Im Jahr 2004 haben meine Frau und ich durch Zufall das coolste Theater Berlins entdeckt: das Prime Time Theater im Wedding. Es begann winzig in der Freienwalder Straße, direkt bei uns nebenan – und entwickelte sich zu einer richtig großen Nummer. Die Theatersoap „Gutes Wedding, Schlechtes Wedding“ (GWSW) ist längst stadtbekannt. Im Interview hat mir der Theaterchef Oliver Tautorat (49) erzählt, wie sie den Blick der Zuschauer auf Berlin verändert – und wie seinen eigenen.
Als Ihr 2004 mit „Gutes Wedding, Schlechtes Wedding“ angefangen habt, was war da Euer Plan?
Ehrlich gesagt war der ein bisschen aus der Not geboren: Wir hatten ein Ladengeschäft für unser Theater gemietet und wollten das Theater bekannter machen. Immer wieder haben wir die Berliner Stadtmagazine Zitty und Tipp angeschrieben ...
… damit sie über Euch berichten …
… und immer wieder kam die Antwort: „Dafür müssen wir wissen, was Ihr in drei oder vier Wochen spielt. Denn die Ausgabe, die dann erscheint, geht jetzt in den Druck.“ Irgendwann kam dann wie durch einen Geistesblitz die Idee: Lass uns eine Serie machen! Dann können wir was ankündigen: Diese Woche Folge 1, nächste Woche Folge 2, übernächste Woche Folge 3. Wir wussten noch nicht, was es sein wird. Aber wir wussten: Wir werden spielen.
Ich erinnere mich noch an die erste Folge, es war mitten im Winter, saukalt …
… ja, am 10. Januar 2004. Da passiert ja sonst nix in Berlin: Alles ist dunkel, alle sind noch am Silvester-Nachfeiern. Da hat das eine riesige Resonanz in der Presse gebracht, dass wir im Wedding ein Theater eröffnet haben. Sowas gab’s vorher nicht. Ja, und dann hat sich das rumgesprochen, wir hatten schnell Stammgäste. Schon ein paar Monate später sind wir in die Osloer Straße gezogen, weil wir mehr Platz für Zuschauer brauchten.
Warum hat Eure Theatersoap über den Wedding von Anfang an so sehr einen Nerv getroffen?
Wir treffen einen Nerv, weil unser Konzept passt: Wir machen nicht klassisches Theater und interpretieren nicht „Faust“, sondern wir holen die Leute da ab, wo sie sind – nämlich vorm Fernseher. 70, 80 Prozent der Bevölkerung gehen doch höchstens einmal im Jahr ins Theater: entweder mit dem Deutsch-LK aus der Schule oder weil sie halt Karten von Freunden bekommen haben. Fernsehen kennen aber alle.
Und bei Euch bekommen sie eine Serie wie im Fernsehen.
Genau. Ich glaube, was die Leute auch mögen, ist, wie liebevoll wir unsere Figuren zeichnen. Wir betrachten sie nie von oben herab. Wir lassen immer die Underdogs gewinnen. Und unsere Figuren sind nah am Wedding dran. Du weißt das ja, Du hast da ja selbst gewohnt.
Ja, und das fand ich immer großartig: dass die Figuren in Euren Stücken den Leuten in der Straßenbahn oder im Supermarkt um die Ecke so ähnlich waren. Figuren wie der lispelnde Postbote Kalle, die jungen Türken Murat und Mahmut mit ihrer großen Klappe oder der durchgeknallte Künstlertyp Claudio aus dem Prenzlauer Berg.
Die sind so nah an der Realität, dass viele sagen: „Wow, und das auf der Bühne! Das haben wir noch nie gesehen.“ Und der Seriencharakter macht auch viel aus: Die Leute wollen ja Gewohnheiten im Leben haben, und diese Gewohnheit sind halt wir. Wenn jemand weiß, ach cool, jeden Freitag gehe ich ins Prime Time Theater, dann gibt das Halt.
Wie verändert es den Blick der Zuschauer, dass sie auf der Bühne Figuren sehen, die sie sehr ähnlich auch aus der Wirklichkeit kennen?
Bestenfalls führt es dazu, dass sie die Härte der Wirklichkeit mit ein bisschen Schmunzeln, mit einem kleinen Augenzwinkern angucken. Und dass sie auf die Underdogs ein bisschen liebevoller schauen als vorher – und eher bereit sind, sie zu integrieren. Natürlich kannst Du arrogant auf diese Underdogs schauen und sagen: Das sind halt Asoziale. Du kannst aber auch sagen: Das sind verdammt ehrliche Leute, die haben ein Scheißleben, aber sie tun, was sie können.
Wie sie hinter der Fassade sind, das zeigt Ihr sehr schön, finde ich.
Ich glaube, dadurch, dass wir die Charaktere immer vielschichtig zeigen, machen wir eine Tür auf für die Zuschauer, die sonst keinen Kontakt zu solchen Leuten haben. Sie sehen: Okay, da ist ja noch viel mehr dahinter als nur „Alta, isch mach disch platt!“
Hast Du ein Beispiel dafür?
Ich weiß noch, wie Murat ganz am Anfang von GWSW gegenüber seiner Freundin Nicole immer einen auf dicke Hose macht – aber von seiner Mutter Hülia lässt er sich krass bestimmen und ist dann immer ganz klein. Oder Mahmut: Der ist einfach nicht mit so einem hohen IQ ausgestattet, aber er hat ein riesengroßes Herz. Dieser Blick auf Menschen, die vielleicht nicht die besten Chancen im Leben haben, aber trotzdem ein großes Herz, der hat was. Und dieses Herz, diese unheimliche Solidarität macht ja den Wedding nach wie vor aus. Egal wie dreckig es einem geht: Dem anderen, dem es noch dreckiger geht, hilft man immer.
Wo fällt Dir das im Alltag auf?
Es gibt unendlich viele Initiativen in Berlin, die aus dem Wedding heraus entstanden sind. In der Flüchtlingskrise 2015 hat zum Beispiel Ebru Schaefer, eine Türkin, die mit einem Deutschen verheiratet ist, eine Spendenaktion für Kinder aus geflüchteten Familien organisiert. Diese Aktion ist mittlerweile riesengroß geworden – alles ehrenamtlich. Als jetzt die Flüchtlinge aus der Ukraine kamen, waren unheimlich viele Weddinger sofort am Hauptbahnhof und haben geholfen. Und ein Apotheker aus dem Wedding hat sofort gefragt: „Was braucht Ihr? Masken? Tests?“ Ich kenne andere, die kümmern sich ehrenamtlich um ältere Leute in der Nachbarschaft. Wir im Wedding halten zusammen.
Das beste Beispiel dafür in Eurem Stück ist Kalle, der Postbote. Ein Prolet mit extrem großer Klappe, aber irgendwie auch ein super Typ.
Kalle ist der personifizierte Wedding, mit seiner direkten, frechen, unbedarften, tollpatschigen, auch mal politisch unkorrekten Art. Er baut auch mal Scheiße, aber er meint’s nicht böse. Er lebt noch ein bisschen in einer anderen Welt, in den 80ern oder 90ern. Aber er ist eben auch herzensgut. Seine Schwester Penelope ist im Stück ja extrem intellektuell und dreht manchmal völlig ab – und er steht immer hinter ihr. Kalle hält alles zusammen.
Wo zeigt sich das noch?
Einmal sagt Kalle zu einem Veganer: „Kannste machen. Aber siehst dann halt komisch aus, wenn du zu viel vegan isst.“ Er bringt einen Spruch, aber er akzeptiert es. Es gab auch mal eine Folge, in der rauskam, dass ein Sohn von Kalle schwul ist. Riesige Aufregung! Die Gäste haben sich gefragt: Wie geht Kalle damit um, dieses personifizierte Testosteron auf zwei Beinen mit den viel zu dicken Eiern? Kommt jetzt ein Bashing gegen Schwule?
Und?
Am Ende hat Kalle nur gesagt: „Mir is dit doch ejal. Hauptsache, du bist glücklich. Sieht ja wenigstens jut aus, Dein Freund, da haste wenigstens wat davon.“ Ich persönlich glaube an das Gute im Menschen. Das kommt in der Figur Kalle ziemlich durch.
Wie reagieren Eure Zuschauer, wenn sie auf der Bühne Figuren sehen, die ihnen selbst ähneln? Die Künstlertypen aus Prenzlauer Berg zum Beispiel wirken ja in Eurem Stück manchmal einigermaßen lächerlich.
Wenn die Gäste ein bisschen Distanz zu sich haben, lachen sie darüber. Wenn ihnen diese Distanz fehlt, sind sie irritiert – und kommen unter Umständen nicht nochmal. Das ist dann aber auch gar nicht so schlimm. Sonst verlieren wir Weddinger noch unser Feindbild. Nee, im Ernst: Oft erlebe ich im Publikum Künstler aus dem Prenzlauer Berg, die merken schon: Au weia, ich sollte vielleicht doch ein bisschen lockerer werden – und mich selber nicht mehr so ernstnehmen.
Und wie reagieren die Weddinger Zuschauer, die dem lispelnden Postboten Kalle ähneln?
Wir haben hier wirklich Zuschauer, da hab ich das Gefühl, das sind Spiegelbilder von Kalle. Die sind nicht irritiert. Die sagen: „Na, dit is eener von uns. Dit versteh ick wenigstens, was der macht.“ Das ist super! Es zeigt mir: Niedrigschwelliger und nahbarer kann man Theater nicht machen.
Wie finden Du und Dein Autorenteam die Ideen für Eure GWSW-Figuren und die einzelnen Folgen?
Ich beobachte wie unsere großartigen Autorinnen und Autoren den Alltag im Wedding möglichst genau. Ich sauge auf, was hier passiert. Ich gehe mit einem unbedingten und vorurteilsfreien Interesse an Menschen ran. Und versuche dann, die Figuren so scharf zu karikieren, dass man das Gefühl hat, die sind haarscharf an der Wirklichkeit vorbei. Diese minimale Übertreibung, die braucht man. Und unser Autorenteam packt die Figuren dann in tolle Stücke. Die kennen den Berliner Humor einfach sehr gut, das hilft.
Wie haben Dich all die Jahre GWSW verändert – und wie Deinen Blick auf den Wedding?
Meinen Blick auf den Wedding haben sie insofern geschärft, als ich die Orte, die authentisch bleiben … ach nein, authentisch ist ja ein Claudio-Wort …
… ein Wort des durchgeknallten Künstlers aus dem Prenzlauer Berg in Eurem Stück …
… also: die Orte, die echt bleiben, wesentlich mehr sehe und schätze. Ich habe eine Zeitlang ein bisschen im eigenen Süppchen gekocht. In den letzten Jahren gucke ich mich mehr um: Wo sind andere Künstler, die genau wie wir den Wedding verstehen – und mit Herz und Verstand versuchen, unseren Kiez zu prägen? Was mir Zuversicht gibt, ist: Es gibt ganz viele von ihnen. Ich bin nicht alleine.
Wer sind diese Mitstreiter?
Zum Beispiel die neuen Pächter des Strandbads Plötzensee, wo wir die letzten zwei Jahre während Corona gespielt haben. Das sind Leute, die verstanden haben: Der Wedding ist was anderes als chic-chic, Mitte-Mitte. Der Wedding ist abgefuckt, aber er darf auch was Schönes, was Anspruchsvolles bekommen. Der Typ, der das Strandbad macht, ist richtig crazy. Ein Holländer, der an der Nordsee zehn Jahre richtig erfolgreich eine riesige Strandbar betrieben hat. Er hat sofort verstanden: Du musst aufmachen für alle Weddinger – und nicht nur gucken, dass Du hier günstige Räume findest und schnelles Geld verdienst.
Hat sich auch Dein Blick auf Berlin durch Eure Theatersoap verändert?
Er hat sich geschärft. Ich sehe jetzt: Die Grenzen zwischen den Kiezen verschwimmen langsam. Ich habe hier Gäste, bei denen ich erst hundertprozentig sicher war: Die kommen aus Charlottenburg. So Typen mit Burberry-Klamotten, so BWL-Studenten. Aber dann waren es Studenten aus dem Wedding. Da fange ich an, meine eigenen Vorurteile aufzulösen. Es ist nicht mehr alles schwarz und weiß. Natürlich gibt es immer noch arrogante Schnösel. Aber Du kannst nicht mehr sagen: Die sind hier, die sind da. Die sind mittlerweile überall.
Als wir noch im Wedding gewohnt haben, hieß es: Der Wedding wird das nächste gentrifizierte, superhippe In-Viertel. Aber diese Veränderung hat nie stattgefunden, oder?
Sie hat stattgefunden, aber nicht so massiv, wie damals viele dachten. Natürlich gibt es mittlerweile auch ein paar Hipster-Schuppen, aber das Gros der Kneipen und Cafés sind immer noch Initiativen, die aus dem Wedding raus entstehen. Hier bei uns gegenüber hat zum Beispiel vor zwei, drei Jahren eine Shisha-Bar von jungen Türken aufgemacht, die auch türkische Live-Musik machen und die einen ganz anderen Ansatz haben als diese muffige, alte Ich-wasch-hier-Geld-Nummer, nach der früher viele Shisha-Bars aussahen. Die heftigste Veränderung im Wedding ist aber eine andere.
Welche?
Die Mietpreise gehen steil nach oben – und das ist eine Katastrophe. Das macht mir Angst. Ich sehe das an mir selber: Ich habe eine Anderthalb-Zimmer-Wohnung, ich kann mir gerade nicht so viel leisten, und ich versuche seit zwei Jahren, für mich und meine zwei Töchter eine etwas größere Wohnung hier im Wedding zu finden. Es ist aussichtslos. Für unser Theater hier zahlen wir mittlerweile rund 10.000 Euro Miete im Monat. Im Jahr 2008 waren es noch 4.500 Euro. Da frage ich mich, wie lange das noch geht.
Euer Theater ist in all den Jahren sehr gewachsen. Was ist immer gleichgeblieben?
Es gibt immer noch Leute, die zum ersten Mal hier sind und völlig überfordert sind von uns. Also bestenfalls: positiv überfordert. Bei unserem Stück jetzt im Sommer, da hab ich als Kalle halt ne Badehose an und bin oberkörperfrei. Und ich wiege mittlerweile so um die 130 Kilo. Und dann begrüße ich so die Gäste und sage: „Ick bin der Chef hier.“ Da sagen manche: „Was? Äh, nee! Ein Theater sieht doch anders aus!“
Die Leute lernen also, wie Theater auch gehen kann.
Genau. Wir erleben bei neuen Gästen häufig, dass sie am Anfang verkrampft sind. Wenn sie dann in der Pause rauskommen, leuchten ihre Augen. Sie sind erleichtert, weil sie verstanden haben, dass man bei uns nicht so viel nachdenken muss. Das ist ein bisschen wie nach dem Sex: Der Kopf ist frei, man ist entspannter. Nach der Vorstellung können die Leute dann Fotos mit uns auf der Bühne machen. Und später können sie hier noch an unserer Bar mit uns quatschen und was trinken. In großen Theatern heißt so etwas Werkgespräch. Bei uns passiert das halt zwischen Bier und Buletten.
So, liebe Leute: Zwei Bitten habe ich jetzt noch – und einen Tipp.
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Und zum Schluss der Tipp: Wenn Ihr mal wieder in Berlin seid, lasst Euch das großartige Prime Time Theater nicht entgehen. Infos und Tickets gibt’s hier.
Mein nächster Text über Veränderung kommt in spätestens zwei Wochen.
Bis dahin: alles Gute!
Andreas