Heute schon mal aufgeregt? Mal so richtig schön den Blutdruck nach oben gejagt? Nicht? Dann wird’s aber Zeit. Also, aufgepasst:
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Na? Passiert schon was? Wirken sie, die Symbole des Genderns? Fragt Ihr Euch, was das jetzt wohl für ein Text wird? Etwa einer, der Sternchen zum weltrettenden Satzzeichen erklärt, zum einzig wahren Garanten für globale Geschlechtergerechtigkeit? Oder doch einer, der ihn als Ursache für den sofortigen Untergang unserer Gesellschaft sieht?
Dazwischen gibt’s zurzeit ja wenig. Keine Woche vergeht, ohne dass irgendwo in Deutschland der Streit ums Sternchen eskaliert: in den Leserbriefspalten von Tageszeitungen, in den Online-Foren der großen Nachrichtenseiten, in Uni-Seminaren, auf Kaffeekränzchen oder am Doppelkopf-Stammtisch. Die Genderdebatte hat das Land in eine Art Dauererregungszustand versetzt.
Endlich ist die Welt mal simpel
Das Thema saugt irrsinnig viel Energie ab. Alle können mitreden, und alle reden mit; alle können sich ereifern und ereifern sich. Ist ja auch schön einfach, für oder gegen das Sternchen zu sein. Gibt das gute Gefühl, garantiert Recht zu haben und zu einer Gruppe zu gehören: zur Gruppe derjenigen, die die gleiche Meinung zum Gendern vertreten; klar abgegrenzt von den anderen, die scheinbar zu blöd sind, um die Sache zu verstehen. Wenn schon die Welt da draußen so kompliziert ist: Hier ist sie mal simpel.
Das Problem ist: Am Ende der Endlosdebatten sind viele zu erschöpft, um sich auf relevantere Probleme zu konzentrieren. Auf die Frage etwa, wie wir die Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft wirksamer bekämpfen können als durch ein Satzzeichen; oder auf die Frage, wie die Kinder besser durch den nächsten Corona-Winter kommen; oder auf die Frage, was wir verändern müssen, um eine katastrophale Eskalation der Klimakrise noch abzuwenden.
Denn mal ehrlich: So, wie es bisher läuft, führt all der Gender-Zoff doch zu nichts. Sämtliche Argumente sind ausgetauscht – auf beiden Seiten. Nur geht die Debatte trotzdem weiter, und sie wird nicht konstruktiver, sondern destruktiver. Sie lässt Menschen keifen, giften, pöbeln. Sie bringt sie nicht zusammen, sondern treibt sie auseinander. Sie wirkt weniger inklusiv, mehr exklusiv. Sowas tut einer Gesellschaft, die ohnehin unter Spannung steht, nicht gut.
Eine Menge verhärtete Herzen
Zwei aktuelle Belege für das Schlechte-Laune-Potenzial der Genderdebatte seien hier nur genannt.
Beispiel 1: Ein bayerischer Supermarkt nahm kürzlich, statt des traditionellen Studentenfutters, nun Student*innenfutter ins Angebot, postete ein Foto der Nussmischung auf Twitter und stellte die Frage dazu: „Student*innenfutter (neues Produkt in unserem Sortiment) geht gerade auf unserem Facebook-Auftritt steil. Welche Gefühle genau verletzt #Gendern eigentlich?“ Ergebnis: eine wüste Debatte in den sozialen Netzwerken, aufgeregte Berichte über die Debatte in vielen Medien – und eine Menge verhärtete Herzen.
Beispiel 2: Die Lufthansa gab bekannt, sie werde an Bord ihrer Flugzeuge nicht mehr die Begrüßung „Sehr geehrte Damen und Herren“ verwenden – und so die geschlechtliche Vielfalt ihrer Fluggäste anerkennen. Auch auf die englische Version „Ladies and Gentlemen“ werde sie verzichten. Stattdessen will die Lufthansa geschlechtsneutrale Formulierungen verwenden, zum Beispiel „Liebe Gäste“ oder „Guten Morgen/Mittag/Abend“ oder „Herzlich willkommen hier an Bord“. Ergebnis, auch hier: große Aufregung in den sozialen Netzwerken, Boykottdrohungen, Gefasel von Meinungsdiktatur, Rechthaberei überall.
Einatmen, ausatmen
Wie wäre es, wenn wir ab heute etwas anders auf die Genderfrage schauen? Vielleicht: entspannter? Kann es sein, dass das Gender-Thema überschätzt wird, von beiden Seiten?
Nicht gleich antworten, bitte! Erst mal kurz sacken lassen, die Frage. Und überlegen: Was würde der Achtsamkeitstrainer jetzt raten? Genau: Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen.
Fertig? Alles klar, dann noch mal ein bisschen Werbung für verbale Abrüstung. Die Gender-Befürworter könnten überlegen, ob das Sternchen, der Unterstrich und das Binnen-I immer und überall sofort eingeführt werden müssen – oder ob sie nicht an manch einem Ort doch eher nur provozieren. Die Gender-Gegner könnten einsehen, dass nicht gleich ihre Männlichkeit bedroht ist, nur weil Studenten Studierende genannt werden und im Brief der Schule von Lehrerinnen und Lehrern die Rede ist.
„Der tägliche Genderwahnsinn“
Und (Achtung, abwegiger Gedanke): Beide Seiten könnten sich in einer stillen Stunde fragen, ob nicht die anderen auch ein klitzekleines bisschen Recht haben könnten: die, die Angst vor zu viel sprachlicher Veränderung haben – und jene, die zu wenig Veränderung fürchten. Ob die Wahrheit vielleicht in der Mitte liegt, irgendwo zwischen Ingenieuren und Ingenieur*_/:Innen.
Was passieren kann, wenn man das Thema zu verspannt sieht, demonstrierte der Berliner AfD-Politiker Gunnar Lindemann. Auf Twitter teilte er die Meldung des Berliner Boulevardblattes „BZ“ mit der Überschrift: „Frau übersieht Fahrspurende und fährt in Baustelle – zwei Verletzte“. Lindemann witterte prompt „links-grüne Ideologien“. Er sah Fahrspurende offenbar in einer Reihe mit Studierenden, Lehrenden und Forschenden – und twitterte: „Der tägliche Genderwahnsinn: Jetzt werden sogar Fahrspuren gegendert.“ Tja.
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In zwei Wochen kommt mein nächster Text über Veränderung.
Bis dahin: alles Gute!
Andreas