Vor einigen Wochen waren meine Frau und ich bei einem Konzert. Es dauerte nur eine Viertelstunde, es waren nicht mal zehn Zuschauer da, aber es war großartig. Der Künstler spielte Schlagzeug, Marimbaphon und Pauke. Fünf Stücke. Vor seinem Auftritt hatte er ziemlich nervös gewirkt, aber dann zog er sein Programm doch echt gut durch. Als er fertig war und sich verbeugte, klatschten wir begeistert. Dann gingen wir zu ihm – und nahmen ihn erst mal in den Arm. Der Künstler war unser Sohn, und er hatte gerade zum ersten Mal bei „Jugend musiziert“ mitgemacht, beim Regionalwettbewerb Oldenburger Land Süd, in der Musikschule Lohne.
Warum ich das erzähle? Ich möchte für einen neuen, aufmerksameren Blick auf „Jugend musiziert“ werben. Nicht, weil ich finde, dass unser Sohn beim nächsten Auftritt mindestens 500 Zuschauer braucht. Sondern weil dieser Wettbewerb viel mehr Beachtung verdient, als er bekommt. Er verändert die Kinder und Jugendlichen, die mitmachen. Er lässt sie wachsen – und nie macht er sie klein.
„Jugend musiziert“ ist der Gegenentwurf zu all den furchtbaren und doch so beliebten Talentshows, die wir aus dem Fernsehen kennen, zu „Deutschland sucht den Superstar“ und „Germany’s next topmodel“ und wie sie alle heißen. Klar, hier wie dort geht es darum, etwas zu wagen, zu üben, zu können und zu präsentieren. Aber sonst ist hier nichts wie dort. Und wer einmal genauer auf „Jugend musiziert“ geschaut hat, der wird den TV-Trash mit anderen Augen sehen.
Wohlwollend und fair
Los geht es damit, dass bei „Jugend musiziert“ die Schüler nicht gezielt gecastet werden. Sie dürfen nicht nur deshalb mitmachen, weil für die nächste Show noch ein Mädchen mit lila Irokesenschnitt, ein Trottel mit Übergewicht oder ein Transmensch mit selbstgehäkeltem Pullover gebraucht wird – und sie zufällig ein Mädchen mit lila Irokesenschnitt, ein Trottel mit Übergewicht oder ein Transmensch mit selbstgehäkeltem Pullover sind. Sie müssen also keine Rolle spielen, die irgendein Regisseur wichtig für die Einschaltquote findet. Sie werden hier einfach genommen, wie sie sind. Weil sie ein Instrument gut beherrschen. Bewertet wird ihr Können, nicht ihr Style.
Bei „Jugend musiziert“ wird auch die Jury nach ihrer Kompetenz ausgesucht, nicht nach ihren Quotenbringer-Qualitäten. Die Männer und Frauen darin brauchen nicht jede Woche in der Klatschspalte von „Bild“ oder „Bunte“ aufzutauchen. Sondern sie haben schlicht Ahnung – weil sie selbst an Musikschulen oder Unis das Instrument unterrichten, das sie hier bewerten.
Im Wettbewerb geben sie nicht den Harten und die Zarte, den Freundlichen und die Fiese. Sondern sie sind im Beratungsgespräch nach dem Auftritt meistens einfach nett. Urteilen wohlwollend, kritisieren fair, geben Tipps – und motivieren die Kinder und Jugendlichen, weiter an sich zu arbeiten, besser zu werden, aber auch erst mal stolz zu sein auf das Erreichte.
Nutellabrötchen statt Werbepause
Klar gibt’s hier auch mal eine Wertung, die nicht ganz passend erscheint. Und bei Landes- und Bundeswettbewerben eine Jury, die arg streng wirkt. Aber besonders in der ersten Runde, in der noch sehr viele mitmachen und „Jugend musiziert“ eher Breitensport ist, machen die Juroren Mut, statt ihn zu nehmen. Sie wollen Talente fördern, nicht ihr eigenes Ego. Es geht nicht um sie und den derbsten Spruch, sondern um das Kind, das sich gerade nach Kräften bemüht hat.
Ihr Urteil fällt die Jury nicht vor einem Millionenpublikum auf RTL oder Pro7, sondern im Klassenraum einer Schule, vor dem Jugendlichen, seinen Eltern und seinem Lehrer. Auf einer kleinen, keiner großen Bühne. Und nach dem Gespräch gibt’s nicht die nächste Werbepause, sondern Fanta und Nutellabrötchen in der Pausenhalle – und einen Kaffee für die Eltern. „Jugend musiziert“ ist spektakulär unspektakulär, so ganz anders als die glitzernde Scheinwelt der Fernseh-Castings, die mit Superlativen protzt. Genau das macht seinen Charme aus.
Ein Auftritt bei einer Castingshow im Fernsehen kann ein Leben verändern. Er kann einen jungen Menschen, im besten Fall, für ein paar Monate berühmt machen, zum Gesprächsthema in Schulklassen, Tanzkursen, Fußballteams. Und vielleicht verschafft er dem jungen Menschen auch ein paar lukrative Jobs – in der Zeit, in der man sich noch an ihn erinnert. Aber der Auftritt kann ihn, im schlechtesten Fall, auch bloßstellen, entwürdigen, der Lächerlichkeit preisgeben.
Sie können nicht scheitern
Ein Auftritt bei „Jugend musiziert“ verändert auch etwas – aber stiller, sanfter, behutsamer. Da gibt es nicht nur Himmel und Hölle, Heldin und Versager. Wer mitgemacht hat, fühlt sich fast immer gestärkt. Bei „Jugend musiziert“ werden junge Menschen, deren Auftritt schiefläuft, nicht bloßgestellt, mit ihren Tränen in Nahaufnahme im Fernsehen gezeigt und im Internet mit Häme überschüttet. Sie werden von ihren Eltern in den Arm genommen, vom Lehrer getröstet, von der Jury aufgemuntert. Und dann gehen sie einfach nach Hause, ohne dass halb Deutschland über sie lacht.
Die Schüler können den Einzug in die nächste Runde verpassen, aber sie können nicht scheitern. Es gibt hier nicht nur Alles oder Nichts, Sieger oder Verlierer, sondern ganz viel dazwischen. Wenn sie weiterkommen, zum Landes- oder Bundeswettbewerb, werden die Schüler auch nicht berühmt, sie schaffen es bestenfalls in die Meldungsspalte der Lokalzeitung. Ihr Auftritt ist nicht so heillos überfrachtet.
Live und ohne Superzeitlupe
Die Castingshows bringen schnelle, schrille Schlagzeilen, und sie liefern Frischfleisch für die Klatschspalten auf allen Kanälen. „Jugend musiziert“ arbeitet eher im Verborgenen – und nachhaltig. Die Shows produzieren Personality-News, „Jugend musiziert“ formt Persönlichkeiten. Und lehrt, dass Entwicklung und Veränderung nicht durch den Pseudo-Glamour einer Abendshow passiert, sondern, so öde das klingt: durch üben, üben, üben. Genau das macht den Blick auf „Jugend musiziert“ so spannend: Hier lässt sich erleben, wie Können sich entwickelt, wenn Könner die Entwicklung begleiten. Was hier passiert, kann Vorbild sein für Sportvereine, Schul-AGs, Erwachsenenbildung.
Die Zuschauer dürfen bei „Jugend musiziert“ die Auftritte nicht filmen und sie dürfen auch keine Tonaufnahmen machen. Sie sitzen einfach nur da und hören zu. Live. Echt. Ohne Wiederholung und Superzeitlupe. Das hat was. Das ist viel modernere Talententwicklung als das Getue von Dieter Bohlen, Heidi Klum und all den anderen Scharfrichtern der Fernsehwelt.
Wer mag, kann gern mal hingehen. Wenn nicht gerade Corona ist, sind Zuschauer bei „Jugend musiziert“ gern gesehen. Übrigens: Sie dürfen am Ende auch gerne klatschen. Jeder, der mal auf einem Konzert weiß, war: Applaus verändert was.
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Andreas