Regina Laudage-Kleeberg und ihr Mann Florian aus Münster haben eine Babysitterin für ihre Kinder gesucht. Gefunden haben sie Carola Hien. Im Interview haben die Mutter (38) und die Studentin (25) mir erzählt, wie erstaunlich sich ihr Arbeitsverhältnis entwickelt hat – und wie sie das für immer verändert hat.
Wie habt ihr zueinander gefunden?
Regina: Wir haben eine Kleinanzeige inseriert, Anfang 2020 war das. Ich weiß noch, wir haben geschrieben: Wir brauchen eine Babysitterin für zwei, drei Nachmittage und absolute Zuverlässigkeit. Und: Das sind ganz schön lebendige Kinder.
Carola: Ja, und das hat mich total angesprochen. Ich hatte damals hier in Münster gerade mit Erziehungswissenschaft angefangen und wollte neben dem doch sehr theoretischen Studium unbedingt auch praktisch pädagogisch arbeiten.
Regina, warum habt ihr gesucht?
Regina: Wir haben, seit wir Kinder haben, immer Babysitter gehabt. Wir arbeiten beide vollzeitnah, und das ist uns wichtig. Ich bin damals nach Essen gependelt, war also an normalen Arbeitstagen zwölf Stunden weg. Das deckt keine Kita ab, und wir haben keine Familie hier. Mein Mann ist Fortbildungsreferent. Er hat Reisen, lange Tage, unregelmäßige Arbeitszeiten. Und dann kommt noch etwas dazu, das ich nicht verhehlen will, über das aber viele Eltern nicht so gern sprechen.
Was meinst du?
Regina: Wir haben beide ein ausgesprochenes Autonomiebedürfnis. Wir sind keine Menschen, die es total genießen, 24 Stunden am Tag von ihren Kindern fremdbestimmt zu sein. Also haben wir uns tief in die Augen geschaut und gesagt: Okay, das bedeutet dann aber, dass wir einen relativ großen Teil unseres Geldes in Kinderbetreuung stecken. Wir haben die ersten Jahre ungefähr 1000 Euro pro Monat für die Babysitterin und Kitagebühren ausgegeben. Uns ist bewusst, dass es ein Privileg ist, sich das leisten zu können.
Was war euch bei der Betreuung wichtig?
Regina: Wir wollten, dass die Kinderbetreuung zu Hause stattfindet. Wir wollten Babysitter finden, die die Kinder von der Kita oder der Tagesmutter abholen und dann noch drei Stunden betreuen, sodass wir gelassen bis 18.30 Uhr arbeiten können. Und wir wollten Menschen finden, die ein Teil unserer Familie werden.
Zwei Kinder hattet ihr damals, oder?
Regina: Ja, genau. Der Ältere war zwei Jahre alt, der Jüngere drei, vier Monate.
Carola, wie war das für dich, in diese fremde Familie reinzuwachsen?
Carola: Ich weiß noch, wie herzlich ich empfangen worden bin – obwohl das ja zu Anfang der Corona-Zeit war, als man nicht so genau wusste, wie man sich jetzt begrüßt. Dann wurde mir direkt der Kleine auf den Schoß gesetzt und gesagt: „Lernt euch mal kennen!“ Das hat sich sehr harmonisch angefühlt. Eure Familie war sehr schnell Teil meines Lebens. Und sie hat mir ein unglaubliches Sicherheitsgefühl gegeben.
Fehlte dir das damals?
Carola: Ja, denn ich war ja gerade für mein Studium in eine fremde Stadt gezogen, kannte noch nicht viele Menschen hier – und dann kam auch noch Corona. Und ich wollte auch nicht jedes Wochenende bis zu meinen Eltern nach Hamm fahren. Durch euch wusste ich in dieser Zeit: Da ist jemand, da kann ich immer hin. Und da sind Kinder, die sich auf mich freuen. Darüber war ich sehr froh. Das war wirklich Win-Win.
Regina: Absolut, ja!
Carola: Ich hatte mir die Münster-Zeit so schön ausgemalt: studieren, ausziehen von zu Hause, Neues erleben! Dann hab ich ein Semester regulär studiert und das zweite war schon komplett im Lockdown und nur noch online. Durchs Babysitten bin ich zumindest mal vor die Tür gekommen. Es hat mir einen Rhythmus gegeben, an dem ich mich entlanghangeln konnte.
War der Rhythmus immer gleich?
Regina: Wir haben mehrere Babysitterinnen, in der Regel zwei. Und ein paar Wochen, bevor der nächste Zyklus losgeht, machen wir Doodle-Abfragen. Die beiden tragen sich ein, wie sie können, und dann matchen wir das mit unseren Terminen und machen Dienstpläne. Wir sind wirklich wie so ein kleines Unternehmen. Manchmal denke ich, das ist völlig wahnsinnig.
Carola, was hast du mit den Kindern gemacht?
Carola: Um 15 Uhr hab ich hier den Kinderwagen vollgepackt, mit Getränken, Snacks und allem, was man sonst noch so braucht. Dann hab ich die Kinder von der Tagesmutter und dem Kindergarten abgeholt. Und dann sind wir, solange es nicht geregnet hat, immer nach draußen gegangen. Ich musste mich da natürlich erst mal orientieren. Spielplätze waren bis dahin nicht so auf meinem Radar. Aber das habe ich mir dann zusammen mit den Kindern schnell erschlossen.
Was hast du von den Kindern gelernt?
Carola: Viel, sehr viel! Ich hatte in einer Kita und in einer Grundschule schon mit Kindern gearbeitet, aber hier war ich viel näher dran. Es war viel enger, viel emotionaler, viel gebundener. Wenn es einem der Kinder schlecht ging, dann hat mich das mitgenommen. Und wenn der Große und ich Auseinandersetzungen hatten und böse Worte gefallen sind, hab ich zu Hause oft noch ein Tränchen verdrückt.
Was waren das für Auseinandersetzungen?
Carola: Oft waren das Momente, in denen er müde und erschöpft von seinem Kita-Tag war und seine Frustrationstoleranz halt nicht mehr so hoch war. Da reicht dann die Salzstange, die runterfällt. Oder der letzte Keks, der genommen wurde. Oder die Frage: Wie, ich muss jetzt mit dem Fahrrad nach Hause fahren? Ich hab immer versucht, das Gespräch mit ihm zu suchen – auch wenn mal Sachen durch die Gegend flogen oder er mich gehauen hat. Oder wenn er gesagt hat: „Du blöde Kuh! Du bist nicht mehr meine Babysitterin!“
Musstest du das erst lernen, sowas auszuhalten?
Carola: Auf jeden Fall! Wenn jemand vor mir steht, den ich so unfassbar lieb habe und der pfeffert mir sowas an den Kopf, da muss ich schon schlucken. Das musste ich aushalten und verarbeiten lernen – gerade weil es ja nicht meine eigenen Kinder sind. Ich glaube, es hat mich in meiner persönlichen Entwicklung ganz doll weitergebracht, so eine enge Bindung zu den Kindern zu haben.
Regina: Du hast oft erzählt, dass die Kinder dich so erkannt haben, wie du wirklich bist.
Carola: Das stimmt. Einmal bin ich total gestresst direkt von der Uni zur Kita gekommen, ich hatte ab halb acht in Vorlesungen und Seminaren gesessen, ich war so durch und hatte auch noch schlechte Nachrichten von einem Dozenten bekommen. Und dann hab ich mich so gefreut, die beiden zu sehen – da musste ich anfangen zu weinen.
Wie haben sie reagiert?
Carola: Der Große war total überfordert, guckte mich an und sagte: „Caoli, ist was passiert? Hattest du einen Unfall?“ Und ich wusste: Ich gehe jetzt mit denen auf den Spielplatz, die können sich da beschäftigen. Die wissen, wie es mir gerade geht. Ich kriege einen Drücker. Und mir stehen jetzt ganz sichere zweieinhalb Stunden bevor, in denen es mir gutgeht und in denen es den Kindern gutgeht und in denen es unser größtes Problem sein wird, wenn die Salzstangen alle sind.
Regina: Du warst wirklich in einer krassen Situation damals: Da war dieser Scheiß-Lockdown, durch den dein Studium nicht ein Studium war, wie wir es kennen. Dann hast du dich von deinem Freund getrennt und warst so hart einsam. Wir haben damals angefangen zu fragen: „Möchtest du hier noch essen? Dein Dienst endet jetzt, du bist ab jetzt Gast.“
Carola: Ich bin dann sehr oft geblieben, so musste ich nicht alleine essen.
Regina: Wir haben die Babysitterinnen nie gezwungen, ein Teil unserer Familie zu sein. Wir bieten das nur an, entscheiden muss jede selbst. Aber du hast das stark genutzt. Manchmal, wenn du krank warst, haben wir dich abgeholt und hier ins Bett gelegt. Das gemeinsame Abendessen war der Einstieg für uns, dadurch hat sich unsere Bindung sehr gefestigt.
Carola: Total, ja!
Regina: Wir haben viel aus deinem Leben besprochen. Oft hast du Themen platziert, die dich gerade bewegen.
Carola: Für mich war es fantastisch, zwei Menschen zu haben, bei denen ich alles rauslassen kann und weiß, ich kann nichts Falsches sagen. Und bei denen ich weiß, ich kriege auf jeden Fall eine konstruktive Rückmeldung, die mir weiterhilft. Ich hab euch als Gesprächspartner so in mein Herz geschlossen. Hier bin ich ich, von ganz tief innen heraus. Ich muss mich nicht verstellen.
Wie lange hat es gedauert, bis du das gespürt hast?
Carola: So richtig angefangen hat das bei der Trennung von meinem Freund. Die kam aus dem Nichts. Da habt ihr mich sehr unterstützt. Ich konnte wirklich immer mit meinen Fragen zu euch kommen – auch später, als ich angefangen habe zu planen, für ein Semester ins Ausland zu gehen.
Regina: Ja, dabei war das für uns ein Nachteil – weil wir für die Zeit eine neue Babysitterin finden mussten. Aber wir haben uns da nicht wie Arbeitgeber, sondern eher wie Mentoren gefühlt und gesehen: Diese junge Frau hat sich noch nie getraut, mal was weiter weg zu machen. Wir begleiten sie jetzt in diesen Mut.
Wohin bist du dann gegangen?
Carola: Nach Wien. Für mich war das damals weit weg.
Und als du zurückgekommen bist, bist du auch als Babysitterin zurückgekommen?
Carola: Ja, genau.
Regina: Ich hab bei unseren Jungs nicht das Gefühl gehabt, dass sie dich wieder kennenlernen mussten. Sondern dass sie dachten: Endlich, da ist sie wieder.
Carola: Nach dem Motto: Alles wie vorher hier. Weiter geht’s!
Regina, wie hat es euch als Familie verändert, eure Kinder so oft Menschen anzuvertrauen, die erst mal fremd sind?
Regina: Ich weiß, das ist krass. Und ich glaube, das funktioniert nur, weil wir uns alle anfangs sehr genau angeschaut haben. Und weil wir uns sehr bewusst für dieses Betreuungsmodell entschieden haben.
Wann ist diese Entscheidung gefallen?
Regina: Sie fing an zu dem Zeitpunkt, an dem ich als Mutter entschieden habe, ich will nicht die typischen ein bis zwei Jahre zu Hause bleiben. Denn da musste ich ja meinem Mann zutrauen, dass er sich auch um die Kinder kümmern kann. Und ich musste mir eingestehen: Ich bin nicht die einzige Person auf der Welt, die dem Kind guttut. Damit habe ich angefangen, mein Herz zu weiten.
Wie hat es die Kinder verändert, dass sie nicht nur euch Eltern hatten, sondern auch Babysitterinnen wie Carola, die zur Familie gehören?
Regina: Wir hatten immer schon das Konzept: Zu unserer Familie gehören viele dazu. Familie ist da, wo wir uns vertrauen, aufeinander achten und beieinander sind. Aber wir gaukeln den Kindern nichts vor. Sie wissen: Eine Babysitterin ist eine Babysitterin, und die geht auch wieder. Am Wochenende ist bei uns Familienzeit – und wenn da doch mal eine Babysitterin kommt, weil wir einen Termin haben, dann steht unser Vierjähriger vor mir und sagt: „Nein! Es ist Wochenende, da kommt keine Babysitterin!“ Da merkst du, dass die den Unterschied verstehen. Mama und Papa sind für die Kinder immer toller als die Babysitterin – egal wie toll die ist.
Ist das wichtig?
Regina: Es ist wichtig, sich dieser Verantwortung bewusst zu sein: Eltern können sich nicht ersetzbar machen. Und in Wochen, in denen wir sehr viel arbeiten und die Babysitterinnen lange da sind, holen die Kinder sich die Nähe zu uns, die ihnen gefehlt hat, immer irgendwie zurück. Wir haben mit den Babysitterinnen auch viel über unsere Kinder gesprochen. Alle paar Wochen haben wir Kuchen gegessen und reflektiert, wie es mit den Kleinen läuft. Dabei kamen manchmal lustige Sachen raus.
Erzähl mal!
Regina: Eine Babysitterin sagte mal: „Der Große sagt immer, er möchte ein Eis. Und er sagt, er hat diese Woche noch keins bekommen. Ich dürfe ihm heute also eins kaufen.“ Da sagte die andere: „Das sagt er bei mir auch.“ Schlaues Kind: Er hat gemerkt, durch den Wechsel wissen die beiden Babysitterinnen nicht, was Sache ist.
Da hilft nur, sich abzustimmen, oder?
Regina: Genau. Die Babysitterinnen haben ja spannende Phasen der Kinder mitgemacht: Hauen, Trotzen, Treten. Uns war immer wichtig, dass alle Erwachsenen in diesen Phasen abgestimmt handeln. Dass zum Beispiel alle wissen: Wenn er getreten hat, muss er eine Pause in seinem Bett machen. Damit die Kinder wissen, woran sie sind.
Was hat es dir gebracht, eine Babysitterin für deine Kinder zu haben?
Regina: Ohne Babysitterin hätte ich jahrelang kontinuierlich gegen das gelebt, was mich ausmacht – und ich hätte ganz viele Dinge nicht tun können, die zentral sind für meine Identität. Zum Beispiel hätte ich nie so viele Lesungen mit meinem Buch „Obdachlos katholisch“ machen können.
Im Mai hat Carola jetzt als Babysitterin bei euch aufgehört, weil sie aus Münster wegzieht. Wie war es für euch, als klar war, diese Zeit geht zu Ende?
Regina: Wir haben mit den Kindern frühzeitig gesprochen, dass Carola bald aufhört und dann eine neue Babysitterin kommt. Und wir haben überlegt: Was für eine Art von Freundin wird Carola danach? Eine Eisfreundin hatten wir schon, also haben wir gesagt: Carola wird unsere Chipsfreundin.
Carola: Damit bin ich sehr zufrieden.
Was heißt Chipsfreundin?
Carola: Immer, wenn ich zu Besuch komme, bringe ich Chips mit. Und ich hoffe sehr, dass ich weiter in regelmäßigen Abständen zu Besuch kommen werde. Für mich ist das ein bisschen wie nach Hause kommen. Wenn ich dann hier übernachte und morgens aufwache mit Kindergewusel, werde ich gefragt: Möchtest du einen Espresso, Cappuccino, Tee? Das ist toll.
Wie hat die Babysitter-Zeit euch beide geprägt?
Carola: Ich bin hier sehr gewachsen. Ich habe Perspektiven aufgezeigt bekommen, die mein Leben verändert haben und auch weiter beeinflussen werden. Regina und Florian haben mich so nah begleitet in dem, was ich alles bin und kann und darf und welche Möglichkeiten ich habe. Sie haben mich immer unterstützt. Gerade in schwierigen Situationen weiß ich, dass ich hier immer einen Anlaufpunkt haben werde.
Regina: Dass so eine Intensität aus einer Babysitterrolle entstehen könnte, das konnten wir nicht absehen. Wir sind wahnsinnig dankbar dafür, dass jemand wie Carola sich unserer Kinder annimmt. Denn das sind keine lockerleichten, mitlaufenden, drei Stunden am Tisch malenden Kinder. Sie sind eher ziemliche Energieriesen. Einem Menschen wie ihr wollen wir auch etwas zurückgeben. Für uns ist das wie eine Art Generationenvertrag.
Wie meinst du das?
Regina: Wir hatten auch Menschen, die wie Mentoren an unserer Seite waren und von denen wir profitiert haben. Nun war und ist es uns eine riesige Freude zu erleben, wie du dich entfaltet hast und wir dich ermutigen konnten, Carola. Und du hast an unsere Kinder ja auch wiederum etwas weitergegeben, wovon sie total profitieren. So entsteht ein Schneeballsystem von Gutem. Das finde ich großartig.
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Bis zum nächsten Mal: alles Gute!
Andreas