Etwas ist anders jetzt. Genauer: seit Anfang Juni. Die Bahn, mit der ich dreimal die Woche zur Arbeit nach Osnabrück pendle, ist voller als vorher. Die Fahrgäste sind jünger und internationaler. Manche von ihnen wissen nicht, dass sie hier noch eine Maske tragen müssen. Sie sind wohl lange nicht mehr eingestiegen. Aber jetzt sind sie dabei. Wegen des Neun-Euro-Tickets.
Über dieses Ticket ist schon viel geschrieben worden, aber einen spannenden, vielleicht sogar entscheidenden Aspekt vermisse ich in der Diskussion: die Frage, was das Neun-Euro-Ticket verändert – und was nicht. Diese Frage versuche ich heute zu beleuchten.
Zuallererst führt das Ticket dazu, dass über die Bahn geredet wird – auch von jenen Autofreunden, die ihre Existenz sonst hartnäckig ignorieren. Denn jeder Mensch kennt gerade mindestens einen, der einen kennt, der das Ticket schon mal genutzt hat. Und so kommen die Leute ans Reden, in der Kaffeepause, beim Skatabend und am Fußballplatz. Der Erste sagt: „Gar nicht schlecht, das Ticket. Wohin man für das Geld alles kommt!“ Der Zweite entgegnet: „Aber voll ist’s, hab’ ich gehört. Kaum mal ein Sitzplatz frei. Und ständig gibt’s irgendwo eine Betriebsstörung.“ Worauf der Dritte kontert: „Ich find’ die Aktion super. Endlich mal nicht mehr im Stau auf der Autobahn stehen. Und billig ist’s wirklich – bei den Spritpreisen erst recht.“
So wächst Bewusstsein
Solche Plaudereien mögen banal klingen, aber sie verändern etwas. Sie machen die Bahn in der breiten Bevölkerung zum Thema. Sie schaffen ein Bewusstsein dafür, was öffentliche Verkehrsmittel können – und was nicht. Sie rücken ihre Probleme ins Licht und sorgen dafür, dass viele Menschen sie am eigenen Leib spüren. So können Debatten entstehen; so kann Druck auf die Politik wachsen, die Bahn schneller, zuverlässiger, komfortabler zu machen (was für die dringend notwendige Energiewende zwingend ist).
Das Neun-Euro-Ticket weitet den Blick, in die Vergangenheit und in die Zukunft. Es legt offen, was bisher von der Politik alles verschlafen worden ist; welche Züge nicht modernisiert, welche Strecken nicht ausgebaut, welche Lokführer nicht eingestellt wurden.
Es regt aber auch die Fantasie an: Was könnte künftig alles gehen, wenn die Politik der Bahn Priorität einräumt? Wäre es sogar denkbar, öffentliche Verkehrsmittel dauerhaft günstig für alle zu machen und so die CO2-Emissionen durch Autos massiv zu senken? Und welche eher sinnarmen Subventionen könnte man einsparen, um das Geld dafür zu gewinnen?
Es geht doch
Wenn die Politik diese Fragen unbeantwortet lässt, endet das Neun-Euro-Ticket als Sommergag – ganz nett nach mehr als zwei Jahren Pandemie, aber mehr auch nicht. Das wäre schade, denn das Ticket hat das Potenzial, ein Anfang für dauerhafte, nachhaltige Veränderungen zu sein.
Es könnte den Umstieg von der Straße auf die Schiene für viele attraktiv machen. Es könnte zeigen, dass manches geht, was die meisten bisher für unmöglich gehalten haben – wenn die Entscheidungsträger nur wollen. Es könnte beweisen, dass Deutschland nicht per Grundgesetz dazu verdonnert ist, neidisch auf die so viel besseren, pünktlicheren, zuverlässigeren Züge im Ausland zu schauen, sondern dass es tatsächlich versuchen kann, so gut zu werden wie sie. Und dass die Bahn, wie jedes Verkehrsmittel, einfach deutlich besser vorankommt, wenn sie nicht immer ausgebremst wird – sondern endlich mal Vorfahrt hat. Freie Bahn, sozusagen.
So, liebe Leute: Diesen Text habe ich eben ganz spontan geschrieben, extra für Euch. Nun habe ich auch noch zwei Bitten.
Bitte Nr. 1: Teilt diesen Text. Geht ganz einfach – mit diesem Link:
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Mein nächster Text über Veränderung kommt schon am Sonntag.
Bis dahin: alles Gute!
Andreas
Vorarlberg, eine Region in Österreich am Bodensee, ist ein sehr gutes Beispiel für den öffentlichen Nahverkehr. 365 Euro für die Jahreskarte, also 1 Euro pro Tag, kann ich die Bahn oder/und Bus rundum die Uhr nutzen.