Vor 15 Jahren ist in Lohne eine verrückte Idee entstanden: ein Bürgerbilderbuch, mit Fotos von allen, die Lust hatten. 10.000 Menschen hat die Fotografin Mechtild Runnebom schließlich vor die Kamera gekriegt, fast jeden zweiten Menschen der Stadt. Im Interview hat sie mir erzählt, wie sie und ihr Team die Skepsis der Leute besiegt haben, was sie bei ihren Fototerminen gelernt hat – und wie das Buch noch heute nachwirkt.
Wie seid Ihr auf die Idee gekommen, ein Bürgerbilderbuch für Lohne zu machen?
Ich wollte sowas in der Art immer schon mal machen: ein Bilderbuch für die ganze Stadt. Dann haben wir 2008 gehört, dass es sowas in der Stadt Lüchow gibt. Und wir haben gedacht: Das machen wir für Lohne auch. Wir haben Freunde, Verwandte, Bekannte gefragt: Wer hilft uns, als Botschafter die Idee bekannt zu machen? Dieses Schneeballprinzip hat irre gut funktioniert.
Das Projekt ist von Anfang an schnell gewachsen?
Nein, gar nicht. Wir haben es dem damaligen Lohner Bürgermeister Hans Georg Niesel vorgestellt. Er stand der Sache sehr skeptisch gegenüber und sagte: „Die Leute lassen Euch nie in ihr Haus.“ Da haben wir uns gesagt: „Jetzt erst recht!“ Denn wir waren uns sicher, dass das funktioniert. Wir konnten die Stadt dann doch noch überreden, Herausgeber des Buches zu werden.
Und dann?
Dann gab es erst mal viel Gerede: „Ach, das ist ja nur für die Wichtigen in Lohne! Nur für das elitäre Volk! Ich gehöre da nicht rein! Ich bin doch gar nicht wichtig genug.“ Viele haben auch gefragt: „Was wollen die? Was soll ich da drin?“
Was hat die Leute dazu gebracht, so skeptisch zu sein?
Misstrauen. Und Unwissen. Sie konnten sich irgendwie nicht vorstellen, was wir da vorhaben: „Wie, wir sollen da mit einem Bild in dieses Buch, für immer und ewig? Nee!“ Am Anfang lief das Projekt wirklich schwerfällig. Wir hatten schon Angst, dass das ein Rohrkrepierer wird.
Was habt Ihr getan, um es in Schwung zu bringen?
Wir haben in ganz Lohne Postkarten verteilt, mit denen die Leute sich für einen Fototermin anmelden konnten. Wir dachten, das wäre eine super Idee. Die Leute brauchten die Postkarte einfach nur auszufüllen und wieder bei uns im Bürgerbilderbuch-Büro einwerfen, das wir extra aufgemacht hatten. Wir haben voller Hoffnung auf 20.000 Postkarten gewartet, die zurückkommen – aber es kam nichts. Die Resonanz war gleich null. Boah, war das enttäuschend!
Und dann?
Dann haben wir gesagt: So, jetzt machen wir das anders. Wir sind auf den Markt gegangen, vor die Geschäfte, vor die Supermärkte – und haben die Leute persönlich angesprochen: „Wie sieht’s aus, wollt Ihr nicht mitmachen?“ Ich hatte ein paar erste Bilder von unseren Nachbarn gemacht, die haben wir da gezeigt: „So kann das aussehen.“ Bürgermeister Niesel war dann der Erste, der sich angemeldet hat. Und ein paar bekannte Lohner haben sich auch schnell fotografieren lassen, Josef Schlarmann zum Beispiel. Den kannten viele aus dem Tennisverein oder der CDU. Das weckte Vertrauen. Da haben die Leute gedacht: „Das ist seriös.“
So hat das Projekt Schwung bekommen?
Ja. Ins Schaufenster unseres Bürgerbilderbuch-Büros haben wir Bilder reingehängt, richtig schön groß. Da sahen die Leute, wer schon alles drin war. Je mehr Fotos wir im Fenster hatten, desto mehr klebten die Leute daran. Und Bürgermeister Niesel, der erst so skeptisch gewesen war, sagte: „Glückwunsch! Hier ist der einzige Laden in Lohne, wo viel los ist! Da kann ich vorbeifahren, wann ich will – immer stehen Leute davor.“ Wir haben jeden Tag ein neues Bild reingehängt – das war wie heute Instagram. Oft waren Leute fast beleidigt, wenn ihr Bild eine Woche nach dem Fototermin noch nicht im Schaufenster hing. So wild waren die darauf. Das war genial. Und irgendwie verrückt. Irgendwann hatten wir tausend Anmeldungen. Dann lief das wie von selbst.
Alle wollten plötzlich dabei sein?
Ja. Ich bin oft angesprochen worden: „Na, was macht Euer Buch? Kriegt Ihr’s hin? Wie viele Leute haben sich denn jetzt angemeldet? Können wir da auch noch rein?“
Was war Eure Idee mit dem Buch?
Unser Motto war: Jeder ist jemand. Und jeder ist wichtig. Jeder sollte wissen: Du bist das Gesicht der Stadt Lohne. Schon damals waren der Leerstand von Geschäften und die tote Innenstadt ein Riesenthema in Lohne. Das Buch sollte zeigen: Nicht die Plätze, die Häuser, die Straßen sind es, die eine Stadt ausmachen – sondern die Menschen. Sie sind entscheidend.
Wie hat sich das im Buch gezeigt: dass jeder wichtig ist?
Auf den Seiten stehen ja große und kleine Fotos, bunt gemischt. Klar war von vornherein: Der Bürgermeister kommt nicht groß rein, nur weil er der Bürgermeister ist. Er konnte ganz klein drinstehen und ein Obdachloser viel größer. Denn jeder ist wertvoll – so, wie er ist. Wir haben den Leuten gesagt: Du musst nichts dafür bezahlen, dass Du in das Buch kommst! Gib der Stadt einfach nur Dein Gesicht und Dein Lächeln! Das ist mehr als genug. Und Du tust damit etwas für einen guten Zweck. Wir haben die Erlöse ja für sieben gemeinnützige Lohner Vereine gespendet.
Unter den Bildern stehen keine Namen, die findet man nur in einem gesonderten Namensregister. Warum?
Wir wollten die Namen nicht zum Bild stellen, weil man die Menschen sofort bewertet hätte, wenn man ihren Namen sieht. Das sollte man aber ja nicht. Es ging nur um die Gesichter. Alles andere sollte egal sein.
Eine Idee bei Eurem Bürgerbilderbuch war auch, die Leute einander näherzubringen. Hat das funktioniert?
Ja. Da sind Großfamilien fürs Gruppenfoto extra zum Sonntagskaffee zusammengekommen. Viele Bücher haben wir auch ins Altenheim gebracht. Die Leute da haben genauso gern reingeschaut wie kleine Kinder. Das Buch war für jeden was. Und alle haben sich über die Menschen darin unterhalten. Über die Menschen aus ihrer Stadt. Hiltrud Lodde …
… eine Lohner Zahnärztin …
… hatte drei Exemplare bei sich im Wartezimmer liegen und sagte irgendwann: „Ich brauch noch welche, Mechtild. Du musst noch welche nachliefern. Die sind schon alle so zerfleddert.“ Das fand ich witzig! Da habe ich gemerkt, wie sehr dieses Buch die Leute ins Gespräch gebracht hat.
Du hast ein Jahr lang fotografiert, jeden Mittwoch, Samstag und Sonntag. Am Ende hattest Du 10.000 Menschen fotografiert. Alles ehrenamtlich.
Das war’s wert! Klar, es hat viel Kraft gekostet, meine normalen Fototermine hatte ich ja auch noch. Aber es war einfach auch eine unbeschreiblich schöne, eine wirklich hammercoole Zeit. Ich wurde morgens immer abgeholt von einem Botschafter, der für einen Stadtbezirk zuständig war. Der war mein Türöffner, der kannte die Leute, die dort wohnten.
Wie haben sie reagiert, wenn Ihr geklingelt habt?
Wenn ich wusste, da kann ich Platt schnacken, war schnell das Eis gebrochen. „Dat is ja eine von use hier. Dat geit ja. Dat is ja wunderboar.“ Das nahm ihnen die Angst. Ich war ja bei ganz vielen Leuten im Haus, die mich vorher noch nie gesehen hatten. Am Ende wollte mein Bürgerbilderbuch-Team mich am liebsten bei „Wetten, dass …?“ anmelden.
Warum das?
Weil ich alle Namen kannte.
Im Ernst? Du kanntest alle Namen von 10.000 Menschen, die Du fotografiert hast?
Ja. Das war irre. Ich konnte mir die wirklich alle merken – und wusste bei jedem Foto, wer das ist. Die anderen bei uns im Team haben immer gesagt: „Das gibt’s doch nicht.“
Waren die Leute am Anfang arg nervös?
Viele schon. Einige haben gefragt: „Ja, wo sollen wir das denn machen?“ Andere hatten die Sorge, ob ihr Wohnzimmer fürs Foto gut genug ist. Die wollten, dass alles tippi-toppi ist. Mir war wichtig: Alle müssen sich mit ihrem Bild identifizieren können. Sie müssen sich wohlfühlen bei dem Gedanken, dass jeder Lohner das angucken wird. Für die Leute, die nicht wollten, dass wir die Fotos bei ihnen zu Hause machen, haben wir auch Termine an öffentlichen Plätzen angeboten, zum Beispiel im Wald vor der Burg Hopen oder bei der Lohner Gewerbeschau.
Wie bist Du beim Fotografieren mit den Leuten umgegangen?
Ganz unvoreingenommen. Wir wussten ja gar nicht, was in einer Familie gerade abgeht. Wir waren bestimmt auch mal in einer Familie zur falschen Zeit am falschen Ort. Wir kamen da einfach immer mit guter Laune an und haben losgelegt.
Was war Dir bei den Fotos wichtig?
Ich habe geguckt: Wo kann ich die Leute gut ins Licht setzen? Wie sehen sie gut aus? Und wie entlocke ich ihnen ein Lächeln? Ich habe ihnen gesagt: „Ihr braucht Euch gar nicht hübsch machen. Ihr seid gut so, wie Ihr seid. Zeigt mir nur, was typisch für euch ist!“ Manche haben gesagt: „Papa ist noch im Schweinestall, der muss sich noch eben fertigmachen.“ Dann habe ich gesagt: „Lass ihn! Wir kommen dahin!“ Ich hätte mich gefreut, wenn sich das mehr Leute getraut hätten. Aber ich weiß auch: Es braucht eine Menge Selbstvertrauen, um sich da fotografieren zu lassen.
Einige sind allein auf dem Foto, andere zu dritt, wieder andere mit 20 Leuten aus ihrem Sportverein. Oder im Blaumann. Oder mit Hunden, Katzen, Pferden.
Das konnten die Leute komplett selber entscheiden, mit wem und wie sie aufs Foto kamen. Ich weiß noch, eine Bauernfamilie, die wollte unbedingt eine Kuh mit aufs Bild haben. Es waren über 30 Grad, sie wollten das Bild draußen in der Sonne machen, und die Kuh wollte nicht raus. Sie spielte verrückt, sie hatte Sorge um ihr Kalb. Am Ende haben wir’s dann aber doch irgendwie geschafft.
Du bist den Leuten ganz schön nahegekommen, oder?
Ja, wir sind in ihre Privatsphäre gegangen, und sie haben uns das Allerheiligste geöffnet. Das war ziemlich sensibel. Ich habe da ganze Familiengeschichten erfahren. Wer mit wem nicht mehr aufs Bild kann, weil sie sich getrennt haben. Oder wer gern mit seinen Kindern und Enkeln ins Buch wollte, aber nicht konnte, weil seine Kinder ihm nicht grün sind. Manchmal habe ich gedacht: Ich will das gar nicht alles wissen. Ich will nur schöne Fotos machen.
Wie hat das Jahr mit all dem Fotografieren für Euch als Familie funktioniert?
Ich war damals gerade 50 Jahre alt geworden, und ich musste unsere Kinder nicht mehr bemuttern – unsere jüngste Tochter war schließlich schon 20. Und ich hatte richtig Lust auf dieses Projekt. Mein Mann Alo hat zum Glück voll mitgezogen. Musste er auch, denn er hat in der Zeit einige Wochenenden alleine hier zu Hause gesessen. Am Ende war er dann aber megastolz.
Warum?
Weil er im Buch der Letzterwähnte ist. Ihm wird ganz am Schluss für seine Geduld in der Zeit besonders gedankt. Das fand er toll. Es war ja auch nicht nur so, dass ich jeden Samstag und Sonntag ab 9 Uhr zum Fotografieren unterwegs war. Sondern dann kam noch die digitale Nachbearbeitung. Manchmal saß ich da bis in der Nacht dran. Alo hat dann schon mal geschimpft: „Jetzt stell den Computer aus und geh ins Bett!“
Und? Hast Du ihn dann ausgestellt?
Nicht sofort. Ich habe gesagt: „Ich will die Fotos hier noch eben fertig machen, denn morgen habe ich schon die nächsten 20 Familien vor der Kamera.“ Wir wussten, im Juni müssen wir fertig sein mit den Fotos. Denn im September 2010 zum Lohner Stadtfest wollten wir das Buch rausgeben. Das haben wir geschafft. Wir sind dann mit einem großen Lkw in die Stadt gefahren, mit ganzen Paletten voller Bücher darauf. Klasse!
Wie viele Exemplare habt Ihr verkauft?
Etwa 3600. Obwohl es ja doch einen hohen Preis hatte, 45 Euro. Eine Lohner Buchhändlerin hat gesagt: „Das läuft ja besser als Harry Potter!“
Wie hat dieses Bürgerbilderbuch die Stadt Lohne geprägt?
Sehr. Wir haben die Stadt aufgemischt, das kann man wohl sagen. Das Bürgerbilderbuch war überall im Gespräch, besonders in den ersten Jahren: „Guck mal da, die stehen drin! Und hier, die auch!“ Wenn jemand gestorben war, hieß es: „Kennst Du den? Nee? Dann guck mal im Bürgerbilderbuch!“ Viele Leute erzählen mir, dass sie da heute immer noch gern reingucken.
Du auch?
Schon, ja. Manchmal blättere ich durch und denke: Der ist mittlerweile tot, die auch, die sind geschieden, die getrennt. Da sieht man, wie das Leben weitergeht und die Dinge sich verändern. Manchmal denke ich auch: Wie jung die damals alle noch waren – Mann, Mann, Mann! Das hat schon was. Ich werde bis heute noch oft angesprochen: „Wollt Ihr das nicht nochmal machen? Das war doch ne tolle Sache!“
Und? Könntest Du Dir vorstellen, so ein Buch nochmal zu machen?
Einerseits kann ich es mir in diesem Ausmaß mit diesem Arbeitsaufwand heute nicht mehr vorstellen. Ich bin ja jetzt auch schon 64 Jahre alt. Andererseits denke ich: Das noch mal durchzuziehen, da hätte ich schon Lust drauf.
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Wegen der Sommerferien kommt mein nächster Text über Veränderung ausnahmsweise erst in drei Wochen.
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Andreas