „für mich ein Riesenfortschritt“.
Das Erlebnis im Zug
Aber klar, seitdem hat sich kein einziger aktiver Profi in Deutschland geoutet. Denn im Fußball, „wo Härte und Kraft glorifiziert werden, gilt Homosexualität vielen als Synonym für Schwäche“, schreibt Hitzlsperger. Ja, und? „Dass es eine zähe Angelegenheit werden würde, diese Denkmuster zu brechen, war von vorneherein klar“, betont er. „Ich habe nie gesagt, dass es einfach wird, etwas zu bewegen. Aber wer sagt, es habe sich nichts bewegt, macht es sich zu einfach.“
Zumal die Veränderung ja nicht nur im Großen passiert, auch im Kleinen. Hitzlsperger schreibt, er könne jemand sein, der Menschen eine Stimme gibt: „Wenn man schwul ist und noch nicht gesagt hat, dass man schwul ist, fühlt man sich allein und denkt, dass man diese Erfahrung ganz allein macht. Es macht Angst, sich allein zu fühlen. Es beruhigt, wenn man merkt: Man ist nicht allein.“ Deshalb erzählt er seine Geschichte.
Einmal, so berichtet er, stand er im Zug vor den Toiletten, beide waren besetzt, er musste warten. Und einer, der mit ihm wartete, schaute ihn an und sagte: „Toll gemacht. Mein Bruder ist auch schwul.“ Da spürte Hitzlsperger, er hatte etwas bewirkt. Ein schönes Gefühl.
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Andreas