Der Schreck kam an einem milden Sommermorgen: Caramello und Blitz sind weg! Unsere Meerschweinchen. Sie hatten in einem Draußenstall auf dem Rasen gewohnt, und wir dachten, der sei dicht. Aber offenbar waren sie durch eine Lücke unter dem Rand des Stalles getürmt – dort, wo der Rasen uneben war. Natürlich rätselten wir: Wo können sie sein? Wie geht es ihnen? Sind sie tot? Und: Warum sind sie überhaupt abgehauen?
Sie hatten es doch so gut bei uns. Sie hatten einen schönen Stall, selbst gebaut vom handwerklich begabten Opa. Sie wurden mit dem Stall jeden Tag an eine andere Stelle des Rasens geschoben, konnten immer frisches Gras mümmeln – und bekamen auch noch täglich frisches Wasser und erstklassige Meerschweinchenkost: Schalen, Blätter und Stückchen von Möhren, Gurken, Kohlrabi. Sie hatten im Stall ein Häuschen, in das sie sich verkriechen konnten, wenn es regnete oder die Sonne brannte oder sie schlafen wollten. Und im Winter wurden sie in ihr Winterdomizil in der Garage gebracht. Sie hatten also quasi sogar einen Zweitwohnsitz. Was wollten sie noch mehr?
Keine Sorge, ich will Euch hier nicht mit Tiergeschichten langweilen. Ich erzähle Euch von unseren Meerschweinchen, weil ihr Auszug viel mit Veränderung zu tun hat. Und weil ich glaube, dass wir Menschen viel von ihnen lernen können.
Sie machen ihr Ding
Die Geschichte von Caramello und Blitz ging nämlich gut weiter: Es stellte sich heraus, dass sie nicht verschwunden sind, sondern nur ausgezogen. Sie wohnen jetzt nicht mehr im Stall, sondern in unserem Garten. Er ist ziemlich groß und voller Büsche, Hecken und Blumenbeete. Für die Meerschweinchen ist er ein Paradies. Sie können rennen, wohin sie wollen, sie können mampfen ohne Ende – und sie haben genug Verstecke, um sich vor ihren Feinden in Sicherheit zu bringen. Meistens bleiben sie in der Nähe einer stacheligen Hecke; da traut sich, wenn’s hart auf hart kommt, keine Katze drunter.
Etwa vier Monate ist der Auszug der Meerschweinchen jetzt her. Wir sehen sie regelmäßig, mal hier, mal da. Und je länger sie da draußen im Garten wohnen, desto mehr denke ich: Sie sind wie Kinder, die groß werden. Machen plötzlich ihr eigenes Ding. Gehen neue Wege. Lassen die Alten unruhig werden, weil sie auf einmal so anders sind und die Nähe von früher kaum mehr brauchen. Manchmal tauchen sie tagelang nicht auf, dann wachsen die Sorgen: Hat sie jetzt doch eine Katze erwischt? Und dann sind sie wieder da – als wäre nichts gewesen. Es gibt Tage, da sehen sie ziemlich verstrubbelt aus – so, als sei die letzte Partynacht ein bisschen wild geworden. Aber sie wirken glücklich. Ihre Augen funkeln vor Lebensfreude.
Sie genießen die Freiheit
Ins alte Leben übrigens wollen die Meerschweinchen keinesfalls zurück. Wir haben alles versucht, um sie wieder einzufangen. Immer und immer wieder. Wir haben sie mit extra leckeren Möhren angelockt, mit Hechtsprüngen zu erwischen versucht und uns bemüht, sie mit einem Maschendrahtzaun einzuhegen. Alles vergeblich. Im Antritt sind sie einfach schneller als wir. Und mittlerweile haben wir verstanden: Sie genießen die neue Freiheit. Sie vermissen ihr altes, behütetes Leben nicht.
Wer Kinder hat, der weiß, dass das schwer sein kann: loszulassen, Kontrolle abzugeben und zu verstehen, dass sie jetzt eigene Entscheidungen treffen. Auch solche, die man selbst falsch findet. Aber früher oder später merkt man: Man muss sich nicht so viel um sie sorgen, wie man denkt. Sie machen das schon.
Veränderung als Chance
Haben die Alten diese Veränderung einmal akzeptiert, dann wird sie zur Chance – für alle Beteiligten: Die Jungen merken, dass die Alten ihnen vertrauen. Sie wachsen, entwickeln sich, probieren was aus. Doch sie wissen auch, wenn was ist, können sie immer kommen und finden Rat, Trost, Hilfe. Die Alten wiederum merken, wie entspannend es sein kann, nicht ständig rumzuhelikoptern. Sie lernen, dass ihr Lebensweg nicht der alleinseligmachende ist. Und sie verstehen, dass die Jungen meistens gar nicht so weit weg sind wie befürchtet – und doch immer wieder gern nach Hause kommen.
Es wird nicht mehr werden wie früher, aber damit können und müssen wir leben: Diese Erkenntnis hilft nicht nur beim Großwerden der Kinder, sondern in so vielen Bereichen unseres Lebens, das sich gerade so rasend schnell verändert. Alte Gewissheiten bröckeln in einer Zeit, die geprägt ist von den Kriegen in Israel und der Ukraine, von der eskalierenden Erderhitzung und von zunehmender Migration.
Wir bleiben uns nah
Jeder Mensch kann bei jeder Krise überlegen, was er mit seinen Möglichkeiten dazu beitragen kann, sie zu lindern. Und ansonsten darf er manchmal einfach durchatmen – und darauf vertrauen, dass alles schon irgendwie gut werden wird.
Caramello und Blitz jedenfalls geht’s immer noch bestens. Einmal haben wir befürchtet, Caramello sei tot, weil er einen Tag nicht zu sehen war, Blitz aber schon – und die beiden ansonsten unzertrennlich sind. Aber dann war er wieder da. Und so leben sie jetzt ihr neues Leben, und wir leben unseres, und doch bleiben wir uns nah.
Klar, die Gefahr, dass eine Katze sie krallt, ist immer noch da. Aber vielleicht ist dieser Gedanke auch nur ein übriggebliebener Helikopteranfall. Und um noch ein letztes Mal auf den Vergleich zwischen ausziehenden Meerschweinchen und großwerdenden Kindern zurückzukommen: Einen Vorteil haben die Kinder gegenüber den Meerschweinchen definitiv. Sie sind nie in der Gefahr, gefressen zu werden. Zumindest wenn sie, sobald ein Praktikum ansteht, nicht den einen Anbieter wählen, dem sie unbedingt entgehen sollten: den Kannibalen von Rotenburg.
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Andreas