Seit 2011 baut Johannes Bichmann (36) sein mobiles Fotostudio regelmäßig in Seniorenheimen auf. Der Fotograf aus Bad Zwischenahn macht wunderbare Porträts der Bewohnerinnen und Bewohner und verändert damit viel – für sie, für ihre Angehörigen und für sich selbst.
Wie bist Du auf die Idee gekommen, Menschen in Seniorenheimen zu fotografieren?
Ich hatte davor viel im Fashionbereich gearbeitet. Das wollte ich irgendwann nicht mehr. Ich habe etwas gesucht, was mich erfüllt und was mir mehr zurückgibt als nur Geld.
Was genau fehlte Dir?
Mir fehlte Sinn. Ich bin eigentlich ein kleiner Junge aus dem Sauerland, aber in meiner Laufbahn bin ich weit herumgekommen. Ich habe auf den Philippinen und in Los Angeles fotografiert. Klar hab ich mich am Anfang gefreut, an schönen Locations mit schönen Leuten und großen Teams zusammenzuarbeiten. Aber irgendwann hat mich das müde gemacht. Die Fashionfotografie erschien mir unglaublich leer. Ich habe gemerkt, da steckt keine Seele drin für mich.
Wieso hast Du den Sinn dann im Altenheim gesucht?
Ich hatte meinen Zivildienst im Altenheim gemacht. Dadurch wusste ich, wie dünn besetzt die Pflegekräfte dort sind. Ich wusste, was für ein unterbezahlter Knochenjob das ist, der dann auch noch mit Herz gemacht werden muss. Ich wollte der Altenpflege eine Stimme geben und den alten Menschen Wertschätzung zeigen. Zumal jeder von uns irgendwann in der Situation sein kann, gepflegt werden zu müssen. Und ich finde, davon wird zu wenig gezeigt.
Inwiefern?
In den Medien kommen alte Menschen fast immer nur als Statistiken vor. Ich wollte diese Statistiken vermenschlichen. In den Nachrichten hören wir Schlagwörter: Pflegenotstand, Fachkräftemangel, alternde Gesellschaft. Aber wir stellen keinen Bezug mehr dazu her. Ich wollte Menschen zeigen, die von diesen Schlagwörtern betroffen sind. Und ich wollte zeigen: Wer im Heim lebt, der muss nicht nur traurig in der Gegend rumsitzen. Sondern da sind Menschen, die haben Lebensfreude und die haben auch noch Lebenserwartungen. Die lieben noch und lachen noch – und die sind pflegenswert.
All das sollten Deine Porträts zeigen?
Genau. Ich habe mir gesagt: Es muss doch mal ein paar richtig tolle Fotos von älteren Menschen geben. Ich habe mein Projekt „Generationenvertrag“ genannt, denn ich hatte das Gefühl, ich als junger Mensch möchte dieser alten Generation, die so viel aufgebaut hat für uns, auch etwas zurückgeben. Außerdem hatte ich eine ganz, ganz tolle Oma, die mich geprägt hat.
Was hast Du an ihr so gemocht?
Meine Oma war die herzensbeste Frau, die ich mir vorstellen konnte, als ich klein war. Sie hatte immer ein offenes Ohr für alle und konnte die ganze Großfamilie gefühlt aus dem Handgelenk ernähren. Besonders ihre Gabe, ihre Liebe so gerecht an alle zu verteilen, hat mich beeindruckt.
Hat Deine Projektidee sofort funktioniert?
Nein, am Anfang war’s superschwierig, in Heime reinzukommen. Ich hatte ja überhaupt keinen Namen. Ich hatte zwar ein Portfolio mit Fotos von hübschen Leuten an asiatischen Stränden, aber ich hatte keine Fotos von alten Menschen. Ich habe ziemlich viele Heime angeschrieben und Absagen kassiert – bis in einem die Leitung gesagt hat: Wir können uns das total gut vorstellen, was Du da vorhast.
Und? Wie lief’s dann?
Ich hatte großes Glück, dass da zehn, zwölf Teilnehmer waren, die total Lust hatten. Sie waren fröhlich und haben Grimassen für mich gemacht und haben’s mir echt leicht gemacht. Da sind tolle Bilder entstanden. Das hat mich angespornt, die Idee weiterzuverfolgen. Zäh blieb es trotzdem noch jahrelang. Immer, wenn ich in Heime kam, wurde ich skeptisch beäugt: Was will der junge Kerl hier? Und vor allem: Warum macht der das umsonst? Ich war damals halt noch keine Marke. Ich war noch nicht der Fotograf für soziale Projekte. Das ist erst nach und nach gereift. Mittlerweile werde ich von Heimen explizit angefragt und die Türen stehen mir sehr offen.
Wie baust Du, wenn Du in ein Heim kommst, Vertrauen zu den alten Menschen auf?
Ich versuche, die Leute mit Liebe zu überrumpeln. Ich stelle mich vor, duze sie und fange direkt an zu fotografieren. Das Duzen erscheint vielen erst mal fremd, aber die Leute beschweren sich meistens nicht, sondern machen einfach mit. Ich schäkere mit ihnen. Ich lasse sie Quatsch machen vor der Kamera. Ich versuche, ihnen ein gutes Gefühl zu geben. Meistens ist ein Shooting nach vier, fünf Minuten vorbei – in dieser kurzen Zeit soll alles frisch, authentisch, spontan sein. Am Ende habe ich so 50 bis 80 Fotos geschossen, in möglichst vielen Facetten.
Du hast sehr wenig Zeit, die Menschen kennenzulernen – und willst trotzdem Fotos schießen, mit denen sie sich gut getroffen fühlen. Wie machst Du das?
Ich glaube, durch eine Mischung aus Erfahrung und Intuition. Ich habe ja mittlerweile Tausende von Menschen fotografiert. Wenn jemand vor meine Kamera tritt, sehe ich sehr schnell, wer da vor mir steht, was er an sich mag, wie er am liebsten lächelt. Ich habe meine Firma irgendwann in Soul Photo umbenannt, weil ich das Gefühl habe: Bei meinen Portraits, da blitzt ganz oft die Seele durch.
Was veränderst Du mit den Fotoshootings für die alten Menschen?
Erst mal machen die Shootings ihnen Spaß. Das ist was anderes als der Alltag: Ein junger Mann kommt, er baut ein Fotostudio auf, er kümmert sich um einen und ist so ein bisschen auch Entertainer. Das ist für das ganze Heim ein schönes Event. In der Regel mache ich die Fotos im Speisesaal; oft bildet sich dann so eine kleine Traube um mein Fotostudio herum. Manchmal applaudieren die Leute füreinander, wenn jemand fertig ist. Da entsteht eine total schöne Atmosphäre. Die Leute zehren tagelang davon, dass ich dagewesen bin. Ich höre oft von Heimleitungen: „Die Leute erzählen die ganze Zeit von Dir! Was für ein lustiger Tag das war.“
Und wenn sie dann noch ihre Bilder bekommen?
Dann sagen viele: „Boah, ich sehe ja ganz schön gut aus dafür, dass ich 90 bin.“ So ein Feedback macht mich stolz. Und die Bilder sehen ja nicht nur die Menschen selbst, sondern auch ihre Familien – denen schicke ich die auch kostenlos zu. Die Bilder werden oft auch in den Heimen aufgehängt. Dadurch identifizieren sich die Bewohnerinnen und Bewohner gleich mehr mit ihrem Zuhause – und die Pflegekräfte mit ihrem Arbeitsplatz. Es lockert die Atmosphäre dort ungemein, wenn da auf einmal der Mensch von nebenan in Groß mit einer Grimasse an der Wand hängt.
Was kommen noch für Reaktionen von den Leuten?
Hin und wieder sagt auch jemand: „Boah, bin ich alt geworden!“ Aber die meisten Reaktionen sind sehr, sehr positiv. Ich habe oft Senioren, die schallend lachen, wenn sie ihre Bilder sehen – weil ich von ihnen Fotos erstelle, die sie so noch nie von sich gesehen haben: Grimassen oder überraschte Blicke. Die Generation, die ich da fotografiere, die ist halt noch nicht durch Selfies verdorben. Die hat sich nicht ständig mit dem Handy fotografiert.
Einige tragen auf den Fotos Sonnenbrille, einige strecken die Zunge raus, eine Frau hat ihr Kuscheltier geküsst. Wie kommen solche Fotos zustande?
Die Kuscheltiergeschichte zum Beispiel, die war wirklich rührend. Die Frau war stark dement und das Kuscheltier war so ein bisschen ihr Kind-Ersatz. Das hatte sie immer dabei, auch beim Shooting. Ich fotografiere das, was mir da vor die Linse kommt. Das ist authentisch. Klar werfe ich immer mal wieder ein paar Inspirationen rein. Aber ich sage nicht: „Streck mir mal die Zunge raus!“ Sondern: „Gib mir doch mal Dein verrücktestes Gesicht, Deine beste Grimasse!“ Dadurch ist das alles höchst individuell.
Klingt lustig.
Ja, und es macht auch den Leuten, die zugucken, Spaß. Manchmal tippt mir, kurz bevor ich mein mobiles Studio abbaue, jemand auf die Schulter, der noch bei der Anmeldung gesagt hat, er macht auf keinen Fall mit. Und sagt: „Ich glaube, ich will doch. Meine Enkelin würde sich schon freuen, wenn Du ein Foto von mir machst.“ Das ist herrlich zu sehen, wie Leute da aus ihrer Komfortzone kommen, weil sie merken: Okay, da passiert was mit den Menschen vor der Kamera – und es kann vielleicht nicht schaden, das auch zu erleben.
Welche Situationen haben Dich in all den Jahren bei Shootings besonders berührt?
Bei meinem allerersten Shooting in einem Altenheim war eine tolle Frau, die sich fürs Shooting extra hat schminken lassen, sie hat sich zweimal umgezogen, sie war 95 – und ein paar Tage später ist sie verstorben. Das war ein einschneidender Moment, als der Anruf kam vom Heim. Da habe ich gedacht: „Krass. Ich glaube, es macht total Sinn, dass ich dieses Projekt weiterverfolge, um diese Menschen zu verewigen.“ Sehr berührend ist es immer wieder auch, Menschen mit einer starken Demenz zu fotografieren und aus ihnen ein Leuchten rauszuholen. Ein Leuchten, zu dem dann die Pfleger sagen: „So guckt der sonst nie!“ Offenbar locke ich etwas aus Menschen raus, von dem andere dachten, es wäre verschlossen.
Wie verändert Dich das, was Du da erlebst und erschaffst?
Es verändert meinen Blick auf das Leben, aber besonders den Blick auf mein Business. Als ich angefangen habe als Fotograf, wusste ich nicht, was ich damit bewirken möchte. Aber je mehr soziale Projekte ich mache, desto mehr realisiere ich, wie sehr meine Bilder Menschen bewegen und zum Nachdenken anregen können. So richtig gemerkt habe ich das, als ich meine erste große Ausstellung hatte und viel tolles Feedback bekommen habe. Ich habe bei Ausstellungen, bei denen ich meine Bilder zeige, oft gehört: „So haben wir den Pflegebereich noch nie gesehen.“ Auch die Angst vorm Alter wird Menschen ein bisschen genommen. Das zu merken, hat mir ein ganz neues Ziel im Leben gegeben.
Welches denn?
Ich habe diese Shootings als ehrenamtliches Nebenprojekt angefangen und hauptberuflich als Werbefotograf gearbeitet. Dann aber habe ich gemerkt: Eigentlich sind diese Sozialprojekte genau mein Sinn und Zweck als Fotograf. Dafür möchte ich Experte werden, damit möchte ich etwas verändern. Also habe ich in diesem Jahr angefangen, für diese Projekte Geld zu nehmen.
Und? Wie läuft‘s?
Es läuft beängstigend gut.
Echt? Wie schön!
Ja, bis zum vergangenen Jahr habe ich dafür wirklich keinen Cent genommen – und in diesem Jahr machen die Sozialprojekte schon 70 Prozent meiner Einnahmen aus. Ich habe mir überlegt, welche Fördertöpfe Heime anzapfen können, damit die Bewohner nichts bezahlen müssen. Mir ist es total wichtig, dass das fair läuft und dass die Heime sich das leisten können. Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass ich so viele Anfragen kriege. Ich habe eine große Ehrenamtskampagne am Laufen, ein Projekt mit einem Hospizdienst, ein Projekt mit Flüchtlingen. Seit ich den Entschluss gefasst habe, Experte für soziale Projekte zu sein, finden mich genau die richtigen Kunden.
Wie hat sich Dein Blick aufs Alter durch die Shootings verändert?
Ich hatte nie Angst davor, irgendwann mal alt zu werden. Ich fand es immer schon spannend, lebensweise zu werden und Lebenserfahrung zu gewinnen. Natürlich weiß ich auch: Es kann dramatisch sein, schlecht zu altern. Mein Vater ist schwer dement. Da ist nicht alles eitel Sonnenschein. Aber in meinen Shootings sehe ich eben: Das Alter ist eine Phase, die auch spannend ist. Ich habe keine Berührungsängste vor Altenheimen mehr. Einfach weil ich sehe: Dort gibt es total viel, wofür es sich zu leben lohnt.
Und wie hat sich Dein Blick aufs Leben insgesamt verändert?
Ich habe gemerkt, wir alle können einen ziemlich großen Beitrag leisten in unserer eigenen kleinen Welt. Jeder Mensch kann mehr als einen Nine-to-five-Job machen, jeder kann sein Umfeld positiv prägen. Ich dachte lange, Fotografie ist eine relativ unnütze Kunst: ganz nett, mehr aber auch nicht. Nun habe ich gemerkt: Das, was ich mache, kann etwas bewirken – weil ich da so viel Liebe reinstecke. Das ist ein neues, ein kraftvolles Gefühl. Das klingt jetzt vielleicht arg theatralisch, aber es ist so. Und es gibt mir einen Antrieb, den ich vorher nicht hatte. Ich würde gern andere Fotografen inspirieren und ermutigen, auch solche Projekte zu machen. Einige Anfragen bekomme ich schon. Das ist total schön.
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Andreas