Bei der Telefonseelsorge rufen Menschen an, die verzweifelt sind. Manche von ihnen denken daran, sich das Leben zu nehmen. Ute Lichterfeld ist für sie da. Seit 2008 arbeitet die 73-Jährige aus Iserlohn ehrenamtlich bei der Telefonseelsorge Hagen-Mark. Im Interview hat sie mir erzählt, was sie in ihren Gesprächen bewirkt. Die geschilderten Beispiele haben wir zum Schutz der Vertraulichkeit so verändert, dass sie keinen Bezug zu den tatsächlichen Anrufen mehr haben.
Was für Leid ist das, von dem Anrufer Ihnen erzählen?
Ich habe mit Menschen gesprochen, die seit ihrer Geburt keine Geborgenheit, keine Liebe kennengelernt haben. Eine Frau hat mir erzählt: „Ich bin der Bastard der Familie. Das wurde mir immer gesagt. Meine Mutter hatte eine Affäre, daraus bin ich entstanden. Mein Vater hat mich dreimal die Woche aus dem Bett geholt, schon als ich ganz klein war, drei, vier Jahre alt. Er ist mit mir in den Wald gefahren und wollte mich erschießen und sich auch. Er hat das dann nie getan. Aber diese Szenarien habe ich immer wieder durchlebt.“
Das ist ja grauenhaft. Wie reagieren Sie da?
Ich bleibe authentisch. Ich sage: „Es erschüttert mich, was ich da höre. Es erschüttert mich so sehr, dass ich darunter zusammenbreche. Und ich frage mich, wie Sie überleben konnten.“
Das heißt: Sie beschönigen nichts.
Nein.
Weil das nichts bringen würde?
Die Anruferin würde sich sofort nicht ernstgenommen fühlen. Es ist wichtig, dass ich ihr Leid und die Schwere ihres Lebens würdige. Und dass ich das Leid nicht kleinrede und wegwische.
Warum ist das wichtig?
Weil das sonst viel zu oft passiert. Wir alle sagen doch gern: „Das wird schon wieder. Das ist doch nicht so schlimm.“ Ich weiß, die Menschen meinen das nicht böse. Aber es ist schrecklich, in Trauer sowas gesagt zu bekommen. Denn manchmal wird etwas eben nicht einfach wieder. Dann ist es wichtig zu sagen: „Das Leid darf sein. Es ist schlimm. Und schwer zu tragen. Und man weiß nicht, wann es weggeht.“
Wie reagieren die Menschen, wenn Sie das sagen?
Ich habe das Gefühl, dass dann eine Verbindung zwischen uns entsteht.
Woran merken Sie das?
Daran, dass es ein echtes Gespräch wird. Ich brauche dann gar nicht viel zu sagen. Meistens lasse ich die Menschen reden und höre nur zu. Und frage nur manchmal nach, ob ich alles richtig verstanden habe. Einige Menschen sagen dann auch ganz direkt: „Endlich mal jemand, der mich versteht.“
Und dann?
Ich versuche dann zu gucken: Wo sind ihre Ressourcen? Ich sage: „Kaum zu fassen, was Sie erlebt haben. Ich verstehe, dass Ihnen jetzt die Kraft fehlt weiterzuleben. Aber Ihr Leid ist ja nicht neu, und Sie haben es bis hierhin und bis heute geschafft. Wie haben Sie das gemacht? Warum haben Sie überlebt mit dieser Last? Was hat Ihnen Kraft gegeben? Ihr Glaube? Ihre Oma? Ein Freund? Irgendwas muss da ja sein.“
Sie stellen lieber Fragen, als Ratschläge zu geben, richtig?
Genau. Ich versuche, nie Ratschläge zu geben. Ich versuche zu ergründen, was den Menschen möglich ist und was ihnen Hoffnung geben kann. Ich sage auch: „Es bringt jetzt nichts, immer wieder in die Vergangenheit zu gehen, die schrecklich war. Was ist heute? Lassen Sie uns doch mal zusammen ans Fenster gehen und rausgucken. Was ist da gerade? Scheint die Sonne, ist der Himmel blau?“ Oder: „Was gibt Ihr Kühlschrank her? Was könnten Sie sich noch Schönes zu essen machen?“
Und wenn die Leute das abblocken und sagen, dass sie jetzt aber einfach nicht mehr leben wollen?
Dann sage ich: „Vielleicht überlegen Sie nochmal, wann Sie diesen Schritt tun. Denn der ist endgültig, er ist nicht wieder rückgängig zu machen. Vielleicht schaffen Sie es zumindest noch bis morgen.“ Ich arbeite auch viel mit Bildern. Denn Bilder sind handfest.
Was für Bilder sind das?
Zum Beispiel: „Stellen Sie sich vor, Sie gehen einen ganz schweren Weg. So, als würden Sie den Mount Everest besteigen wollen. Sie klettern da rauf, die Luft wird dünner, Sie können kaum noch atmen, Sie rutschen ab, Sie haben Erfrierungen an den Händen. Sie verzweifeln. Aber da oben ist das Ziel. Und wenn Sie da oben sind, dann können Sie weit gucken. Dann haben Sie etwas erreicht. Und wissen Sie was? Wenn Sie eines Tages oben auf dem Mount Everest stehen, schreiben Sie eine Ansichtskarte an die Telefonseelsorge Hagen-Mark – und dann weiß ich, Sie haben es geschafft.“
So versuchen Sie, den Menschen Hoffnung zu machen?
Genau. Manchmal frage ich auch: „Wovon träumen Sie? Was wünschen Sie sich? Wo möchten Sie hinreisen?“ Und dann versuche ich, mit Ihnen darüber zu reden. Wenn sie sagen, sie möchten ans Meer, dann sage ich: „Ja, schön! Können Sie sich vorstellen, wie das Meer riecht und wie Sie durch den Sand gehen?“ Ich will, dass sie gefühlsmäßig da reintauchen. Und ich sage: „Wer sagt denn, dass das nicht irgendwann wieder möglich ist: dass Sie das Meer sehen?“
Was wollen Sie mit diesen Bildern verändern?
Ich hoffe, dass ich bei ihnen irgendeine Tür öffne und dass sie so erste kleine Schritte gehen hin zur Lösung ihres Problems. Ich kenne diese Lösung nicht. Die kennen nur sie selbst.
Vermutlich sind manche Anrufer ziemlich verzweifelt, oder?
Ja. Eigentlich möchte keiner von ihnen wirklich, dass sein Leben aufhört. Sondern sie möchten, dass ihr unerträglicher seelischer Schmerz aufhört. Dass ihre Situation sich ändert. Ich glaube auch, dass viele Menschen einfach einsam sind und keinen Ansprechpartner haben, der sie versteht. Auch wenn sie nach außen vielleicht laut wirken.
Haben Sie da ein Beispiel?
Jemand sagte mir mal: „Ich gehe oft in die Kneipe. Da habe ich meine Leute und da trinke ich. Ich trinke so viel, bis ich mich nicht mehr spüre. Dann komme ich nach Hause und möchte mich umbringen. Weil ich niemandem sagen kann, wie’s mir wirklich geht.“
Das klingt furchtbar.
Ja, und es ist immer noch so, dass unsere Gesellschaft für Depressionen und andere psychische Erkrankungen kein Verständnis hat. Bei jeder anderen Krankheit kriegen Sie das Mitgefühl Ihrer Umgebung: Diabetes, Krebs, gebrochenes Bein. Liegen Sie aber mit einer Depression eine Woche im Bett und stehen nicht auf und um Sie herum vergammelt alles, dann schütteln die Leute den Kopf und sagen: „Wie kann er nur?“ Das neben der Krankheit auch noch aushalten zu müssen und angeguckt zu werden als Verlierer – wie soll ein Mensch das denn schaffen?
Was verändern für solche Menschen die Gespräche mit Ihnen?
Sie merken, dass ihre Krankheit gewürdigt und gesehen wird. Sie merken: Diese Frau versteht, dass ich nicht aufstehen kann mit einer Depression. Sie versteht, dass das so schwer ist, als hätte ich Ketten an den Füßen, kiloschwere Ketten.
Wie schaffen Sie es, sich so gut in Menschen mit Depressionen einzufühlen?
Ich kenne persönlich Menschen, die viel mit Depressionen zu kämpfen haben. Manchmal sage ich das einem Anrufer auch. Dann fühlt er sich noch mehr verstanden.
Weinen Menschen oft im Gespräch mit Ihnen?
Ja. Und dann entschuldigen Sie sich dafür.
Wie reagieren Sie darauf?
Ich sage: „Das erschüttert mich jetzt, dass Sie sich fürs Weinen entschuldigen. Sie dürfen doch weinen.“
Dieser Satz ist für die Menschen vermutlich schon ganz viel wert.
Ja. Denn wenn sie anrufen, sind sie ja ganz schutzlos und ganz klein. Sie zeigen sich so, wie sie sich sonst vielleicht nie zeigen würden.
Weinen Sie manchmal auch mit?
Ja, ich habe auch schon mal mitgeweint. Das hat dann auch mit mir zu tun. Mit meiner Geschichte.
Und wie ist das für die Leute und für Sie?
Ich sage das dann: dass ich jetzt weinen muss, dass mir das nahegeht und dass ich gerade ganz aus meiner professionellen Rolle rausfalle. Aber das verzeihe ich mir. Ich bin ja auch nur ein Mensch. Und ich glaube, die Leute brauchen nicht nur meine Professionalität. Sie suchen auch nach einem Menschen.
Haben Sie manchmal den Eindruck, dass die Menschen am Ende des Gesprächs etwas größer geworden sind?
Ja. Ich höre das daran, dass ihre Stimme sich verändert. Am Anfang ist sie oft ganz leise und zaghaft. Und im Laufe des Gespräches wird sie fester und positiver. Ich sage den Menschen das dann auch, wenn ich mich verabschiede: „Ihre Stimme hört sich jetzt ganz anders an. Ich kann Sie jetzt mit einem guten Gefühl zurücklassen.“
Wie geht es den meisten Anrufern am Anfang des Gesprächs?
Hinter jedem Anruf steht ein Problem. Ich versuche immer zu verstehen: Was für ein Gefühl steckt hinter dem Problem? Ist da Angst? Traurigkeit? Zorn? Unsicherheit? Hilflosigkeit? Hoffnungslosigkeit? Dann versuche ich, dieses Gefühl anzusprechen.
Wie machen Sie das konkret?
Ein Mann hat mir mal erzählt: „Die Mitbewohner hier im Haus sind ganz schrecklich. Alles Ausländer. Die putzen den Flur nicht, die klauen meine Zeitung.“ Er hat geschimpft und hat sich aufgeregt. Und ich habe gesagt: „Und das macht Ihnen Angst.“ Da war er erst ganz still. Und hat dann gesagt: „Ja.“ Es ging nicht um das Problem, die Nachbarn ruhig zu halten. Es ging um seine Angst. Das ist ihm erst in diesem Moment klar geworden.
Wenn Sie versuchen, das Gefühl rauszukriegen, müssen Sie hellwach sein und immer mitdenken beim Zuhören, oder?
Genau. Ich kann das auch nicht immer gleich gut. Es gibt Tage, da gehe ich raus und denke: „Du warst heute nicht gut.“
Können Sie gut damit umgehen?
Das kann ich wunderbar, ich bin überhaupt keine Perfektionistin. Es ist auch nicht so, dass jedes Gespräch gut endet. Manchmal wollen Anrufer nicht hören, was ich ihnen sage. Und legen einfach auf. Oder beschimpfen mich und schreien mich an.
Was tun Sie, wenn jemand so aggressiv wird?
Ich höre mir das eine Weile an und frage dann: „Warum sind Sie gegen mich aggressiv? Sie haben hier angerufen, Sie möchten etwas von mir, und jetzt beschimpfen Sie mich.“ Wenn derjenige dann nicht aufhört, mich zu beschimpfen, sage ich: „Okay, ich höre mir das jetzt noch fünf Minuten an, und wenn Sie dann nicht aufhören, lege ich auf.“ Aber ich nehme das nie persönlich. Nie. Ich weiß, dem anderen geht’s gerade schlecht, und manchmal ist auch so eine Aggression, die raus muss, ein Ventil für den Anrufer. Dem geht’s dann besser. Der braucht das. Mir fällt da gerade ein konkreter Fall ein …
… erzählen Sie!
Der Anrufer war so ein ruppiger Typ, der früher Motorrad gefahren ist und Roadie für eine Band war. Er mag Musik von früher. Er spielt mir dann auch immer was vor. Aber dann kommt wieder seine Verzweiflung durch. Da habe ich ihm gesagt: „Sie haben doch Ressourcen!“ Und er antwortete: „Jetzt hören Sie mit Ihrem lieben Gequatsche auf! Ich kann dieses Heititei nicht mehr haben! Ich muss in den Arsch getreten werden.“ Da hab ich gesagt: „Wissen Sie was? Nach mir kommt ein Mann, der ist genau der Richtige für Sie. Dann rufen Sie den doch mal an.“
Sie können mit sowas gut umgehen?
Ja, das ist nicht schlimm. Ich sitze da an meinem Schreibtisch, am Telefonhörer, ich habe eine Distanz zu ihm. Und ich weiß, in Wahrheit meint er nicht mich.
Sie haben viel erlebt in all den Jahren bei der Telefonseelsorge. Wie hat Ihre Arbeit Sie verändert?
Für mich ist die Telefonseelsorge ein ganz wertvolles Geschenk. Die Mitarbeiter, die Kollegen, die Seminare, das, was ich am Telefon höre – das gibt mir ganz viel. Und es macht was mit mir. Ich habe sowieso einen positiven Blick aufs Leben. Mein Mann sagt immer: „Wenn man Dir einen Haufen Dreck auf den Tisch schüttet, mit hundertprozentiger Sicherheit findest Du da was ganz Schönes drin. Du wühlst so lange darin rum, bis Du was Wunderbares gefunden hast.“
Und diese positive Weltsicht ist durch das Schlimme, das Sie hören, noch gestärkt worden?
Auf jeden Fall, ja. Manchmal denke ich, es ist schon fast schizophren: Je mehr Schlimmes ich höre, desto fester wird in mir dieser positive Kern. Ich habe nicht wirklich eine Erklärung dafür, aber mich erschüttert weder die Pandemie noch der Ukraine-Krieg – obwohl mir die Menschen dort ganz furchtbar leidtun. Meine Oma ist aus Schlesien vertrieben worden, ich habe als Kind immer ihre Geschichten gehört. Und wenn ich jetzt da die Bilder sehe mit den alten Menschen, die vor ihren zerbombten Häusern stehen, sehe ich da meine Oma. Aber es macht mir keine Angst.
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Andreas
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